Buchtipps

Wer auf der Suche nach interessanter Lektüre ist, kann an dieser Stelle sich über Buchempfehlungen informieren.

 


Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte

Gebundene Ausgabe

 
Hardcover: 224 Seiten
Verlag: DuMont Buchverlag Köln, erschienen September 2023, 20,00 €

978-3832168087

Voll Neugier schlage ich dieses ästhetisch ansprechende kleine Buch auf, „umgoogle“ den Schriftsteller und Kolumnisten Axel Hacke und bin beeindruckt. 
Zunächst vom Bildungsreichtum. Meister des Wortes kommen zu Wort, von den antiken Stoikern über die Großen der Dichtkunst wie Schiller, Thomas Mann und Umberto Eco bis zu bekannten Gestalten der Humanwissenschaften wie Sigmund Freud und dem Ehepaar Mitscherlich. Da es um Heiterkeit geht, können natürlich die Talentierten des Humors nicht fehlen, Werner Finck, Woody Allen und – selbstredend! – Loriot. Das nur als Auswahl. 
Klar, Heiterkeit ist verwandt mit Humor und Gelassenheit. Aber, und dies ist dem Autor wichtig: Sie existiert nicht unter Ausblendung des Ernstes, vielmehr integriert sie ihn. Heiterkeit verdrängt das Ungemach des Lebens nicht, schafft aber eine Distanz und lässt sich davon nicht beherrschen.
Heiterkeit ist mithin nicht ein Immerlustigsein, oder viel Lachen. Wohl auch Lachen, aber das beste Lachen ist das über sich selbst! So kommt eine gute Portion Bescheidenheit ins Spiel. 
Erfrischen provokant: Axel Hacke kann die häufig anzutreffende Humorlosigkeit unserer Gesellschaft nicht ganz ernst nehmen, sondern nimmt sie aufs Korn, die Tendenz zum Gekränktsein, die Begriffsverbote, bei denen es an Gelassenheit fehlt, und fragt kritisch zurück: „Warum gibt es so wenig Lächeln über kleine Fehler, kaum Nachsicht, keine Entspanntheit im Umgang miteinander?“ (89). Erheiternd seine Skizzen, warum ein Nazi keinen Humor haben kann, warum ein Putin, Trump oder Xi Jinping nicht über sich selbst lachen können (170ff).
Hochaktuell seine Ausführungen über die jetzigen Krisen, den Klimawandel, den Wahnsinn des Krieges, die Zerbrechlichkeit vieler Demokratien. War die Lage jemals ernster? (20) Und er erzählt von der Kolumnistin Doris Knecht. Hier eine umfängliche Leseprobe.
Im Jahre 2022 berichtet sie, 
eine Leserin habe sich beschwert: Sie, Knecht, habe etwas über ihre Lieblingsspeisen geschrieben. Die Leserin fand es lächerlich und oberflächlich, angesichts der aktuellen Situation (vor allem des Krieges in der Ukraine) etwas über Essensvorlieben lesen zu müssen. Knecht schrieb die klaren und eleganten Sätze: »Natürlich hat sie recht. Aber ich finde, sie hat auch ein bisschen nicht recht«.
Sie schrieb weiter: »Wir haben diesen Krieg nicht angefangen, keiner von uns wollte ihn, alle sind entsetzt. Ich finde nicht, dass wir uns Tag und Nacht dafür schuldig fühlen sollten, dass wir weiter das tun, was auch die Menschen in der Ukraine taten und weiter tun wollten: ganz normal in Frieden leben.« Dieser Krieg höre nicht auf, wenn wir aufhörten uns zu freuen an unseren Kindern, an einem guten Essen, an Kunst. Den Menschen in der Ukraine und den Flüchtenden gehe es nicht besser, wenn wir den ganzen Tag ein schlechtes Gewissen hätten wegen unserer Ohnmacht. »Was stattdessen passiert: Wir lassen Putin auch Krieg führen gegen uns«, schrieb sie. Dann gewinne Putin. Dann bestimme Putin auch über unser Leben und nehme auch uns die Freiheit. »Helfen wir den Menschen in der Ukraine und auf der Flucht, wie und wo wir können, aber lassen wir Putin nicht bestimmen: wie wir leben wollen, woran wir uns freuen und was wir schreiben.« 
Wäre es nicht Unsinn, die Heiterkeit aus unserem Lebensplan zu streichen, weil die Umstände und Aussichten gerade enorm unheiter sind?“ (
24f)
Ich lese dieses impulsreiche Büchlein fröhlich, nachdenklich lernend, umhuscht von manchem Seufzer oder Schmunzeln, und freue mich an dem Blumenstrauß von Leitbegriffen zur Gewinnung von Heiterkeit: Distanz, Leichtigkeit, kindliche Neugier, Nicht-so-wichtig, Absichtslosigkeit, Selbstvergessenheit!

Empfehlung / TextVolker Keding (November 2023) 

 


Ein falsches Wort.
Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht

Gebundene Ausgabe

 
Hardcover: 256 Seiten
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt München, erschienen August 2022, 22,00 €

ISBN 978-3-421-04899-8

René Pfister, Spiegel-Korrespondent in den USA, ist nicht der erste, der die Bewegung der linken Identitären kritisch analysiert. 2020 schrieb Caroline Fourest „Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei“. Judith Sevinç Basad folgte 2021: „Schäm dich! Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen, was gut und böse ist“. 
Worum es geht? Eine junge intellektuelle linke Elite hat Themen entwickelt, die sich weit von der klassischen Linken entfernt hat. Aus dem ehemaligen Klassenkampf ist ein Rassen- und Geschlechterkampf geworden. Ein im Ursprung gutes Anliegen: Gerechtigkeit und Bekämpfung von Diskriminierungen, hat sich ideologisch vereinseitigt und emotional hochgepeitscht.
Ich habe Pfisters Buch mit Google-Exkursen gelesen, um die vielen neuen Vokabeln und Konzepte zu verstehen, die längst Eingang gefunden haben in den gesellschaftlichen Diskurs: Was ist Wokeness? Intersektionalität? Kulturelle Aneignung? Mikroaggression? Non-binär; transgender und cisgender? Cancel Culture? Warum ist ein „Alter weißer Mann“ (also ich!) etwas Schlimmes? Warum ist das Gendern in der Sprache so sagenhaft wichtig, schriftlich mit dem * vor der weiblichen Schlusssilbe und mündlich mit dem „Glottisschlag“ – der kleinen  Pause vor der weiblichen Wortendung? Warum ist das generische Maskulinum so verhasst?
Alle diese Themenaspekte werden von der neuen Bewegung „dogmatisch“ vertreten und heftig durchgesetzt. Pfister untersucht viele dieser „Dogmen“ der identitären Linken. Seine kritische Analyse hilft, manche Diskurse der Gegenwart einzuordnen und sich darin nicht vereinnahmen zu lassen. 
Pfister kritisiert die selektive Konzeption von Rassismus, der ausschließlich auf das Schwarz-Weiß-Feld bezogen wird. Dabei herrscht die Doktrin, jeder Weiße sei automatisch Rassist, nur aufgrund seiner Biologie, die ihn deterministisch gefangen hält (57) und zu der es keine individuelle Alternative gibt. Opfer sind immer schwarz, Weiße sind immer Täter. Pfister kontrastiert Martin Luther King mit seinem Traum von der Gleichberechtigung der Rassen (48f) mit diesen Neoradikalen, die keine Versöhnung wollen, sondern Entmachtung und Canceln der Weißen fordern. Eine krasse Konsequenz ist das Desinteresse gegenüber der Shoah (192). Sie passt nicht ins Konzept: Die verfolgten Juden waren weiß. Weiße können aber nach der Doktrin dieser Identitärer keine Opfer sein. So müssen sie den Holocaust als Störung ihrer Argumentation empfinden und bagatellisieren ihn.
Pfisters Sorge ist auch die Auflösung der Meinungsfreiheit im gesellschaftlichen Diskurs. Denn die Methoden der neuen Bewegung bewirken ein angstmachendes toxisches Klima. Andersdenkende werden nicht gehört, sondern im Netz mit Shitstorms fertiggemacht und bei Vorträgen niedergeschrien. Ein falsches Wort, und es mag gar nicht rassistisch oder sexistisch motiviert gewesen sein, genügt, und Menschen sind gecancelt. Universitätsleitungen und Verlage knicken ein und feuern die gemobbten Personen aus Angst vor Prestigeverlust. 
Tragisch: Was als berechtigte Forderung nach Toleranz gegenüber Ausgegrenzten begann, ist zum Ausbund neuer Intoleranz geworden. Pfister befürwortet produktiven Streit. Das stärkste Argument, nicht das Maß an Empörung oder die Identität (Geschlecht, Alter, Ethnie, Hautfarbe) sollten im Diskurs ausschlaggebend sein. Wir brauchen einen Freiheitsbegriff, der andere Meinungen respektiert. 
Mir hilft das Buch, eine innere Distanz zu Modethemen und Trends zu gewinnen, die von diesen Gruppierungen gnadenlos forciert werden, und meinen eigenen Weg zu gehen, den ich persönlich verantworte.

