Mose

15. april 2024

 

 

Der Gesetzgeber vom Sinai hat eine bemerkenswerte Karriere gemacht. Als Hebräer geboren in der ägyptischen Sklaverei, adoptiert als ägyptischer Prinz, verstoßen als Mörder eines Sklavenaufsehers, verschollen in der Wüstenei der midianitischen Landschaft, reaktiviert durch den Allerhöchsten höchstselbst, begabte Führungsperson für den Exodus aus dem ägyptischen Exil. Am Ende ein Mensch, von dem man – wie von keinem anderen – sagt, mit ihm habe Gott geredet wie mit einem Freund. Mose - der Name ist ägyptischen Ursprungs, keine hebräische Bezeichnung. Wie immer man es dreht und wendet: Ein Fremdling in jeder Hinsicht. „Einer von außen“. Aber: Der bringt die Wende. Für die Hebräer zum Guten, für die Ägypter zum Desaster. Die „von innen“ haben aufgegeben, erwarten nichts mehr. Der „von außen“ sieht anders, fragt anders, signalisiert zum mindesten, dass es eine Wirklichkeitsregion neben der alltäglichen und vertrauten gibt. Seine Sendung ergibt sich nicht aus den bekannten und eingefahrenen Routinen. Der Impuls von außen stört, verstört, zerstört, und er öffnet, weitet, erweitert. Eine stets ambivalente Angelegenheit. Die jüdisch-christliche Tradition hat diesen Zusammenhang stets gesehen, geschätzt und gefeiert. Schon Abraham beginnt als Fremder. Immer wieder die Fremden. Im Stammbaum Jesu finden sich ausdrücklich diese Ausreißer. Und der Gottessohn selbst ist ebenfalls vor allem ein Fremder, dem es in der Menschenwelt übel ergeht. Allerdings: auch hier erweist sich die Störung als Heilung, die Verstörung als Erneuerung und die Zerstörung als Gewinn einer neuen Welt.

Helmut Aßmann

 

 


Cannabis

08. april 2024

 

 

Mit dem kürzlich im Bundestag und Bundesrat verabschiedeten Cannabisgesetz wird der private Eigenanbau von Cannabispflanzen durch Erwachsene in begrenzten Umfang für den eigenen Konsum legalisiert. Außerdem wird der nicht-gewerbliche, gemeinschaftliche Eigenanbau von Cannabis in Anbauvereinigungen straffrei gestellt. Schließlich ist der Besitz von bis zu 25 g getrocknetem Cannabis bei Erwachsenen zulässig. Das Ganze ging ab dem 1.4. in Betrieb. In welchen Ländern und wie schnell das gesamte Paket in die Öffentlichkeit kommt, ist wegen anhaltender Kritik und öffentlich geäußerter Skepsis von einigen Ministerpräsidenten keineswegs klar. Erklärtes Ziel der Bundesregierung ist die Entkriminalisierung des Cannabiskonsums und das Ausdünnen der illegalen Produktions- und Verteilernetze. Stärkung des Jugendschutzes ist ein weiteres Anliegen. Alles logisch. Wenn nur die  Menschen es auch wären. In den Niederlanden ist dieses Konzept gescheitert. Die kriminelle Energie des Drogenmarktes hat dort erheblich zu-, nicht abgenommen. Die bange Frage, wer hierzulande den „begrenzten Umfang“ für Privatkonsum eigentlich kontrollieren soll, ist schlankweg unbeantwortbar. Die Idee, mit der Freigabe eine bessere Steuerung des Drogenkonsums herbeiführen zu können, ist, vorsichtig formuliert, verwegen. Die Anlässe, Drogen zu konsumieren, werden durch Entkriminalisierung ja nicht geringer. Es wird nur die Zugänglichkeit leichter. Das gesellschaftliche Drogenproblem ist aber nicht logistischer Art, sondern hat nach Überzeugung von Sozialarbeitern, Psychologinnen und Pädagogen existentielle Ursachen. Den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, war noch nie besonders erfolgversprechend. 

Helmut Aßmann
 

 


Verrat

25. märz 2024

 

 

Dreimal hat Petrus seinen Herrn verraten. Alle Evangelien berichten davon. Dreimal hat er genau das getan, was er geradezu unter Eid nicht zu tun versprochen hatte (Mt.26,29ff. Parr.). Man kann nicht einfach sagen, es sei vorsätzlich geschehen. Man kann allerdings auch nicht sagen, es handele sich um ein Geschick, dem auszuweichen es keine Möglichkeit gegeben hätte. Lukas berichtet sogar davon, dass es einen Blickkontakt zwischen Petrus und Jesus gegeben hätte, unmittelbar nach dem dritten Krähen des Hahns (Lk.22,61). Das muss kaum auszuhalten gewesen sein. Die Hähne auf den Kirchtürmen erinnern an diesen Vorgang: Die Kirche, die in Petrus symbolisch personalisiert ist, verrät den, der sie ins Leben gerufen hat und bis auf den heutigen Tag erhält. Diese tiefe Erkenntnis ist leider weder neu noch  überraschend: Die Spur des Verrats geht bis in unsere Zeit. Immer diese ungeheure Fallhöhe aus der himmlischen Glorie des Glaubens in den Abgrund von irdischer Machtgier und Bosheit. Heute heißt der Verrat vor allem „Missbrauch“. So unscharf und kompliziert die Begriffe auch sein mögen, dokumentieren sie doch ein Versagen von Christen an zentraler Stelle. Der Verrat hört gewissermaßen nicht auf und war nicht auf die historische Stunde des Petrus beschränkt. Er gehört, mehr noch, unheimlicherweise zum Schatten des Glaubens. So wie Judas als ordentliches Mitglied der Jünger oder der Fluch über den armen Feigenbaum (Mt.21,18ff.). Was aber in der heftigen Debatte über den Verrat der Kirche stets zu kurz kommt, ist der Umstand, dass der Verrat Teil der Ostergeschichte ist. Diese endet bekanntlich im Auferstehungsmorgen. Der egalisiert nicht den Verrat. Aber er lässt ihn nicht als finales Thema stehen und beschreibt eine geradezu umstürzende Verwandlung aller Dinge. Wenigstens das gehört noch zur Verratsgeschichte hinzu.

