Osmose
10. november 2025
Unter Osmose versteht man gemeinhin das allmähliche Eindringen oder Einsickern von kleinen Teilchen durch halbdurchlässige Schichten und Grenzen in ein anderes Medium. Für die Zellbiologie ist das von zentraler Bedeutung. Osmotische Prozesse sind demgemäß langsam, nicht abrupt, ohne große Kollateralereignisse, so ähnlich wie der Zucker sich – ohne Löffelrühren – langsam in den Kaffee auflöst und ihn am Ende süß macht. Auf diese Weise kommen und gehen die Jahreszeiten, die Wachstumsepisoden von Mensch und Tier, der Klimawandel. Kein Krach, keine Explosion, keine wummernde Revolution. Ach ja, und bei kollektiven Bewusstseinsprozesse geht es ebenso zu. Man kann es an den Sprachveränderungen und Umgangsformen studieren. Mit dem Einzug der AfD beispielsweise haben sich Wortwahl und Haltung im parlamentarischen Prozess vulgarisiert. Stichwort „Vogelschiss“. Nicht nur parteiintern, sondern übergreifend. Bis in die Berichterstattung hinein, zwangsläufig, denn es wird zitiert, gegen Zitate polemisiert, überboten und persifliert, der polarisierenden Phantasie sind ja keine Grenzen gesetzt. Und als wäre das nicht genug, steuern auch der US-Präsident und seine Mitstreiter einen wuchtigen Akzent zur verbalen und offenkundig auch der politischen Enthemmung bei. Das alles bleibt nicht ohne Folgen, Osmose ist ein natürliches Ausbreitungsverfahren besonders für offensive Stoffe und Geisteshaltungen. Es fällt nach und nach immer leichter, respektlos, unanständig oder verlogen aufzutreten – die anderen machen es ja auch. In Sebastian Haffners famosem Buch „Tagebuch eines Deutschen“ kann man nachlesen, wie auf diesem Wege peu à peu eine ganze Gesellschaft vermiefen und verrohen, ohne dass es einer einzelnen, großen pädagogischen oder propagandistischen Anstrengung bedürfte. Wenn die großen Hansen anfangen, ziehen die kleinen irgendwann von alleine nach – toxische Osmose sozusagen. Die auf das erste Gehör etwas biedermeierliche Mahnung aus Eph.54 gewinnt auf diesem Hintergrund eine unerwartet politische Dimension: „Schändliche und irre und wegwerfende Reden stehen euch nicht an, sondern stattdessen: Danksagung“.
Helmut Aßmann
----------
Weitere Kolumnen