Empfehlung / TextVolker Keding (August 2023) 

 


Demokratie braucht Religion

Taschenbuch

 
Broschiert: 80 Seiten
Mit einem Vorwort von Gregor Gysi
Verlag: Kösel, München, erschienen Oktober 2022, 12,00 €

ISBN 978-3-466-37303-1

Die neuste Veröffentlichung von Hartmut Rosa, ein Vortrag, den er Januar 2022 vor einem römisch-katholischen Gremium hielt, ist ein Juwel: Alles, was man bisher von ihm lesen konnte, ist hier zusammengefasst und neu zugespitzt. Seit 2005 hatte der bekannte Soziologe unsere spätkapitalistische Gesellschaft unter drei Stichworten analysiert: Beschleunigung; Resonanz und Unverfügbarkeit (vgl. die Buchbesprechungen in Aufschlüsse 65, Juni 2017, 48-49 und 73, Juni 2019, 61). In seiner Rede „Demokratie braucht Religion“ begegnen wir nun einer neuen religionssoziologischen Pointe: Zwischen der hörenden Weltbeziehung der Resonanz und dem Phänomen der Religion besteht ein Zusammenhang.

Rosa nimmt zunächst die Not unserer Gesellschaft unter die Lupe. Wir leiden an einem Aggressionsverhältnis zur Umwelt, zu anderen Menschen und zu uns selbst. Der Optimierungszwang der Beschleunigungsgesellschaft macht uns aggressiv gegen uns selbst, weil die To-do-Liste explodiert (S. 42); er macht Menschen mit sich selber unzufrieden und kreiert das lähmende Gefühl, nicht genug zu sein, eigentlich ganz anders sein zu müssen (S. 50). Köstlich die Parodie auf die in Politik und Industrie herrschende Behauptung: Wir brauchen Wachstum. Ja, Wachstum an welcher Stelle und wohin? Rosa führt, nicht ohne kabarettistischen Witz, diese unhinterfragte Ideologie ad absurdum (33-40).

Dem gegenüber braucht unsere Gesellschaft das, was König Salomo „ein hörendes Herz“ nannte (1 Kön 3,9, Einheitsübersetzung). Unsere Gesellschaft muss aufhören, den politisch Andersdenkenden als Hindernis oder Feind zu behandeln, der das Maul halten soll (S 42-43). Demokratie braucht Bürger und Bürgerinnen, die einander etwas zu sagen haben. Das setzt Hörfähigkeit und Gegenseitigkeit voraus und führt im besten Falle zu dem, was Hannah Arendt „Natalität“ nannte, die Befähigung, neu anzufangen, Neues hervorzubringen (S. 55). Wir müssen heraustreten aus dem Aggressionsmodus in das Weltverhältnis der Resonanz (S. 57).

Wunderbar die Seiten 58-66. Hier fasst Rosa aufs Feinste die vier Dimensionen seines Resonanzbegriffs wie in einem geschliffenen Diamanten zusammen, auf 8 Seiten das Beste von dem, wofür er 2016 in seinem Opus Magnum 800 Seiten brauchte!

Warum also braucht Demokratie Religion? Weil die Resonanzqualitäten der „Anrufbarkeit“, der Hörbereitschaft und die Begegnungsfähigkeit hier unerschöpfliche Quellen haben. Gebetshaltung ist ein Resonanzerlebnis zu einer anderen Welt (S. 73). Die christliche Vorstellung der trinitarischen „Perichorese“, der wechselseitigen Durchdringung von Vater, Sohn und Heiligem Geist betrachtet Rosa als Resonanzparadigma par excellence! (S. 69).

Die letzten 20 Seiten dieses Büchleins lassen das Herz eines Menschen, der Glauben und In-der-Welt-sein verbinden möchte, höherschlagen. Überraschend, wie positiv ein Soziologe nach den eher atheistischen Giganten der Branche, wie Marx, Adorno, Horkheimer, Marcuse u.a. nun ganz neu Religion bewertet. Erfrischend zu hören, dass Gebet nicht als Selbstgespräch, sondern als Resonanzerfahrung mit dem Ursprung des Seins gedeutet werden kann, dass Anrufbarkeit unverzichtbar ist für das Individuum und eben auch für die Gesellschaft, die von Wutbürgern aller Nuancierung zerfetzt zu werden droht.

Das Büchlein versieht diesen Vortrag mit einem philosophisch fundierten Vorwort von Gregor Gysi.

Zugleich bietet eine Sendung des Deutschlandfunks eine hörbare Hinführung (https://www.deutschlandfunk.de/demokratie-braucht-religion-der-soziologe-hartmut-rosa-im-gespraech-dlf-bea5aa62-100.html).

Demokratie braucht Religion: Eine Kostbarkeit, gerade noch rechtzeitig als Weihnachtsgeschenk in unser Blickfeld getreten!

Empfehlung / TextVolker Keding (Dezember 2022) 

 


Autokorrektur –
Mobilität für eine lebenswerte Welt.

Taschenbuch

 
Broschiert: 272 Seiten
Mit Illustrationen von Doris Reich
Verlag: S. Fischer, Frankfurt am Main, erschienen Oktober 2022, 18,00 €

ISBN 978-3-10-397142-2.

Die Autorin legt gut gelaunt, mit präzisen, jahrelang erforschten Mobilitätsstudien und einer Fülle von lebensnahen Interviews ein Konzept zur Mobilitätswende vor. Eine erfrischende Utopie.
Was sie will: Dass Städte aufhören, nur „autogerecht“ strukturiert zu sein, stattdessen menschengerecht zu werden. Ihr nach vielen Seiten hin ausgeleuchtetes Hauptziel: Dass Menschen (freiwillig) auf das Auto verzichten, den Fußweg, das Fahrrad und den öffentlichen Personennahverkehr nutzen. Das setzt natürlich voraus, dass auch die Politik, die Städteverwaltung und der gesamte Verkehrslobbyismus mitziehen. Zu utopisch?
Wirft man einen Blick auf eine „normale“ Stadt und den selbstkritischen Blick ins eigene Mobilitätsverhalten, so ist doch das Auto seit dem berühmt-berüchtigten Wirtschaftswunder sehr dominant. Gleichwohl, an genau dieser Stelle liefert die Autorin Überraschungen. Ein Zauberwort: „hinterfragen“. Und das nicht einfach aus abstrakter klimapolitischer Ideologie heraus, sondern sehr konkret, menschenbezogen. „Ich habe mich aufgemacht, MIT den Menschen, nicht ÜBER sie zu sprechen“ (S. 135). Die Interviews offenbaren eine große Sehnsucht vieler Menschen, ohne Auto leben zu können. Es ist keineswegs so, dass alle das Auto lieben. Katja Diehl fragt oft: Fahren Sie gern Auto? Wollen Sie es oder müssen Sie es? Das bewirkt oft ein Aha-Erlebnis. Nein, wir möchten ohne Auto leben, aber der ÖPNV ist zu dürftig, beginnt morgens zu spät für die Arbeitsstelle, die Radwege sind zu eng, usw. Eigentlich möchten wir verzichten!
Ein Appell an die Politik, die Bürgermeisterinnen, ein Aufhören eingefahrener Gewohnheiten und sakrosankter Priorisierungen des Autos. Zu utopisch?
Nein, da gibt es noch eine Überraschung. Etliche Städte um uns herum, im Blick v.a. solche in der EU, besonders westlich und nördlich von uns, haben bereits begonnen, die Dominanz des Autos zu hinterfragen und daraus klare, menschenorientierte Konsequenzen zu ziehen. Es geht also. 
Katja Diehl verwendet die Schriftsprache des konsequenten Genderns. Bei der Frage der typografischen Verwendung der möglichen Genderzeichen hat sie sich für den Doppelpunkt entschieden. Es ist gewöhnungsbedürftig, aber „mensch“ liest sich ein. Mögen viele Entscheidungsträger:innen zu den Käufer:innen und Leser:innen dieses Spiegelbestsellers gehören und sich ins Hinterfragen üben! Und natürlich auch wir einfachen Sterblichen!