Helmut Aßmann

 

 


Dune

18. märz 2024

 

 

Frank Herberts Science Fiction – Roman „Dune – der Wüstenplanet“ ist wiederholt filmisch verarbeitet worden, zuletzt von dem kanadischen Regisseur Denis Villneuve. Der zweite Teil kam Ende Februar 2024 in die Kinos. Immerhin mit der raunenden Ansage, dass dieser Film das Zeug hätte, ein „Kultfilm“ zu werden, so wie etwa die „Matrix“ der Wachowski-Geschwister aus dem Jahr 1999. So jedenfalls die Rezension von NDR-Kultur. In der Internet Movie Database (IMDb) steht er bereits auf Platz 10 der 250 bestbewerteten Filme (Stand 4.3.2024). Die audiovisuelle Wucht des Streifens ist in der Tat bemerkenswert. Der breit in Szene gesetzt Ritt des Protagonisten Paul auf einem der gigantischen Sandwürmer ist von rasanter, mitreißender Dynamik. Die Handlung ist so elementar und realitätsnah wie nur irgend denkbar: Russland gegen die Ukraine. Im Film: Die stets in der sympathischen Minderzahl, aber clever und listig auftretenden „Fremen“ gegen die bösen, machtbesessenen und stets in der theoretischen Überzahl einfliegenden „Harkonnen“. Dazwischen gibt es nichts. Die einfallslose Brutalität, mit der die gesichts- und schmucklosen Unholde aus der Harkonnenwelt in die sympathische inszenierte Wüstenlandschaft der Fremen einbrechen, -rücken und -poltern, ist irgendwie der Realität abgeschaut. Filmisch ein Verschnitt aus Star wars und Avatar, ist es ideell ein Kapitel aus der Abteilung „ultimativer Kampf Gut gegen Böse“. Die Lust, mit der diese relativ schlichte Perspektive in den Film eingeschrieben wird, steht allerdings mit der wirklichen Welt auf Spannung. Derart eindeutige Zuschreibungen gibt es bei genauerem Zuschauen in der Regel nicht, und, um es noch ein wenig delikater zu machen, die Inanspruchnahme solcher eindeutigen Zuschreibungen macht den Umgang mit den Konflikten der realen Welt auch nicht leichter. So gern man den blassgesichtigen, brutalen und irgendwie blöden Harkonnen auch alles Böse an den Hals wünschen möchte, so wenig gibt es sie in dieser klaren Gestalt, die Harkonnen.

Helmut Aßmann

 

 


‏Rote Linien

11. märz 2024

 

 


‏Die Deutschen können zwar keinen Krieg mehr führen, aber ihre Waffen sind immer noch erste Güte. U-Boote, Panzer, Korvetten und – nun auch noch der Marschflugkörper Taurus. Um ihn hat sich ein nicht enden wollender Streit erhoben, ob die Lieferung an die Ukraine nicht endgültig den Eintritt Deutschlands in den Ukraine-Krieg bedeutet und die mysteriöse „rote Linie“ überschreitet. Es stehen komplizierte Debatten um sicherheitspolitische, militärische, technische und logistische Sachverhalte im Hintergrund, die am Ende von Menschen entschieden werden, die sich auf ihre Experten und ihr politisches Gespür verlassen müssen. Sie haben gar keine andere Wahl. Die Datenlage ist zu komplex. „Mit dem Taurus könnte man die illegal errichtete Krimbrücke zwischen Russland und der Halbinsel zerstören …“ So raunt man in den ukrainefreundlichen Kreisen und ist wohl irgendwie dankbar, dass man selbst nicht am Schalter oder in der Kommandozentrale sitzt. Aber was bedeutet es, wenn der Marschflugkörper von einer deutschen Phantom-Maschine  abgeworfen wurde? Wer lädt welche Verantwortung auf sich, und welcher Name wird sich womöglich dauerhaft mit einem katastrophalen Ereignis des Krieges verbinden. Die Taurus-Debatte dokumentiert eindrücklich, wie kompliziert der Umgang mit den sogenannten „roten Linien“ tatsächlich ist. Kurz gesagt: Auch rote Linien sind bei näherem Zusehen nicht einfach klar. Sie sind vielmehr flächig. Je genauer man sie unter die Lupe nimmt, um so unsicherer wird man in der Bestimmung, wo genau sie nun wirklich anfangen und wann man wirklich auf der anderen Seite angelangt ist. Es ist deswegen kein Wunder, dass mancherorts schon davon gesprochen wird, man müsse sich nun auch einmal planerisch mit der Atomoption befassen … Ganz unabhängig von der Lieferung des Taurus.

Helmut Aßmann

 

 


‏Pre-owned

04. märz 2024

 

 

Herrliche Morgengabe auf dem Weg zu meinem Büro. Zalando offeriert pre-owned Jeans zu einem besonders günstigen Preis. Früher hießen derlei Dinge „gebrauchte Kleidung“ – das dokumentierte schon im Namen, dass es sich hier um zweitklassige, sozusagen notdürftige Bestände handelt, die für Portemonnaies gedacht sind, denen eben keine stärkeren Finanzen zur Verfügung stehen. Spätere Zeiten machten aus den „gebrauchten“ Sachen dann „secondhand“ - Güter, eine weitaus vorteilhaftere Bezeichnung, denn im Fokus steht bei dieser Formulierung eine ethische Qualität: Die Dinge werden nicht weggeworfen, sondern von Hand zu Hand weitergereicht, so ähnlich wie früher mehrere Geschwister nacheinander die verschiedenen Strampler, Jacken oder Lederhosen „aufgetragen“ haben, oftmals ganz unabhängig vom Geschlecht. Mit heutigen Werturteilen gesprochen, wurde auf diese Weise Nachhaltigkeit geübt, ressourcenschonendes Leben praktiziert und aktiv Rücksicht auf die finanzschwächeren Teil der Bevölkerung genommen. Aus dieser Zeit stammen die Secondhand-Läden mit so klingenden Namen wie Zweimalschön oder ähnlich. Um auch diese Profitlücke zu schließen, nun also ein dritter Versuch: Pre-owned. „Vorbesessen“ auf Holperdeutsch. Das soll sich so anhören, als wäre es eine Art Adel, die diesem Kleidungsstück zukommt und an dem man nach Ankauf desselben in irgendeiner geheimnisvollen Weise Anteil nimmt. Es könnte ja sein, dass irgendein nobler Hintern schon in dieser Hose gesessen oder mit ihr sein erstes Liebesglück erlebt hat. Man muss ja nicht gleich die Jeans von Brad Pitt kaufen, es reicht, sich derlei vorzustellen. Und schon verfügt das Tuch über einen Mehrwert, den Zalando umgehend in Geldwert umrechnen kann. Die nächste Steigerung kommt bestimmt. Mein Vorschlag: Last choice – die finale Verwendung der Hose. Als Mehrwert die Ehre und einzigartige Verantwortung, der letzte eine Reihe von Trägern zu sein und damit so etwas wie Vollzugsbeamter eines Sterberituals.
Ein paar Last choice Klamotten könnte ich gerne feilbieten …