Empfehlung / TextVolker Keding (Juli 2022) 

 


Nachruf auf mich selbst.
Die Kultur des Aufhörens.

Gebundene Ausgabe

 
Hardcover: 288 Seiten
Verlag: S. Fischer, Frankfurt am Main, erschienen Oktober 2021, 22,00 €

ISBN 978-3-10-397103-3.

Dieses bemerkenswerte Buch, in Aufschlüsse 83 (April 2022) per Klappentext gewürdigt, habe ich nun gelesen und bin aufgewühlt. Der Titel suggeriert eine Autobiographie, aber das wäre eine falsche Fährte. Die Metapher des Nachrufs hat Welzer geborgt von einer couragierten Frau, die mit Sterbenden im Gespräch ist, Christiane zu Salm (185-191). Ihre Idee, dass es uns guttut zu überlegen, was wir uns als Nachruf wünschen, hat Welzer auf sich bezogen und kommt am Ende zu 15 Sätzen, die sehr inspirierend sind.
Als Trigger für diese Anschauung kommt eine fast tödliche Krankheit zur Sprache, die den Autor von seiner „Unsterblichkeitsillusion“ befreit hat (55-66). Die persönlich erfahrene Endlichkeit wird für ihn transparent für die großen Zusammenhänge der Welt. Die seit einem halben Jahrhundert bekannten Grenzen des Wachstums gehören philosophisch in die Kategorie der Endlichkeit und provozieren soziopsychologisch eine zu erlernende Kultur des Aufhörens. Es genügt nicht, weiterzumachen wie gehabt, nur optimiert (selbst wenn die Optimierung einen „grünen“ Anstrich hat). Statt zu optimieren müssen wir lernen aufzuhören. Alles bisher Selbstverständliche wird kritisch beleuchtet: Wo kann ich, wo können wir aufhören? Denn wer das bisher zur Selbstverständlichkeit Gewordene endlos perpetuiert, wird banal.
Welzer schreibt gebildet, aber nie langweilig; frech, provozierend, aber nie moralisierend; unterhaltsam, auch kabarettistisch, aber nie oberflächlich. Einfach klug. Uneitel kann er sich selbstironisch auf die Schippe nehmen, und verweist auf einige beeindruckende Personen als Modelle des Aufhörens, die er wichtiger findet als sich selbst (durch Google konnte ich mir deren Profile vergegenwärtigen).
Phänomenal an diesem Buch: Trotz seines geradezu prophetischen Zorns gegen Wachstumskapitalismus, hyperkonsumistischen Lebensstil, symbolisiert durch unverantwortlich riesige Stadtgeländewagen (SUVs) wirkt sein Mahnen nicht überheblich, sondern stimuliert zur Selbstkritik.
Ganz überraschend für ein religionsfreies Buch kommt Jesus zur Geltung: Seine Kategorie der Vergebung eröffnet Neuanfänge. Das hat schon Hannah Arendt gewusst (141-144).
Das Buch wird mich noch lange in Atem halten. Es ist keins von denen, nach dessen Lektüre man sich schlauer fühlt, wohl aber nachdenklicher.

Empfehlung / TextVolker Keding (April 2022) 

 


Auferstehung?
Der Weg Jesu, das Kreuz und der Osterglaube

Gebundene Ausgabe

 
Hardcover: 204 Seiten
Verlag: Matthias-Grünewald-Verlag (Mainz), erschienen Februar 2021, 22,00 €

ISBN 978-3-7867-3252-5

Hans Kessler ist zweifelsohne lesenswert. Römisch-katholischer Theologe, interdisziplinär wissenschaftlich vernetzt, kennt er bestens die kritischen Fragen der Gegenwart und hat sie in sein Denken integriert. Er hat brillante Bücher geschrieben, sie drehen sich zugespitzt um Protologie und Eschatologie. Dabei spielt die Auferstehung Jesu und die Frage nach unserer Auferstehung eine besondere Rolle, hier drei herausragende Titel: 

 Sucht den Lebenden nicht bei den Toten (1985, 6. Aufl. 2011)
 Was kommt nach dem Tod? (2014)
 Evolution und Schöpfung in neuer Sicht (2009; 5. Aufl. 2017)

In dem vorliegenden bisher jüngstem seiner Bücher wirbt Kessler für ein tieferes Verständnis der Osterthematik, dabei zeigt er stupende Kenntnis der aktuellen theologisch-exegetischen Forschung des NT und betont den Unterschied zwischen naiven Missverständnissen der Auferstehungsbotschaft und belastbaren biblischen Kernaussagen. Eine biblizistische Auffassung, die angeblich den Osterglauben „wortwörtlich“ nimmt, ist schon deshalb unmöglich, weil die vier Evangelien sehr unterschiedlich erzählen. Einig sind sie sich darin, dass die Auferstehung Jesu nicht als Vorgang dargestellt werden kann; er ist unanschaulich. Wir wissen nur um seine Auswirkungen. In seinem großartigen Schlusskapitel (für mich der Höhepunkt des Buches) macht er auf das größte Missverständnis aufmerksam und stellt klar (S. 149f): Auferstehung ist nicht Restitution von etwas Altem (Wiederbelebung eines Leichnams und Rückkehr in seinen vormaligen Zustand) , sondern Erschaffung eines radikal Neuen aus der schöpferischen Kraft Gottes und das Eingehen in Gottes Dimension.

Empfehlung / TextVolker Keding (Juni 2021) 

 


Fragmente der Hoffnung

Gebundene Ausgabe

 
Hardcover: 189 Seiten
Verlag: Radius-Verlag,
 Stuttgart, erschienen Mai 2019, 18,00 €

ISBN 978-3-87173-600-1 

Das Buch ist nicht brandneu, es existiert schon seit fast zwei Jahren, aber ich habe es erst jetzt entdeckt als Erquickung in einer längeren Krankheitsphase. Wie immer ist Steffensky auch hier eine Fundgrube von Weisheit mit ihrer herrlich verblüffenden Dialektik von Humor und Tiefsinn, Alltagsnähe und geistlicher Höhe, Mut zur Endlichkeit und Freude an Gott, Selbstironie und Güte, politischer Engagiertheit und poetischer Gelassenheit. Hinreißend schön die Gedanken über unsere Endlichkeit, über den Sinn des Älterwerdens, über Vergebung, über das Glück im Fragment und über zweckfreie Schönheit und seine immer wieder erfrischende Empörung über Verabsolutierungen und den Götzendienst zwanghafter Prinzipien. Hier ein paar Kostproben:

"Nur wer die Niederlagen des Lebens erfahren hat, kann wissen, was Niederlagen sind. Die Nur-Starken, die Nie-Zusammengebrochenen können Gebrochenheit und Schwäche nur schwer verstehen. Empathie, die Fähigkeit, mitzufühlen mit den Schmerzen, den Wunden, dem Hunger, den Qualen von Menschen, setzt voraus, dass man sie am eigenen Leib erfahren hat…. Dieses Wissen ist die Voraussetzung einer anderen und neuen Zärtlichkeit dem Leben gegenüber" (S. 150f). 

"Es ist eine der schönsten Gaben des Menschen, etwas tun zu können, was keinen Nutzen bringt. ... Etwas ohne Absicht zu tun gehört zu den menschlichen Schönheiten." (S. 185f)

Gemischte Vorträge und Aufsätze ohne ermüdende Längen, bei denen mir das Herz aufgeht und der Kopf wach wird.