Helmut Aßmann

 

 


Sünderinnen

26. februar 2024
 


‏Eine merkwürdige Sprachgewohnheit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten im Zuge der Debatten über gendergerechte Sprache eingeschlichen. Es gehört zum rhetorischen Standard, nicht mehr im generischen Maskulinum von „Christen“ zu sprechen, sondern selbstverständlich von „Christinnen und Christen“, Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmern“ oder „Bürgerinnen und Bürgern“. Das macht die Reden leider oft unangenehm lang, und manchmal auch nicht unkomisch: Des Bundeskanzlers Verschleifung von „Bürgern und Bürgern“ ist ja mittlerweile legendär. Interessanterweise wird die ansonsten sorgsam beachtete Differenzierung aber in negativ besetzten Titeln und Substantiven eher sparsam angewendet. „Sünderinnen und Sünder“ hört man eher selten von Kanzeln und Kathedern. „Mörderinnen und Mörder“ sind ebenfalls sparsam verwendete Äußerungen. Das betrifft auch alle anderen mehr oder weniger drastischen Strafrechtstatbestände. Ganz entsprechend ist von Ukrainerinnen und Ukrainern gern die Rede, aber eigentlich nie von Russinnen und Russen. Diktatorinnen, Lügnerinnen, Aufschneiderinnen – Fehlanzeige. Es scheint, als fiele es uns leichter, die negativ konnotierten Titel und Bezeichnungen eher für das generische Maskulinum aufzuheben denn in gleichberechtigter Version darzustellen. Sicher, das entspricht vermutlich – wenigstens gefühlt – den tatsächlichen Proportionen in den in Betracht kommenden Personalfällen; genau deswegen dürfte sich diese sprachliche Unwucht auch so ungefragt und unaufgeregt einstellen. Aber es wird auch deutlich, mit welchen Voreingenommenheiten jede sprachliche Innovation daherkommt und wieviel ideologische Fracht auch beim allerbesten Gleichberechtigungswillen zu erkennen ist. Wir Menschen sind auch in unseren unangenehmen Eigenschaften nicht besonders verschieden. Das gilt es – jenseits von exklusiver oder generisch maskuliner Sprache – aus Erfahrung. 

Helmut Aßmann

 

 


Wochenende

20. februar 2024

 

Ist der Sonntag der letzte Tag der alten oder der erste Tag der neuen Woche? Keine einfache Frage. Bleibt man bei der Zuschreibung des Sonntags als dem Auferstehungstag und dem damit einhergehenden Anbruch einer neuen Schöpfung, so handelt es sich um einen Anfangstag. Bleibt man in der Tradition des Ruhetages als Abschluss des Schöpfungswerkes, wie es im alttestamentlichen Buch der Genesis berichtet wird, so steht der Sonntag am Ende der Woche. Der Sabbat als jüdischer Feiertag fällt zwar auf den Samstag – daher hat er auch seinen Namen, eine Lautverschleifung im Laufe der Jahrhunderte. Aber in der jahrhundertelangen christlichen Tradition ist er zu einem Werktag geworden und hat seine Ruhequalität an den Sonntag abgetreten. Dass es so etwas wie ein Wochenende gibt, ist freilich eine relativ neue Erfindung. Ich selbst, Jahrgang 1958, bin noch als Pennäler am Samstag in die Schule gegangen. Insofern ist das Wochenende als Erholungsgesamtpaket erst eine Frucht der letzten Wohlstandsjahrzehnte, aber es bietet eine interessante Perspektive für eine religionsübergreifende Deutung: Dem Samstag als Sabbat steuern die jüdischen Geschwister bei, den Sonntag als „Tag des Herrn“ bieten die Christen auf. Ende und Anfang der Wochen sind damit zu einem Ereignis zusammengeschlossen, in dem die alte in die neue Schöpfung hineinläuft und ihr den Stab der Verheißungen Gottes übergibt. Woche für Woche. Man sollte das nicht nur als Erholung verbraten, um sich dann wieder ins Arbeitsgetriebe zu stürzen, sondern vielmehr als Ausblick auf das große Panorama der Freundlichkeiten Gottes genießen. Woche für Woche.

Helmut Aßmann

 

 


Genozid

12. februar 2024

 

Es ist absurdes Theater. Israel ist von der Republik Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen Völkermordes an den Palästinensern angeklagt worden. Völkermord – das Wort ist von dem jüdischen Juristen Raphael Lemkin geprägt worden, der im Auftrag der Vereinten Nationen die dem Verfahren in Den Haag zugrunde liegende UN-Genozid-Konvention entworfen hat. Israel wird also vorgeworfen, im Gaza-Krieg einen Genozid zu begehen, trage sich folglich mit der Absicht, auf direkte oder indirekte Weise „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, so der Originalton der ersten Definition. Welchen Tatsachen wird diese ungeheure Zuschreibung entnommen? Dass Südafrika als Ankläger mit seinen Erfahrungen aus der Apartheid in besonderer Weise sensibel auf Ausgrenzungen und Diskriminierung reagiert, ist nachvollziehbar. Aber auf die Idee, dem Apartheidsregime Völkermordabsichten vorzuwerfen, ist in den 80er Jahren auch niemand gekommen. Und dass es sich bei der israelischen Siedlungspolitik nicht um eine menschenrechtssensible Maßnahme handelt, ist ebenfalls offenkundig. Wie man allerdings auf dem Hintergrund des Massakers vom 7.10.2023 und in Anbetracht der allen Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts zuwiderlaufenden Strategien der Hamas zu einem Genozid-Vorwurf kommen kann, ist damit noch nicht erklärlich. Ebensowenig wie der Umstand, dass dieses närrische Treiben nach Recht und Ordnung einfach ablaufen kann, als handele es sich um ein Stück von Samuel Beckett. Möglicherweise, so der schlimme Verdacht, ist der Antisemitismus nicht nur ein spezifisch deutsches oder europäisches, sondern ein globales Phänomen. Das Christentum ist einst als jüdische Sekte gestartet, das sollten wir deswegen nie vergessen.