Empfehlung / TextVolker Keding (März 2021) 

 


Delicate Orange Flow

CD Neo-Klassik

 

Komponist und Interpret: Christoph Bauer
Label: Housemaster Record, erschienen am 28.10.2020, 12.50 €


Die erste Veröffentlichung von Christoph Bauer, einem Komponisten von neuer, klassischer Musik, sogenannte Neo-Klassik.
„Christoph Bauers Musik erinnert ein bisschen an Einaudi, den minimalistischen Italiener. [...] Es ist etwa so, als versuche man, aus dem Gekräusel über einer bewegten Wasseroberfläche oder aus der Bewegung der Blätter eines Herbstwaldes ein Bild zu erkennen.
Bei Christoph Bauer ist das anders, seine Musik ist direkter; sie ist, um in diesem Bild zu bleiben, selbst das Wogen des Wassers, das Wiegen der Zweige des Waldes.“ Andreas Köbner (dt. Filmmusik-Komponist, *1951 in Mannheim).
Doch trotz des Anklangs an Einaudi oder auch Yann Tiersen tragen die Werke immer die einzigartige Handschrift des Komponisten. Dem Hörer präsentiert sich eine ausgewogene Mischung aus zart mäandernden, kapriziös leichten bis hin zu dunkel-atmosphärischen und geheimnisvollen Melodien, die ein vielfältiges Stimmungsniveau präsentieren und einfach jedes Gefühl auffangen.
Jedes einzelne Stück ist ein liebevoll und meisterhaft komponiertes gefühlvolles Kunstwerk, die sich auf der CD zu einem in sich stimmigen, harmonisierenden und inspirierenden Gesamtkunstwerk vereinen.
Als Liebhaber hochwertiger Klaviermusik sollte man sich dieses Werk keinesfalls entgehen lassen.

Zu beziehen ist die CD bei amazon, direkt unter wohnzimmer-konzerte.info/veroeffentlichungen oder per Mail an christoph.bauer[at]wohnzimmer-konzerte.info.

Empfehlung / Text: Simone Munz (Dezember 2020) 

 


Neustart.
15 Lehren aus der Corona-Krise

Taschenbuch

 
Broschiert: 72 Seiten
Verlag: legenda Q, Daun, erschienen März 2020, 9,90 €

ISBN 978-3-948206-04-8

Ein erfrischendes Büchlein von der Größe eine Reclam Heftes, geschrieben unmittelbar vor Beginn des ersten Corona-bedingten Lockdowns. Erstaunlich die Weitsicht, die maßvolle Differenziertheit und die Fülle zukunftweisender Denkimpulse. Quarch ist hochgebildeter Philosoph, der originell und lebensnah klassische Gedanken elementarisiert und nicht zuletzt wegen seiner Kürze unterhaltsam schreibt.
Quarch wertet Corona als Chance zum Umdenken. „Corona stellt alles in Frage, woran wir bislang so fest glaubten und was wir für selbstverständlich hielten. Darin liegt die Chance, die uns allen mit dieser Pandemie gegeben ist“ (S. 8). 

Zu den 15 Betrachtungen über das, was wir von Corona lernen können, begeistert mich besonders diese: „Digital ist großartig, ersetzt aber nicht analog“. Hier betont der Autor, dass die notgedrungen leiblosen digitalen Begegnungen ein neues „Bewusstsein für die unvergleichliche Intensität, Magie und Begeisterungskraft analoger Begegnungen“ schafft. Corona zeigt uns durch Entzug, dass „das leibliche und physische Beisammensein von Menschen mit das Kostbarste ist, was uns das Leben zu bieten hat. Die Berührung einer Hand, das Schulterklopfen eines Freundes, die Umarmung einer Freundin sind Gesten, die für den Zauber des Lebens unverzichtbar sind“ (S. 29f).

Quarch beendet sein Büchlein mit einer von Nietzsche inspirierten atheistischen Einlassung. Die möchte ich kritisch kontern mit meinem Vorschlag in Aufschlüsse 63 (Dezember 2015): Jegliche Spielart von Atheismus kann nur „Gott“, nicht aber Gott negieren. Was Quarch ohne „Gott“ an begeistertem Ja zum Leben propagieren möchte (S. 68), kann nach meiner Erfahrung beherzter mit Gott (ohne Anführungszeichen, d. h. mit Gott, wie er wirklich ist) erlebt werden.

Des ungeachtet lohnt sich die Lektüre. Sie bietet auf hohem philosophischem Niveau und zugleich leserfreundlicher Einfachheit eine Fülle von Anregungen, der aktuellen Pandemie schöpferisch zu begegnen.

Empfehlung / TextVolker Keding (Dezember 2020) 

 


Olga

ROMAN

 
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: Diogenes, erschienen Januar 2018, 24.- €

ISBN-10: 3257070152
ISBN-13: 978-3257070156

Dieser Roman von Bernhard Schlink ist eine jener überraschenden Geschichten, die dieser Autor so liebt: Es beginnt mit einem ganz einfachen Plot, der sich überraschend früh in eine ganz andere, verblüffende, abgründige Hintergrundgeschichte verwandelt. Olga, die Hauptfigur dieses eingängigen, geradezu süffigen Romans, wächst als Waise bei ihrer Großmutter in Pommern auf und wird als selbstbewusste, überdurchschnittlich begabte und lebenskluge Frau geschildert. Ihre Liebe, Herbert, ein Junkerssohn, ist ein unsteter Geist, immer auf dem Weg, großen Visionen zu folgen, einem titanenhaften Deutschland zu dienen oder wenigstens ein berühmter Entdeckungsreisender zu werden. Bei einer seiner zahlreichen Reisen verliert sich seine Spur in der Arktis. Nach kaum der Hälfte des Buches ist die Liebesgeschichte der beiden schon zu Ende, so scheint es. Doch dann beginnt der eigentlich spannende Teil erst. Der Verfasser berichtet davon, wie er die Briefe von Olga, mit der er durch familiäre Verbindungen bekannt ist, im Nachlass findet und die Liebesgeschichte in ihrer eigentlichen Dimension auszuleuchten vermag.

Olga, deren Lebensspanne die beiden Weltkriege bis in die 70er Jahre umfasst, wird in dem gleichnamigen Roman zu einer Beobachterfigur, die die wechselvollen Geschicke Deutschlands und seiner Menschen mit dem eigenen Gang der Lebensgeschichte verflicht. Fast nebenbei werden wunderbar zarte und zeitlose Einsichten über das Geheimnis menschlicher Liebe eingestreut, um derer willen allein die Lektüre schon lohnte.

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (März 2018) 

 


Stille

Ein Wegweiser

 
Gebundene Ausgabe: 144 Seiten
Verlag: Insel, erschienen September 2017, 14.- €

ISBN-10: 3458177248
ISBN-13: 978-3458177241

Ein eigenartiges Buch. Sein Verfasser ist ein beruflicher Tausendsassa, wenn man dem Küchenzettel glauben darf: Verleger, Autor, Jurist, Kunstsammler, Abenteurer – und Vater von drei Töchtern. Der Mann hat den Nordpol, den Südpol und den Gipfel des Mount Everest erreicht bzw. bestiegen, jeweils allein.

„Was ist Stille? Wo ist sie? Warum ist sie heute wichtiger denn je?“ (S.14) – das sind die Leitfragen der 32 kleinen Meditationen, die das sorgsam gefertigte Buch aus dem Insel-Verlag versammelt. Beigaben von naheliegenden, aber auch verblüffenden Bildern unterbrechen den Lauf der in polarer Schnee-Anmutung gehaltenen Textseiten, ohne sie zu stören. Sie ergänzen vielmehr die Ruhe, die das ganze Buch ausstrahlt.

Reizvoll daran ist die ganz unprätentiöse Perspektive, aus der das Phänomen der Stille hier angeschaut wird. Es fehlt die oftmals pathetisch aufge- und oft auch überladene Geste geistlicher Literatur, diese schwülstige Acht- und Empfindsamkeitssprache. Religion und der Umgang mit den letzten Fragen des Lebens kommen hier ohne das glitzernde Kleid esoterischer Verschwurbelungen an den Leser. Stattdessen wird beobachtet, Gefühle notiert, Gedanken betrachtet, die Welt gedeutet. Und zwar so, dass man beginnt, sich selber zu fragen, wie man es denn hält mit der Stille und dem Geräusch, mit dem, was in, und dem, was um einen herum ist. Ein wirklich gut lesbares, einfaches, tiefes Inspirationsbuch.

Außerdem: so erschwinglich, dass man es gut als Geschenk und Anregung weitergeben kann.

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (März 2018) 

 


Die Gesellschaft der Singularitäten

 

 
Gebundene Ausgabe: 480 Seiten
Verlag: Suhrkamp, erschienen Oktober 2017 (5. Aufl.), 28.- €

ISBN-10: 3518587064
ISBN-13: 978-3518587065

Andreas Reckwitz, Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/ Oder ist so etwas wie ein shooting star der Soziologenszene, soweit sie von den öffentlichen Meinungsmachern wahrgenommen wird. Die 450 Seiten seines Buches sind nicht gerade leichte Kost, schwer bepackt mit soziologischen Fachbegriffen alter und neuer Prägung, und der Titel des Buches ist nicht eben eingängig: Gesellschaft der Singularitäten. Dennoch empfehle ich dieses Buch mit Nachdruck, weil es eine beeindruckend genaue Gegenwartsanalyse der westlichen Gesellschaft bietet.
Die These des Buches lautet: die „klassische Moderne“, also die Zeit der industriegeprägten Massenproduktionen, der erkennbaren gesellschaftlichen Klassen und ihrer kulturellen und politischen Marker sowie der bürgerlich definierten Kulturwerte geht seit den 90er Jahren zuende. An ihre Stelle tritt eine Spätmoderne, in der es nicht mehr darauf ankommt, in anerkannten Standardformaten sein Leben zu verbringen, sondern vor allem darauf, sich selbst zu verwirklichen, gewissermaßen authentisch und unverwechselbar – eben singulär – zu sein. Möglich wird dieser Veränderung, ja, Revolution durch die Digitalisierung, den global dimensionierte, liberale Marktwirtschaft und die Erschöpfung der traditionellen Prägekräfte der modernen Gesellschaft.
Reckwitz veranschaulicht das an fünf Positionen der Lebensorganisation: Raum, Zeit, Objekte, Subjekte und Gemeinschaften. Um die Wahrnehmung knapp zu skizzieren: Räume werden zu „locations“, Zeiten bestimmen sich als „events“, Objekte tragen „images“, Subjekte werden ausgearbeitet und „performed“, und Gemeinschaften sind zusehends Wahlverwandtschaften, keine Schicksalsgrößen. Es geht weniger um die anglizistische Fachsprache – die ist nur ein Nebenprodukt-, sondern um die tief veränderte Wahrnehmung der Lebenswelt.

Um es schließlich auch an der Religion zu veranschaulichen: „Kirchen“ als verfasste Körperschaften und Großgebilde von gesellschaftstragender Qualität sind in diesem Verständnis Relikte einer vergangenen Epoche. Als Singularitäten lebende und arbeitende Menschen entwerfen ihr eigenes Lebensdesign, und religiöses „Material“ wird nach individuellen Kriterien angeeignet – oder auch nicht. Die Religionsgemeinschaften bis hinunter auf die Ebene der Kirchengemeinden folgen demselben Muster, wenn sie sich darum bemühen, ihre „Alleinstellungsmerkmale“ zu formulieren und dadurch ihren „singulären“ Charakter herauszustreichen. Eben nicht nur als ev.-luth. Kirchengemeinde xy, sondern „wir“ aus St. Andreas, Markus, Bonhoeffer Trinitatis.

Die Mühe, sich durch die analytischen Bergwelten des Reckwitzschen Buches zu bewegen, wird mit großartigen Übersichten und Anregungen belohnt.

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (März 2018) 

 


Evangelio

EIN LUTHER-ROMAN

 
Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch, erschienen März 2017, 22.- €

ISBN-10: 3462050109
ISBN-13: 978-3462050103

Das ist ein rasantes Werk, und kurios. Sein Verfasser ist ein Moslem, Türke. Ausgerechnet der schreibt den einzigen Luther-Roman, der diesen Namen verdient, im Reformations-Jubiläumsjahr. Als solches schon ein Beitrag zur Religionsverständigung. Und erst der Plot: es geht um eine fiktive Konstellation hoher historischer Wahrscheinlichkeit: Luther sitzt auf der Wartburg und diskutiert mit einem altgläubigen Lanzknecht, der zu seiner Bewachung abgestellt ist, über die Fragen nach Religion, Lebenssinn, Realität und Traum. Das Buch sprüht von einer Sprachgewalt, die außergewöhnlich ist: Zaimoglu bohrt sich geradezu in den deutschen Sprachgestus des 16. Jahrhunderts hinein, um auf diese Weise eine möglichst große Authentizität zu erzeugen. Die Derbheit, ja, Brutalität der sprachliche Umgangsformen gibt einen durchaus realistischen Geschmack für die Qualität des damaligen kommunikativen und auch nonverbalen Umgangs miteinander. Das Buch hat kein rechtes Ende, da es keine wirkliche Geschichte erzählt, sondern gleicht eher einem Sittengemälde. Das räumt auf mit allen romantischen Lutherverehrungen, wie es die vielen Luther-Biographien auch tun, aber in einem Roman geschieht es wirklich, weil der Leser keinen Stoff lernt, sondern im Gefüge dynamischer Ereignisse, wenn er richtig liest, verschwindet.

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (März 2018) 

 


Was Jesus wirklich gesagt hat

Eine auferweckung

 
Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
Verlag: Gütersloher Verlagshaus, erschienen September 2015, 22,99 €

ISBN-10: 3579085220
ISBN-13: 978-3579085227

Der etwas reißerische Titel verspricht Aufschluß darüber, was Jesus tatsächlich gesagt, gewollt und gedacht hat, jenseits aller dogmatischen Festlegungen, kirchlichen Lehren und theologischen Debatten. Natürlich kann auch Franz Alt das nicht liefern. Aber der bedient sich, um der Sache näher zu kommen, einer wissenschaftlich hoch umstrittenen Figur: der Rückübersetzung des griechischen Neuen Testaments ins Aramäische, also jene Sprache, die Jesus gesprochen hat. Da es keinen wirklichen Urtext des Neuen Testaments gibt, sondern nur zahlreiche, oftmals im Detail verschiedene Varianten der neutestamentlichen Bücher, ist der Rückgriff auf ein vermeintliches Original methodisch heikel. Nimmt man hinzu, dass das Aramäische zur Zeit Jesu und das, was wir heute davon rekonstruieren können, ebenfalls schwer aufeinander zu bringen sind, liegen bei diesem Unternehmen die Probleme klar auf der Hand. Alts Gewährsmann in der Sache ist ein Theologe namens Günther Schwarz, auf dessen Rückübersetzungsergebnisse er sich maßgeblich stützt. In der wissenschaftlichen Diskussion ist Schwarz ein vollkommener Außenseiter. Das spricht nicht gegen ihn, aber belegt auch noch nicht die Erkenntnisqualität seiner Forschungen.
Mit dem Schwarz’schen Verfahren gelingt es Alt, viele der anstößigen Formulierungen Jesu im griechischen Text aufzuheben, verständlich zu machen, gelegentlich zu entschärfen. Natürlich wird man den Verdacht nicht los, dass das bei einer doppelten Rückübersetzung: erst aus dem Griechischen in eine weithin gemutmaßte aramäische Sprache und aus dieser dann ins Deutsche, die so gewonnenen Übersetzungsergebnisse etwas Selbstfabriziertes haben. Beweisen lässt sich das kaum, widerlegen aber auch nicht.
Das am Ende herausgearbeitete Jesusbild ist aber erwartbar und bekannt – und auch biblisch gedeckt. Jesus ist das göttliche Vorbild menschlichen Lebens, dessen vorbildende Kraft durch alle Zeiten hindurch Menschen zu einem neuen Leben im Dienste der Liebe Gottes angestiftet hat. Die Großen der Glaubensgeschichte werden aufgeboten, um das zu illustrieren, bis zu Rupert Neudeck oder Rosi Gollmann, imponierenden Beispielen unserer Tage.
Alt möchte dringlich machen, dass die Botschaft Jesu nicht zum Begreifen, sondern zur Nachfolge ruft. Das Leben im Vertrauen auf Gott zum Bau des Reiches Gottes hingeben – um weniger geht es nicht. Darin hat er nach meinem Dafürhalten unbedingt recht. Die sesselaffine Christentumsbequemlichkeit der bürgerlichen Kirchen ist meilenweit entfernt von der Glut der aufopfernden Liebe, die sich bei Leuten wie Don Bosco, Mutter Teresa oder Dietrich Bonhoeffer finden.
Warum das bei Alt allerdings regelmäßig um den Preis einer universalen Kirchenschelte und einer geradezu obsessiven Kritik der römischen Papstkirche zu haben ist, gibt am Ende Anlaß zu großen Fragen. Und die hochesoterischen Spekulationen um die Vorgänge bei der Auferstehung, seine Überlegungen zu einem Geistleib, der nach der Kreuzigung wieder in den Körper Jesu zurückgekehrt seien, all das verdirbt eher den praktischen Anspruch, den seine drängenden Auslegungen der Worte Jesu erheben können.
Und der komplizierten Übersetzungshydraulik hätte es für diese Überlegungen auch nicht bedurft. Das ganze spekulative Material liegt seit Jahrhunderten vor. Kurzum: die ethischen Konsequenzen der Alt’schen Christologie sind in den Kirchen von Anbeginn gesehen und bewahrt, da braucht es eine Rückübersetzung nicht. Die weltanschaulichen Beimengungen aus anderen Interessensphären erhellen diese Sicht ohnehin nicht.