Helmut Aßmann

 

 


Floodtubes

03. februar 2024

 

Niedersachsen ist nicht so bekannt für Naturkatastrophen, es sei denn, es regnet am Harz lange und viel. Dann ergießen sich die Wassermassen über kleine Flüsse und Flüsschen, die vorzugsweise über Aller und Weser in die Nordsee entwässern. Neuerdings werden an einigen Flussläufen über 50 Meter lange sogenannte Floodtubes ausgelegt, rote Röhren mit etwa 50 cm Durchmesser, die mit Wasser gefüllt, tonnenschwer sind und hervorragend die Böschungshöhe gegen die Fluten erhöhen. Keine Sandsäcke nötig, die dann in Massen als Sondermüll entsorgt werden müssen. Tolle Einrichtung. Über Neujahr wurden einige von diesen bitter notwendigen Flutverhinderungsinstrumenten vorsätzlich zerstört. Das hat eine ähnliche Wahnsinnsaura wie die Behinderung von Notfallsanitätern, Feuerwehrleuten und Polizisten. Das, was man im Notfall selber in Anspruch nehmen würde, wird, aus welchen Motiven und unter welchen Drogen auch immer, für andere ruiniert. Argumentativ ist bei solch einem Vorgang nichts zu machen. Es handelt sich auch nicht um Aliens mit heruntergeregeltem IQ. Normale Menschen sind die Verursacher, vielleicht ein wenig bekifft oder alkoholisiert, aber keineswegs immer. Das Unheimliche dieser verstörenden Verkommnisse entsteht aus der rein zerstörerischen Ambition, der sie zu entspringen scheinen. Zu konstatieren, dass es derlei wirklich gibt, sollte zum eisernen Bestand unserer Wirklichkeitswahrnehmung gehören. In aller pflegerischen Mühe um eine funktionierende Zivilgesellschaft bleibt der alte Hinweis in Geltung: Leute, vergesst die Sünde nicht. Auf sie ist immer Verlass …“

Helmut Aßmann

 

 


Blockade

22. januar 2024

 

Das Aufmacherbild unserer kleinen Provinzzeitung, die den Mantelteil vom großen Madsack-Konzern bezieht, zeigt, mit Teleobjektiv aufgenommen, den gewaltigen Traktorenaufmarsch am 15.1. in Berlin. Fahrtrichtung Brandenburger Tor. Das Symbol der deutschen Einheit verstellt, verrammelt durch endlose Schlangen von landwirtschaftlichen Fahrzeugen. Da kommt niemand mehr durch. Die Paradestraße der Bundeshauptstadt – ein Demonstrationsparkplatz. Eine eindrucksvolle Kulisse. Sie zeigt, mit wie wenig Aufwand das Land lahmgelegt werden kann. Als Großbeispiel von freier Meinungsäußerung in einer rechtsstaatlich organisierten Gesellschaft wunderbar. Als Wetterleuchten, wie man sich mit gezieltem Machteinsatz dieselbe Gesellschaft gefügig machen kann: furchtbar. Ob jemand seinen Interessen Aufmerksamkeit verleihen möchte oder den Fortgang von Diskurs und Kompromissbemühung blockiert, macht einen feinen, aber gemeinen Unterschied. Im ersten Fall will man „etwas“ bewegen, im zweiten jemanden erdrücken. Es war keine Kleinigkeit, dass es bei dem Aufmarsch in Berlin nicht um die Herstellung neuer Gesprächsgänge ging, sondern um eine Machtdemonstration, zu was im Ernstfall die versammelte Lobby in der Lage wäre. Derlei ist gerade in Mode. Piloten und Lokführer haben es vorgemacht. Apotheker, Ärzte, Müllwerker, Bedienstete der kommunalen Stadtwerke könnten folgen. Tun sie hoffentlich nicht. Aber in die feinen Haarrisse des Vertrauens in die Demokratie fließen auch die giftigen Beimengungen der Demokratiefeinde. Mit dem Ziel, aus der Blockade eine Demontage zu machen. Der Geist der Verständigung und des Ausgleichs ist eine kostbare Ressource. Und gebunden an Menschen aus Fleisch, Blut und Seele, nicht an Institutionen. Also Leute wie Du und ich.

Helmut Aßmann

 

 


Bahnstreik

17. januar 2024

 

 

Ab dem 9. 1., so hatte es die Gewerkschaft der Lokführer (GdL) unter der Leitung ihrer Galionsfigur Claus Weselsky per Urabstimmung beschlossen, waren wieder große, diesmal auch längerfristige Streiks im Bahnbetrieb möglich. Zugegeben, es gibt nicht viele Betriebe, deren Bestreikung so massiv ins öffentliche Leben eingreift wie es bei der Deutschen Bahn der Fall ist. Manche Stimmen sprechen von einer Geiselnahme der ganzen Gesellschaft. Nicht nur die üblichen Beeinträchtigten wie Berufspendler und Arbeitgeber oder Touristen kommen dabei auf einige Kosten, auch das ohnehin angekratzte, besser: ziemlich verbeulte Image des Bahnverkehrs als Hoffnungsträger für eine klimaschonende Zukunft der Mobilität nimmt weiteren erheblichen Schaden. Selbst bei dienstlichen Fahrten sind etliche Betriebe wieder dazu übergegangen, das Auto zu benutzen, um den permanenten Ausfällen und Ausreden an den Bahnsteigen zu entkommen, auch wenn sie sich dann die Staus ein als alternatives Aufhaltungsprogramm einhandeln. Immerhin ist man aber nicht umgeben von übellaunigen oder überlauten Zeitgenossen, die ihr Bewegungsbulletin irgendwelchen Gesprächspartner als breaking news zu übermitteln suchen. Zu glauben freilich, dass die Bestreikung der ohnehin mit streikender Technik, Infrastruktur und Personalversorgung kämpfenden Bahn einfach nur als Arbeitskampf wahrgenommen wird, ist mutig. Eventuell auch dumm. Als die Babylonier 587 v.Chr. mit ihrem Heer vor Jerusalem standen, fiel den Belagerten auch nicht viel Besseres ein, als in der bedrohten Stadt einen Bürgerkrieg vom Zaun zu brechen. Gewisse Formen von moderater Suizidalität kommen nie aus der Mode.

Helmut Aßmann

 


Epiphaniasweihnachten

8. januar 2024

 

 

Weihnachten ist eine komplizierte Sache. Nicht nur was die Fragilität des Familienfriedens unter dem Druck divergenter Erwartungen anlangt. Auch der Termin selbst hat seine Tücken. Wer sich in den kirchlichen Traditionen nicht so auskennt, wird sich wenigstens darüber wundern, dass zu Epiphanias am 6.1. nicht nur die Ankunft der legendären Heiligen drei Könige aus dem Morgenland gefeiert wird, sondern in den orthodoxen Kirchen auch ganz handfest Weihnachten, das Fest der Geburt Jesu. Ohne auf die im einzelnen wirklich sehr verwickelten Streitigkeiten einzugehen, die im Hintergrund dieser merkwürdigen Differenz stehen, lässt sich aus dem schieren Tatbestand ersehen, dass die Ankunft des Erlösers offenbar eine Angelegenheit ist, die mit einem einzigen Datum nicht abgegolten werden kann. Ein anderer Vergleich belegt es an ganz anderer Stelle: In den westlichen Kirchen mit dem 24.12. als Weihnachten findet die Geburt in einem Stall statt. Jede Weihnachtskrippe macht das anschaulich. Die östlichen Kirchen, insbesondere in den Darstellungen der Ikonen lassen das Wunder der Menschwerdung in einer Höhle stattfinden. Auch hier ist ein definierter Ort offenbar nicht ausreichend, um die Räumlichkeit der Ereignisse zu fassen. Was dem ersten Blick als widersprüchlicher Befund erscheint, ist dem zweiten ein Gewinn: Die Geburt Jesu ist ein überschießendes Ereignis, räumlich wie zeitlich, es bricht aus den historischen Konkretionen aus. Man kann, genau genommen, sogar nie ganz sicher sein, ob solch eine Erscheinung möglicherweise auch hier und jetzt in meiner unmittelbaren Umgebung stattfinden könnte. Einfacher formuliert: Weihnachten ist ein ewiger Vorgang.

Helmut Aßmann

 


Dating

3. januar 2024

 

 

Vor einer Generation „ging“ man „miteinander“, wenn eine Liebe dabei war, sich irgendeine nach außen erkennbare Gestalt zuzulegen. Händchenhalten, Küsschentausch, sowas. Etwas formaler wurde es sprachlich mit der Formulierung, eine „Beziehung“ zu haben. Das war natürlich auch vorsichtig formuliert, denn der Aussagewert bestand vornehmlich darin, einen qualifizierten Kontakt zwischen Gesellungsphase und Ehevertrag anzuzeigen, mit Optionen weiterer Entwicklung nach oben wie nach unten. Mit der weiter ausgreifenden Diversität der Gesellschaft wurden polyamore und multiple Beziehungsformate gängig und sagbar. Etwas, worüber sich unsere Eltern noch hätten schwere Vorwürfe wegen missglückter Erziehungsresultate machen müssen. Vermutlich um sich aus dem unübersichtlich wuchernden Beziehungsgeschäft ein wenig heraushalten zu können, hat seit einigen Jahren ein neuer Begriff Karriere gemacht. Das Dating. Jemanden „daten“ heißt, sich mit ihm oder ihr zu „vereinbaren“, einen Termin abzumachen. Zwar gibt es keine Beziehungen ohne gemeinsame Termine, aber es gibt natürlich Termine ohne Beziehungen im überkommenden, traditionellen Sinne des Wortes. Jemanden daten heißt also nicht, eine Beziehung zu haben, sondern Verabredungen zu treffen, die von Termin zu Termin neu gebucht werden, also keiner beziehungsweisen Selbstläufigkeit entsprechen. Man weiß nicht genau, ob das angesichts der allüberall vernehmlichen Beziehungsdesaster ein Akt moderner Klugheit und emotionaler Fürsorge ist oder ob es in die Abteilung sozialer Selbstüberlistung gehört. Man beachte allerdings, dass die neudeutsche Weisheit „No risk no fun“, zu deutsch: Wer nichts wagt, der nichts gewinnt, mit großer Wahrscheinlichkeit durch solch ein Vorläufigkeitsdating nicht außer Kraft gesetzt ist.

Helmut Aßmann

 


Besinnlichkeit

18. dezember 2023

 

 

Ich oute mich als gelegentlicher NDR1 – Hörer. Für Nicht-Norddeutsche: Auf diesem Sender haben meine Eltern Egerländer Blasmusik gehört, und ich höre ABBA, Emerson, Lake & Palmer oder Slade, eben das, was zu meiner Jugendzeit so angesagt war. NDR 1 fühlt den Puls der 50+ Leute, also mein Milieu. Unlängst wurde eine der dortigen Alltagskolumnen mit der Frage befüllt, wie man Weihnachten mit Besinnlichkeit zuverlässig so aufladen kann, dass man sie auch wirklich merkt, die Besinnlichkeit, also echt jetzt, nicht nur so herbeigeredet. Ein eigens eingeladener Psychotherapeut wies darauf hin, dass man beispielsweise Geschenke eben ziemlich rechtzeitig kaufen sollte und ein Terminplan für die Besorgungen aufgestellt werden könnte, rechtzeitig natürlich. Die Tannenbaumspitze müsse zudem ja nicht unbedingt lotrecht sitzen, und statt der ausverkauften goldenen Glaskugeln könnten es ja auch mal blaue sein, um sich keinen Stress zu machen. Auch das Weihnachtsessen müsse nicht zwangsläufig die kulinarischen Grenzen der diensthabenden Köche überschreiten, und das allfällige Herumgesause in der Verwandtschaft sei möglicherweise auch nicht zwingend. Kurzum: Das Kulturgut Besinnlichkeit wurde unter den verschiedensten therapeutischen und praktischen Gesichtspunkten bedacht. Mit einem bewegenden Ergebnis: Besinnlichkeit ist das, was entschwindet, wenn es auf Weihnachten zugeht. Auch der Grund war relativ einfach auszumachen: Die Anstrengungen, um Weihnachten zu dem zu machen, was den eigenen oder fremden Erwartungen entspricht, kollidieren notwendigerweise mit der Hoffnung, diese Anstrengungen einmal nicht aufwenden zu müssen, um Weihnachten zu genießen. So kompliziert ist das …

Helmut Aßmann

 


Lokstedter Weihnacht

11. dezember 2023

 

 