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (November 2016) 

 


Ich bin ein Gast auf Erden

Eine pastorale Lebensgeschichte

 
Broschiert: 160 Seiten
Verlag: Gütersloher Verlagshaus, erschienen März 2016, 14,99 €

ISBN 978-3-579-08230-1

Wer in den vergangenen 50 Jahren Theologie studiert hat, kommt um diesen Namen nicht herum. Josuttis. Er gehört zu den wirklich bedeutenden Nachkriegstheologen und hat zwei ganze Pastorengeneration geprägt, in leidenschaftlicher Zustimmung oder Ablehnung. Geboren im ostpreußischen Willkischken und geprägt durch die Kriegs- und Nachkriegsjahre, hat er kürzlich seinen 80. Geburtstag gefeiert, gezeichnet von einer wachsenden Demenz, und legt mit diesem Büchlein einen Rückblick auf seine „pastorale Lebensgeschichte“ vor. Eigentlich ist es gar kein Buch im strengen Sinne, sondern eine Collage von Bildern, Predigten, Eindrücken und Erkenntnissen, die dieser unglaublich produktive, provokative und zugleich ordnungsliebende Geist vorlegt, wie einen Gruß, mit dem er seine Freunde und Bewunderer, aber auch seine Widersacher und Skeptiker freundlich bedenkt. Es ist keine theologische Literatur im strengen Sinn, sondern vorgetragene Nachdenklichkeit, verblüfftes Staunen manchmal, dankbarer Rückblick auf jeden Fall. Das Buch beginnt mit drei Predigten, beleuchtet die großen Themen seiner Lebensgeschichte und schließt mit einer überraschenden Deutung von Demenz, Alter und Tod. Alles sehr einfach beschrieben; man erkennt die Mühe, die sich der Autor bei den Zeilen gemacht haben muss. Josuttis’ großes Thema, der sorgsame und bewusste Umgang mit dem Heiligen einerseits und die königliche Freiheit der Kinder Gottes andererseits, wird auf den knapp 160 Seiten ein ums andere Mal als Hintergrund seiner Berichte und Überlegungen sichtbar.
Am Ende ist man, bin ich jedenfalls, gerührt ob dieser entwaffnenden Offenheit, aber auch wegen der geistlichen Leuchtkraft, die sich aus den durchlesenen Kapiteln entwickelt. Ein echter Lehrer unter all den Referenten dieser Tage.

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (November 2016) 

 


Erlöste und Verdammte

Eine Geschichte der Reformation

 
Gebundene Ausgabe: 508 Seiten
Verlag: C.H.Beck, erschienen August 2016, 26,95 €

ISBN 978-3-406-69607-7

Thomas Kaufmann, Kirchengeschichtsprofessor aus Göttingen, ist vermutlich der renommierteste deutsche Experte zur Reformationsgeschichte. In deutlicher Kritik gegenüber den offiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten der EKD hat er sich zusammen mit seinem profanhistorischen Kollegen Heinz Schilling in den vergangenen Jahren auch einen Namen in der großen Tageszeitungen gemacht. Kaufmann vertritt die These, dass das Ereignis „Reformation“ zutiefst missverstanden wird, wenn man es auf die Vorgänge rund um Luther verkürzt. Es geht um einen europäischen Prozess, der sich hier Bahn bricht und am Ende die Einzelfigur Luther eher an den Rand der Ereignisse stellt. Die Reformation als kirchliches Ereignis muss deswegen in einen größeren Zusammenhang gestellt werden, damit man nicht am Ende auf folkloristischen Einzelsensationen wie Thesenanschlag, Verbrennung der Bannandrohungsbulle und Heirat mit einer entlaufenen Nonne erst sitzen und dann unbeachtet bleibt. Genau diesen größeren Zusammenhang hat Kaufmann bereits mit einem großen Werk 2009, der „Geschichte der Reformation“ aufgespannt, hier allerdings eher wissenschaftlich aufbereitet und in einer, sagen wir, nicht unmittelbar zugänglichen Sprache geschrieben. Das nun vorliegende Buch „Erlöste und Verdammte“ erlaubt einen in der Sache ebenso anspruchsvollen, aber in Sprache, Stil und Form leichteren Zugang zu dieser überzeugenden These. Dass das Buch geradezu üppig mit Bildern ausgestattet ist, macht es zusätzlich reizvoll, sich in die damalige Zeit zu vertiefen. Allerdings sind viele der Bilder so zusammengedrängt, dass erst die Unterschrift leidlich darüber aufklärt, was da nun zu sehen sein soll. Aber das sind Kleinigkeiten. Diese Geschichte der Reformation vermag es, dem interessierten Leser nahezubringen, warum diese vermeintlichen Kleingeistereien zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen, Hekatomben von Opfer gefordert und die gesamte Welt in Mitleidenschaft gezogen haben. Als Vorbereitung auf eine sachgemäße Jubiläumszeit und als Anleitung zu der wichtigen Frage, woran wir heute mit dem Erbe der Reformation eigentlich sind, ist Kaufmanns „Erlöste und Verdammte“ eine unverzichtbare Lektüre.

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (September 2016) 

 


Als unser Deutsch erfunden wurde

Reise in die Lutherzeit

 
Gebundene Ausgabe: 496 Seiten
Verlag: Galiani-Berlin, erschienen Juni 2016, 24,99 €
ISBN 978-3-86971-126-3

Luther-Biographien gibt es zuhauf. Beschreibungen des Alltags aus der damaligen Zeit finden sich zumeist nur in arg wissenschaftlichen Monographien über die Welt des Mittelalters, und das meist in Milieuausschnitten, denen es an Anschaulichkeit gebricht. Das Buch von Bruno Preisendörfer schließt hier eine schmerzliche Lücke. Nicht zuletzt wahrscheinlich deswegen, weil der Autor weder Theologe noch Historiker, sondern Journalist ist. Einem größeren Publikum ist er bekannt geworden durch den Titel „Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit“, der eine ähnliche Annäherung an sein Thema wählt wie das vorliegende Buch. Preisendörfer beschreibt in einem leicht lesbaren, feuilletonistischen Stil, gelegentlich mit spöttischem Unterton den Alltag des spätmittelalterlichen Menschen in einem der zahllosen deutschen Fürsten-, Bis- und Herzogtümer, Graf- und Herrschaften, Reichsstädten oder Landgemeinden. Beim Essen angefangen und beim Glauben aufgehört. Wie man reiste, sich benahm, beherrscht wurde oder herrschte, zahlte oder zeugte: all das wird in knappen Skizzen vorgetragen, mit historischen Belegen ausgestattet, ohne dabei in Fußnoten zu ertrinken, und zu einem Bild zusammengesetzt, das sinnlich und verständlich zugleich ist. Manche historischen Einseitigkeiten sind dabei unvermeidlich, auch Überzeichnungen von Personen und theologische Verkürzungen – aber all dies nicht, um einer ideologischen Fixierung zu dienen, sondern um ein höheres Maß an Anschaulichkeit zu erzielen. Dieses Leitinteresse verdient den eigentlichen Dank. Hier macht sich einer die Mühe, dem Leser – dem Zeitreisenden, wie der Autor immer wieder einmal einstreut – einen Geschmack und ein Gefühl dafür zu geben, unter welchen Bedingungen das zustande kam, was wir die Reformation nennen: Gewalttätig war die Zeit und voller Angst. In Gärung das ganze Europa, überflutet von den Eindrücken, die aus der gerade erst entdeckten neuen Welt durch die Gesellschaften schwappten. Geniale Menschen zuhauf, der erste weltweite Kapitalismus unter den Fuggern und Welsern. 