Die Kindertagesstätte „Mobi“ in Lokstedt meinte es bestimmt gut, als sie in einem Brief an die Eltern ankündigte, aus Rücksichtnahme auf nicht- oder andersgläubige Kinder den allfälligen Tannenbaum zur Advents- und Weihnachtszeit nicht auf-, aber, natürlich, den Kindern Adventsbasteleien und besinnliche Weihnachtsatmosphäre in Aussicht zu stellen. Empörungswütig, wie sich die zivilgesellschaftliche Lage derzeit präsentiert, waren sofort giftige und ehrabschneidende eMails und Postings bei der Hand, um den Initiatorinnen dieser rücksichtsvollen Maßnahme den adventlichen Marsch zu blasen. Grund genug, so eine Posse per Regenbogennachrichten als Meldung zu präsentieren und in diesen Zeilen mit einem durchaus verstörten Kommentar zu versehen. Denn wie es gehen soll, Weihnachten und Advent von seiner christlichen Abkunft zu trennen, ohne es zu kulturell zu entsorgen, ist mir nach wie vor schleierhaft. Da helfen auch Elbenohren oder Rentierkronen bei Supermarktmitarbeiterinnen inhaltlich nicht wirklich weiter. Dass der Tannenbaum darüberhinaus neuerdings als christliches Kraftsymbol zur Rettung abendländischer Identität herhalten soll, finde ich ebenfalls etwas überdreht. Schließlich ist der Hinweis auf ein mögliches Störgefühl bei den armen KiTa-Kindern wegen eines Tannenbaums ein so mächtiges Indiz für die Unsicherheit des Erziehungspersonals in Sachen Religion und Kultur, dass sie einem schier leidtun können. Osterhasen, Pfingstochsen, Johanniskraut, Knecht Ruprecht und ein Bierkasten zum Vatertag als nachkirchliche Kulturgüter - mehr ist in dieser Spielekiste nicht drin. Eine derart lahme, geheimnislose und abgekämpfte Weihnachten kann einen wirklich dazu bringen, ab dem 24.12. für ein paar Tage nach Teneriffa abzufliegen. Das Kind in der Krippe läuft ja nicht weg …

Helmut Aßmann

 


Mietgefühle

27. november 2023

 

 

Auf dem Münchener Flughafen: Der Autoverleiher SIXT bietet seine Oberklasse-Wagen als Träger von gemieteten Gefühlen an. Also kein Auto, sondern ein Gefühl für ein paar Stunden mieten. Nun ist das erst einmal keine große Einsicht. Werbung für Luxusartikel versucht schon immer ihre Objekte als Träger von Lebensgefühlen darzustellen. Ob es nun der berühmte Marlboro-Mann mit seiner verbeulten Kaffeetasse am Lagerfeuer nach Sonnenuntergang ist, das HB-Männchen aus der Nachkriegszeit oder auch das „kühle“ Jever, das im kühlen Seewind wahlweise an Bord oder nach dem Surfritt im arschkalten Nordseewasser verabreicht wird – immer transportiert das beworbene Produkt mehr als nur elementare Bedürfnisse. Der Clou bei SIXT aber ist die Sache mit der Miete. Herkömmliche Oberklassehersteller setzen auf Futurismus, woke Familiengestaltung, lässiges Understatement oder bräsiges Premiumbewusstsein – aber als Lebenshaltung, Daseinsstimmung, als angeeignete Atmosphäre. Dass man derlei haben wollen soll, war schon immer klar. Aber dass man auf die Idee kommen könnte, es sich einfach nur zu leihen, für ein paar Stunden oder Tage, und dass allein das Gefühl schon ausreicht, das da mietweise hinzukommt, wissend, dass das alles nur ein „als ob“-Status ist, nichts Festes, Beständiges, Zugehöriges – das markiert durchaus eine bedeutsame Differenz. Mieten, nicht haben. Teilen, nicht besitzen. Das liest sich fast wie ein verkappter Werbeclip für einen reduzierten Lebensstil. Oder wie Zynismus, wenn man es übel auslegt. Oder, das muss man betrübterweise hinzusetzen, als ein grandioser Unsinn: Als ob man Gefühle nach Ende der Leihfrist irgendwem wieder abgeben könnte …

Helmut Aßmann

 


Obergrenzen

14. november 2023

 

 

Da ist sie wieder, die Diskussion über Obergrenzen. Diesmal aus relativ prosaischen Gründen: Den Kommunen gehen Geld, Bauland, Integrationskräfte und Menschen aus, um dem Begleitungs- und Eingliederungsaufwand für die flüchtenden Menschen, die nach Deutschland kommen, gerecht zu werden. Das ist ganz jenseits aller ideellen und ethnischen Debatten, die sich an den extremen Rändern der politischen Meinungsbildung so gern entzünden. Denn mal ganz praktisch: Wie soll es gehen, dass Menschen aus einem anderen Kulturkreis, mit einer anderen Religion, einer fremden Sprache und mit einer fast immer schweren Belastung durch Flucht, Gewalt oder Verfolgung in unserem Land heimisch werden können? Sprache: Wer lehrt das? Religion: Wer schafft gegenseitiges Verständnis? Kultur: Wie wird das deutsche Gesellschaftsmodell einsichtig gemacht? Erziehung: Wer kümmert sich angemessen um die schulische und elementarpädagogische Begleitung? Wie werden Rollenverständnisse, kritische Argumentation, historische Tiefenprofile vermittelt? Wer kann die Traumata, Verstörungen und Belastungen verantwortlich „aufarbeiten“, wie das so leichthin formuliert wird? Wer soll all das leisten in einer Gesellschaft, in der der Anstieg psychischer Erkrankungen regelmäßig Gegenstand alarmistischer Berichterstattung ist? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie und von wem diese gewaltigen Anstrengungen gemeistert werden sollen. Auch gesellschaftliche Kräfte sind limitiert. Man merkt das am Versagen von Infrastruktur, Verwaltung, Sozialisation, Bildung und öffentlicher Debattenkultur. Das Codewort „Obergrenze“ markiert vor allem dies: Es gibt eine Limitierung. Dies als nationalistische Entgleisung zu denunzieren, bedarf es eines ordentlichen Maßes an Wirklichkeitsverweigerung. Denn zwar ist die Liebe unendlich, aber nicht der Mensch, der liebt, noch die Kraft, sie zu vollziehen. Es gibt, man mag es kaum ausdrücken, eine fromme Gotteslästerung, die sich als liebende Maßlosigkeit maskiert.

Helmut Aßmann

 


Wahlaufruf

14. november 2023

 

 

Auf dem eher trostlosen, aber rauchfreien Hildesheimer Hauptbahnhof strebe ich zu meinem Fahrrad, um nach Hause zu fahren. Vor dem Ausgang bläst mir ein junger Mann, sichtlich orientalischer Herkunft, seine Zigarettenabluft fast unmittelbar ins Gesicht. Kurzes Innehalten meinerseits, ich gehe zu ihm und frage ihn, ob er das Rauchen nicht draußen pflegen könne, es sei, wie er gewiss wisse, ein rauchfreier Ort. Seine Replik ist relativ schlicht: „Was willst du? Soll ich dich schlagen?“, allerdings tritt er deutlich zwei, drei Schritte zurück. Ein ebenso ergebnisloser wie langweiliger Gesprächsgang schließt sich an. Mit allerhand Beschimpfungen und Drohungen bedenkt er meinen Vorschlag, es doch einfach bei der Sache mit dem Rauchen draußen zu belassen. Seine dabeistehenden Kumpel einschließlich einer freundlich dreinschauenden sehr jungen Frau bemühen sich ihrerseits eher lahm, mich vom Thema und Interesse abzubringen. Noch einmal ein tiefer, provokativer Ausstoß von Zigarettenqualm, dann fliegt die Kippe auf dem Boden. Ich bleibe stehen und gehe einen Schritt auf ihn zu. Er weicht hektisch aus und schreit mich an: „Dann wähl doch AfD!“ Bei diesem Wahlaufruf merke ich, welche Tiefenresonanz mein eher moralischer Verweis besitzt. Es geht mir um den Dreck und die Hausordnung. Er sieht in mir die Verkörperung des migrationsphobischen deutschen Spießers. Dazwischen klafft eine mächtige Verständnislücke, die zu schließen ich am Ende eines Arbeitstages weder Zeit noch Lust habe. Also hebe ich seine Kippe auf und trolle mich, eher kopfschüttelnd über uns beide. Seinem Wahlaufruf folge ich nicht. Aber wieviel Aufwand es kosten würde, auch nur einen qualifizierten Kontakt mit dem jungen Mann aufzunehmen, bleibt eine Frage, die ich schwer loswerde.

Helmut Aßmann
 


Predigtpreis

02. november 2023

 

 

Luisa Neubauer, deutsche Ikone von FFF (Friday for future) hat in diesem Jahr den sogenannten Ökumenischen Predigtpreis für ihr „Lebenswerk“ erhalten. Zur Begründung konstatiert die Jury, dass Neubauers Reden und Denken „mehrere zu religiösen Kontexten wie existentiellen Fragestellungen strukturanaloge Leitmotive“ (so aus dem Bericht der Evangelischen Zeitung) enthielten. Darin sieht sie einen wichtigen Beitrag für die Predigtkultur der Gegenwart in der globalen Klimakrise „für die Gesellschaft insgesamt“. Der Predigtpreis geht zurück auf die Initiative des evangelischen Unternehmers Norman Rentrop aus Bad Godesberg, der damit einen Anreiz für eine wirkungsmächtige Predigtkultur setzen wollte, und wird maßgeblich unterstützt vom Verlag am Birnbach/ Westerwald, der sich vielfach im Bereich von christlicher Kleinliteratur, aber auch Verbreitung christlicher Kunst engagiert. Er wird seit 2000 jährlich an der Universität Bonn verliehen. Die Kategorie „Lebenswerk“ dürfte im Falle von Frau Neubauer zwar ein wenig hochgegriffen sein bei einer Laureatin, die keine 30 Jahre alt ist, aber gut, Leute wie Jimi Hendrix, Amy Winehouse oder James Dean haben auch im Alter von 27 Jahren bereits ihre Leistungsklimax erreicht und konnten dann nicht einmal die Ehrung zu ihrem Lebenswerk eigenhändig in Empfang nehmen. Was genau allerdings „Leitmotive“ sind, die zu religiösen Kontexten und existentiellen Fragestellungen als „strukturanalog“ bestimmt werden können, erschließt sich dem Leser nicht besonders konkret. Sind es die ökologisch-apokalyptischen Unheilsszenarien, die da angepeilt sind, oder die handfesten moralisch-ethische Attitüden, die in den öffentlichen Auftritten aufgerufen werden? Schwer zu sagen. Freilich, angesichts der geringen Zahl an Predigten, die von Frau Neubauer bekannt sind, und eingedenk des Dringlichkeitswertes, den der Klimawandel im evangelischen Diskurs einnimmt, handelt es sich wohl weniger um einen Predigtpreis für das Lebenswerk als um einen Aktualitätspreis für öffentliches Engagement. Das ist auch wichtig, aber etwas anderes.

Helmut Aßmann

 


500 Tote

23. oktober 2023

 

 

Die Hamas wurde 1987 gegründet, als militanter Arm der sogenannten Muslimbruderschaft. 2007 übernahm sie gewaltsam die Herrschaft über den Gaza-Streifen und verdrängte die zur PLO gehörende Fatah mittels eines blutigen Überfalls. Seit 2001 beschießt sie regelmäßig Israel mit Raketen aus Stellungen, die vorzugsweise in der Nähe von Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern und anderer sozialer Infrastruktur positioniert sind. Selbstmordattentate, Entführungen und derlei Gewaltakte gehören zum Handlungsbesteck dieser Terrororganisation. Nun wird kolportiert, Israel habe ein Krankenhaus bombardiert und 500 Todesopfer unter Zivilisten dabei in Kauf genommen. Die Nachricht kommt von der Hamas. Umgehend verbreitet durch alle möglichen Medien und Nachrichtendienste. Weltweit helle Empörung und Gewalt auf den Berliner Straßen. Die Gegendarstellung der israelischen Regierung hört sich in den Berichterstattungen zwangsläufig stets so an, als würde sie die Wahrheit über die 500 Toten verschleiern. Da helfen alle Beteuerungen, Bilder und seriöse Gesten nichts. Mit anderen Worten: Die PR der Hamas ist vorzüglich sortiert. Und auch viel leichter als die der Israelis ins Werk zu setzen. Bei allen Hamas - Attacken ist ein Schwarm von „Journalisten“ zugegen, um die geeignetsten Bilder zu generieren. Sollten die nicht reichen, wird kurzerhand irgendwie verfügbares Bildmaterial verwendet. Denn eine dreiste Lüge ist eben schneller bei der Hand als der Nachweis von Fakten. Wenn sich derlei in den Köpfen festsetzt, braucht man mit Argumenten und Differenzierungen nicht mehr anzufangen. Eine steile Behauptung wirkt besser als ein schlapper Beweis. Was soll man angesichts dieser asymmetrischen Informationslage tun. Wäre ich ein Israeli, würde ich Psalm 124 beten. Jeden Tag.