Ein Lesevergnügen mit hohem Bildungsimpuls. Gerade recht zum Jubiläum.

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (September 2016) 

 


Die fremde Reformation.

Luthers mystische Wurzeln

 
Gebundene Ausgabe: 247 Seiten
Verlag: C.H. Beck, erschienen Februar 2016, 21,95 €
ISBN 978-3-406-69081-5

Wieder mal ein Buch zur Reformation und ihrem 500jährigen Jubiläum. Mit einer wichtigen These und einem bedeutsamen Auftrag. Die These: die Reformation, deren Kopf und leidenschaftliches Herz der Augustinermönch Martin Luther war, speist sich vor allem und in der Tiefe des Anliegens aus der mystischen Tradition des Mittelalters. Sie ist also – anders formuliert – gar nichts Neues, sondern in erster Linie die Präzisierung und Zuspitzung einer längst vorhandenen religiösen Strömung. Luthers Anliegen war es, die äußerlichen religiösen Praktiken und die innerliche geistliche Haltung zusammenzubringen und als Lebenseinheit zu vollziehen. Damit überwarf er sich mit der kirchlich institutionalisierten Form christlichen Glaubens mit dem Papst an der Spitze einerseits; damit geriet aber auch mit den Vertretern einer unmittelbar geistgewirkten Lebensform auf Seiten der sogenannten Schwärmer andererseits aneinander. Wer die äußere Praxis geringschätzt, vergeht sich an der göttlichen Ordnung des Lebens, wer nur auf die Tradition setzt, verrät das Geheimnis des Evangeliums, das den Menschen im Herzen verwandeln will.

Volker Leppin, Professor für Kirchengeschichte in Tübingen, setzt sich zum wiederholten Mal mit der Biographie Luthers auseinander. Mit dem kleinen Buch (gut 200 S.) über dessen mystische Wurzeln präsentiert er einen einfachen Grundgedanken zur Reformation, der dem Leser eine wichtige Aufgabe mitgibt: wie sind die christliche Tradition und ein lebendiges Gefühl für die Christusgegenwart im eigenen Leben eigentlich zusammenzubringen? Und was ist zu tun, wenn einem der Glaube zu einer strohernen Veranstaltung unter den Händen missrät? Wie soll eine Kirche aussehen, die sich zwar auf Luther beruft, aber in ihrer eigenen Praxis mindestens genauso versteinert aussieht wie das, was sie einst bekämpfte? Luther würde diese Frage wahrscheinlich selbst als allererstes angehen, wenn er es denn zu sagen hätte.

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (September 2016) 

 


Himmel, Herrgott, Sakrament!

Auftreten statt austreten

 
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
Verlag: Kösel-Verlag, erschienen März 2016, 19,99 €
ISBN-10: 3466371473

Das ist kein Buch im eigentlichen Sinn, sondern ein Manifest, eine Protestschrift auf der einen und ein Lebensbekenntnis auf der anderen Seite. Rainer Schießler, in München eine bekannte Lokalgröße, ist von Berufs wegen katholischer Pfarrer der Gemeinden St. Maximilian und Heilig Geist am Viktualienmarkt. Zugleich ist er eine Mischung aus Tausendsassa und Kraftpaket im Priesterkleid, kellnert auf dem Oktoberfest, erneuert zweijährlich seinen Taxischein, steckt voller unkonventioneller Ideen und Einfälle und ist leidenschaftlicher Motorradfahrer. Alles, was man so braucht für ein gediegenes Nonkonformisten-Image unter den langweiligen Kirchenfritzen, die sich sonst so in der Halböffentlichkeit herumtreiben. Eine Biographie voller Brüche und Leidenschaft, ein Selbstbewusstsein, das einem Durchschnittsmenschen die Luft etwas knapper macht.
Vor allem aber: ein herrliches Mutmachbuch gegen Depression und Kleingeisterei, Kopfglauben und Selbstbescheidenheit. Da muckt einer auf gegen die allgemeine Leisetreterei der Kirche, nennt das ganze Elend des Zwangszölibates beim Namen und beschreibt seine Lebenswirklichkeit, zieht gegen die klerikale Langeweile zu Felde und fordert munter auf, doch bitte den Worten Jesu mehr Vertrauen zu schenken als den Gesetzestexten der Kirchenoberen. Eine Mischung aus Frechheit und Erfahrung bahnt sich da ihren unterhaltsamen und berührenden Weg.
Das Ganze ist literarisch sehr hölzern und struppig, aber der Schwung der Begeisterung trägt über die redaktionellen und sprachlichen Abgründe hinweg. Es gibt richtig handfeste und gute Ratschläge, die zu beherzigen jeden gut ansteht, der in einer Gemeinde mitarbeitet oder gottesdienstlich unterwegs ist. Die drei wichtigsten: erstens „Du musst die Leute mögen!“, zweitens: „Liturgie darf nicht wehtun“, sprich: sie darf nicht langweilen; und drittens „Sakramente muss man spüren“. Das stimmt einfach, und es ist so schmissig, lebensnah und erfahrungssatt geschrieben, dass einem runtergeht wie Champagner. Das Buch hat mich an elementare Grundtugenden meines pastoralen Lebens erinnert und manches schmerzhafte Eingeständnis ausgelöst.

Allerdings: das Riesenego von Pfarrer Schießler muss man aushalten, sonst bekommt man nach zehn Seiten entweder eine Depression oder setzt sich seine Hasskappe auf.

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (August 2016) 

 


Luther der Ketzer

Rom und die Reformation


 
Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
Verlag: C. H.Beck, erschienen Februar 2016, 24,95 €
ISBN: 978-3-406-68828-7

Eines der vielen Bücher, die nun in rascher Reihenfolge zum 500. Jubiläum der Reformation erscheinen. Diesmal geht es um die Beschreibung der durch Martin Luther ausgelösten Bewegung aus der Perspektive der römischen Position. Das ist nicht das erste Mal, dass so etwas geschieht, und die Ergebnisse sind über weite Teile auch nicht wirklich neu. Schließlich ist auch die sprachliche und inhaltliche Darbietung nicht durchgängig so, dass sie einen fesseln könnte, aber es ist kein fachwissenschaftlich verfasstes Buch, und der Verfasser, Professor für Geschichte an der Universität Fribourg, bemüht sich darum, möglichst plastische Darstellungen der damaligen Verhältnisse und Begegnungen zu geben.
Zwei Hauptthesen werden präsentiert, beide sehr bedenkenswert. Die erste: die Protagonisten beider Seiten haben z.T. aus Nachlässigkeit, z.T. aus verständlichen Motiven oftmals aneinander vorbeigeredet und die gegenseitigen Vorhaltungen oder Friedensangebote gar nicht ernsthaft aufgenommen. Wäre verständigungswilliger theologischer und politischer Sachverstand am Werk gewesen, hätte die Sache auch ganz anders aussehen können.
Die zweite These: ein gerüttelt Maß an Schuld an diesem Umstand ist eine unüberbrückbare Mentalitätsdifferenz: die Deutschen und die Italiener mochten einander nicht, ganz grundsätzlich, und das schlug auch in den reformatorischen Wirren durch. Es gab für diese gegenseitige Abneigung gute Gründe: ein deutliches Bildungsgefälle, zwei unterschiedliche politische Kulturen und gegensätzlich begabte oder veranlagte Menschenschläge.
Vor allem aber wird präsentiert, in welch hohem Maße diese grundlegenden Differenzen übersteuert wurden von den anderen Schauplätzen des 16. Jahrhundert; angefangen von den Querelen um die Kaiserwahlen im Heiligen Römischen Reich, über die Pest und die Türkenkriege bis hin zu familienpolitischen Verstrickungen der Medici-Päpste.
Das Gesamtbild zeigt, dass die protestantisch stets vorausgesetzte Zentralstellung der Reformation Luthers in den Bewegungen der damaligen Zeit nur eine Sicht der Dinge ist, und durchaus nicht die unbedingt realistischste. Insofern regt das Buch dazu an, in den Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum neu danach zu fragen, worum es damals eigentlich ging und was davon für unsere heutige Kirche unabdingbar ist- und was nicht.

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (Juli 2016) 

 


Unterleuten

Der große Gesellschaftsroman von Juli Zeh


 
Gebundene Ausgabe: 640 Seiten
Verlag: Luchterhand Literaturverlag, erschienen März 2016, 24,99 €
ISBN: 978-3-630-87487-6

Ein dicker Roman, 660 Seiten, genau richtig für die Ferien. Im Mittelpunkt steht das kleine brandenburgische Dorf Unterleuten unweit von Berlin, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Kein Glasfaserkabel mit Datenautobahn, kein Neubaugebiet, keine infrastrukturelle Erschließung mit Wasser-, Strom- und Straßennetz. Viel olle DDR noch zum Greifen nah. Hier steht zwischen den Menschen kein technischer Apparat, keine Unterhaltungsindustrie, kein Eventmarketing, sondern man hat es mit sich zu tun. Mit allem, was dazugehört. In Unterleuten ist man unter Leuten der normalsten Sorte. Hier regelt man die Dinge unter sich. Dass das so bleibt, auch wenn rings um Unterleuten andere Leute ihre Strippen ziehen, Pläne machen oder die Welt verändern, ist die überraschende Erfahrung der Zugezogenen. Ob sie nun als Naturschützer auflaufen, als Unternehmer zwischen gutem Willen und bösen Taten nicht gut unterscheiden können oder als Pferdeflüsterer plötzlich mit zwielichtigen Interessen Bekanntschaft macht, spielt dagegen keine große Rolle. Am Ende geht es um das alte Spiel der Macht, der Schuld und der Suche nach dem Sinn. Mit allem, was dazugehört. Ein großartiges Panorama menschlicher Größe und Niedrigkeit, eingespannt in den kleinen Bereich eines brandenburgischen Dorfes.

Juli Zeh gehört zu den produktivsten deutschen Schriftstellerinnen derzeit, ist gelernte Juristin und selbst wohnhaft unter solchen Verhältnissen wie sie sie in ihrem Roman beschreibt. Ihre Beschreibungen dessen, was in Menschen vorgeht, ist bis ins Detail genau und bisweilen schmerzhaft realistisch, ihr Blick auf das Getriebe der verschiedenen Interessen klar, kühl und abständig. Das verleiht der Lektüre den Eindruck, man schaue einer Mischung aus Theater und Irrenhaus zu, bleibe aber weitgehend unberührt und könne sich trotz der anzusehenden Dramatik durchaus gut unterhalten und in seiner schlechten Meinung über den Menschen an sich eindrucksvoll bestätigt fühlen. 

Genau dieses Gefühl zu erkennen und sich mit ihm auseinanderzusetzen, ist die eigentliche Aufgabe, die das Buch dem Leser stellt: Gibt es so etwas wie eine Moral, eine Ethik, eine innere Orientierung des Lebens, und wenn ja, warum? 

Empfehlung / TextHelmut Aßmann (Juli 2016)

 


Gewaltfreie Kommunikation in Kirchen und Gemeinden

DIE NÄCHSTEN LIEBEN WIE SICH SELBST
VON GOTTFRIED ORTH

Broschiert: 224 Seiten
Verlag: Junfermann, erschienen Dezember 2015, 24,90 €
ISBN: 978-3-95571-479-6 

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst - wie macht man das? Dies war eine der Kernfragen Marshall Rosenbergs, als er im Kontext der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) entwickelte. Wertschätzung aller Menschen war ihm ein zentrales gesellschaftliches wie spirituelles Anliegen. Grundlage der GFK ist eine Haltung, die einen wertschätzenden Umgang mit sich selbst und anderen erleichtert und vertrauensvolle Beziehungen ermöglicht. Das Buch führt zunächst im Sinne eines Lehrbuchs in Spiritualität, Haltung und Methode der GFK ein. Im zweiten Teil wird an konkreten Beispielen gezeigt, wie GFK helfen kann, lebendige Beziehungen in Kirchen und Gemeinden zu gestalten und die theologische Reflexion zu bereichern. Mit Beiträgen von Gerlinde Fritsch, Britta Lange-Geck, Jutta Salzmann, Cornelia Timm und Barbara Wündisch-Konz. 

Text: Junfermann Verlag Paderborn 


Die granulare Gesellschaft.

Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst.
von Christoph Kucklick

Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
Verlag: Ullstein Hardcover, 2014, 18.- €

Christoph Kucklick, Jahrgang 1963, ist Chefredakteur von GEO. Das erklärt die wunderbar flüssige und lesefreundliche Schreibe dieses Buches. Zugleich ist er promovierter Soziologe. Das wiederum erklärt die Akribie des wissenschaftlichen Verstehenwollens. Beides zusammen ergibt ein außerordentlich inspirierendes, zeitnahes und hilfreiches Buch, das uns die Perspektiven der digitalen Revolution vor Augen führt, ohne in den gewohnten Alarmismus („Digitale Demenz“!) oder trockene Sachverhaltsfeststellungen abzugleiten. Kucklick erläutert auf faszinierende Weise, dass die Digitalisierung unserer Welt zu einer vollständigen Veränderung unserer Wahrnehmung und Bewertung der Welt und unseres Lebens führen wird. Diese Veränderung ist bereits eine gegebene Tatsache, keine Option mehr. Seine Darstellung des digitalen Wahlkampfes von Barack Obama 2012 als Lehrstück dokumentiert eindrucksvoll, wohin die politische und gesellschaftliche Reise geht. Die tatsächliche Berechenbarkeit des Menschen und die damit verbundene enorme Eingriffstiefe der Datensammler in das konkrete Leben werden sehr anschaulich präsentiert. Die theologische Frage, die sich mit diesen Entwicklungen verbindet, betrifft die Rede von der Freiheit des Menschen: was bleibt von ihr übrig, wenn der Wille des Menschen ausgeforscht ist? Und wie sieht ein Glaube aus, der sich unter den digitalisierten Lebensbedingungen die Erlösung des Menschen zum Ziel gesetzt hat?

Empfehlung: Helmut Aßmann


Wie hast du's mit der Religion, Matthias?

Claudius und die Gretchenfrage
VON Georg Gremels

Paperback: 224 Seiten,
Verlag: Francke-Buchhandlung GmbH; 
Erschienen im September 2014

Matthias Claudius – Pastorensohn, Journalist, Familienvater, Spaßvogel, Dichter, Denker, Kritiker, Freund, Schriftsteller und Original. Beharrlich stellt er in seinen Werken die altbekannte Gretchenfrage: „Wie hast du’s mit der Religion?“ 200 Jahre nach seinem Tod ist diese Frage so aktuell wie eh und je. Der Bote aus Wandsbek steht dafür ein, dass Denken und Glauben nicht im Streit liegen müssen und dass Frömmigkeit und Lebensfreude zusammengehören. In Briefen an einen kritischen Zeitgenossen nähert sich der Autor Georg Gremels diesem Dichter und kommt seiner Person und seinem Werk auf die Spur.

Mit einem Vorwort des Wandsbeker Pastors Richard Hölck.

Text: Verlag Francke-Buchhandlung GmbH


Zwei Herren am Strand

von michael köhlmeier 

Gebundene Ausgabe: 256 Seiten,
Verlag: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG; Auflage: 10 (25. August 2014)

Winston Churchill und Charlie Chaplin – zwei Giganten der Weltgeschichte, so unterschiedlich wie nur möglich und doch enge Freunde. Der eine schuf als weltberühmter Komiker das Meisterwerk "Der große Diktator", der andere führte mit seinem Widerstandswillen eine ganze Nation durch den Krieg gegen Adolf Hitler. Michael Köhlmeier hat mit dem Blick des großen, phantasievollen Erzählers erkannt, was in diesem unglaublichen Paar steckt: die Geschichte des 20. Jahrhunderts zwischen Kunst und Politik, Komik und Ernst. Der arme Tramp und der große Staatsmann, in diesem verblüffenden Roman des berühmten Autors aus Österreich erleben sie die Geschichte des Jahrhunderts.

Text: Carl Hanser Verlag