Helmut Aßmann

 


Durchhalten

17. oktober 2023

 

 

Eine dieser Tugenden, die in saturierten Gesellschaften allmählich verloren gehen. Nicht, weil sie unbrauchbar geworden wäre, sondern weil es zu den Errungenschaften einer Dienstleistungsgesellschaft gehört, möglichst rasch auf Bedürfnisse jedweder Art zu reagieren und Widerstände oder Mangelsituationen reflexhaft zu umgehen. Von glutenfreien Keksen bis zu gefühlsintensiven Masturbatoren – was einer meint, das er braucht, sollte umgehend zur Verfügung stehen. Und wenn einer etwas erfunden hat, von dem man meinen könnte, dass irgendjemand es bräuchte, braucht es nur eine geeignete Werbekampagne, um es unter die Leute zu bringen. Durchhalten bekommt in solcher Umgebung rasch den Geruch von Fixierung und neurotischer Wirklichkeitsverweigerung zugeschrieben. Das, was man psychologisch Frustrationstoleranz nennt, gehört unter derlei Lebensgewohnheiten in die Rumpelkammer der Moderne. Wer durchhalten will, hat wahrscheinlich nur den kurzen Weg zum Glück noch nicht gefunden. Dessen Scouting tools sind offenbar unzuverlässig. So eine Alltagstechnik funktioniert, solange sie eben funktioniert. Wer sich aber sein Durchhaltevermögen in paradiesischen Schlaraffenlandumständen abtrainiert hat, bekommt es in Krisenzeiten natürlich nicht schnell wieder ins Alltagsbesteck. Das ist so wie mit den Muskeln oder dem Kopfrechnen – nach längerem Nichtinanspruchnahme kommt es zur realen Inkompetenz. Und bis sie wieder funktionieren, vergeht Zeit für Neuaufbau und Umorientierung. Das ist in der Regel nicht tödlich. Bei der Unterstützung für die ukrainischen Truppen ist es aber anders. Bislang halten wenigstens die durch. 

Helmut Aßmann

 


Dilemma

09. oktober 2023

 

 

Eine der Hildesheimer Gemeinden nannte ein herrliches, in den Hang gebautes, denkmalgeschütztes Pfarrhaus sein eigen. Letzthin waren der Erhalt und die notwendigen Sanierungen so aufwendig geworden, dass die Gemeinde es nicht mehr stemmen konnte und verkaufte. Diese Transaktion ging mit mächtigem Weh und Ach, aber ordnungsgemäß über die Bühne. Aber dann kam das dicke Ende, nicht für die Gemeinde, sondern für den Investor. Ein ebenfalls unter Schutz, eben Naturschutz stehender, gewaltiger Walnußbaum hatte sich so an das Haus gewöhnt, dass er es mit Wurzeln und Astgeflecht schier zu umarmen sich anschickte. Nun gibt es ein Dilemma, aus dem bislang niemand herausfindet. Das Haus kann nicht saniert werden, wenn der Baum nicht wegkommt. Baum oder Haus, das ist nun die Frage. Der Investor hat von seinem Haus bislang nichts – der Baum spendet hingegen unverdrossen seine leckeren Walnüsse. Derzeit starren alle Beteiligten auf das verkeilte Schutzensemble und hoffen, dass es eine Lösung gibt. Ein herrliches Beispiel für die Widersprüchlichkeit unserer Ordnungen und den hinterhältigen Humor der Wirklichkeit.

Helmut Aßmann

 


Neymar

26. September 2023

 

 

Der berühmte Neymar Jr. kickt neuerdings in Saudi-Arabien. Nachdem er 2017 für sagenhafte 222 Millionen Dollar zu PSG, dem französischen Club der Superlative gewechselt hatte, der einem qatarischen Investor gehört, nun also Saudi-Arabien, bis dahin nachweislich ein Fußball-Zwergenland. Neymar ist nicht allein mit dieser Idee. Eine ganze Batterie von Fußballjuwelen bringt der arabischen Welt die hochkarätige Ballartistik bei: Cristiano Ronaldo, Karim Benzema oder Sadio Mané, alles etwas abgehalfterte Fußballrecken gegen Ende ihres maximalen Leistungsvermögens. Nimmt man alle Zuwendungen zusammen, verdient Neymar in Saudi-Arabien zwischen 200 und 300 Millionen Dollar per annum. Das schönste, so haben es die Zeitungen bemerkt, ist diese kleine Posse: Für jeden Post auf social media, in dem „Saudi-Arabien“ vorkommt, soll Neymar sagenhafte 50.000 Dollar erhalten. Da lässt sich‘s leben. Die groteske Wirklichkeitsferne, die mit solchen Summen aufgerufen wird, ist nicht nur beschämend. Sie verdirbt die Lust am Spiel. Hatte früher der englische Stürmer Gary Lineker den Satz geprägt: „Fußball ist ein sehr einfaches Spiel. 22 Leute rennen hinter dem Ball her, und am Ende gewinnen die Deutschen“ (lang, lang ist‘s her …), muss man heute konstatieren: „Fußball ist noch einfacher geworden. 22 Leute rennen hinter dem Ball her, und am Ende kaufen sie die arabischen Investoren“. Dass Neymar in der vorletzten ZEIT – Ausgabe in Schlabberhose, mit Goldkettchen und Sonnenbrille vor dem Privatjet des saudischen Prinzen posierte (eine Boeing 747!!), macht noch etwas weiteres deutlich: Da „oben“, wo es keine normalen Verhältnisse mehr gibt, wird es einsam. Und irgendwie dumm.

Helmut Aßmann

 


Autonomiesorgen

11. September 2023

 

 

Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2020 dem Autonomiebedürfnis moderner Lebensgestaltung eine bedeutende Erweiterung des Geltungsraums zugewiesen: Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Zwar stehen die detaillierten gesetzlichen Bestimmungen noch aus, aber im Grundsatz steht die Angelegenheit. Nun steht ein weiterer, kapitaler Geländegewinn in der Lebenswelt zur Debatte: Das Recht auf Geschlechtsbestimmung. Auch hier ist noch eine ganze Menge von Fragen zu klären, aber die Linie ist vorgezeichnet. Niemand soll mehr sein Geschlecht als schicksalsbestimmt oder gottgegeben anzunehmen haben, sondern entscheiden dürfen, als was er oder sie sich selbst sehen und gesehen werden möchte. Die damit einhergehenden Verwerfungen zwischen dem biologischen, dem sozialen und dem sexuellen Geschlecht, die erwartbaren Missverständnisse und Befremdlichkeiten sowie die Frage nach den juristischen Folgelasten werden zugunsten des erhofften und propagierten Autonomiegewinns als angemessen erachtet. Was zu früheren Zeiten als Mitgift, Geschick oder Bestimmung als äußere Festlegung zu bewerten war – angefangen bei der Haarfarbe über die Auffassungsgabe bis eben zum Geschlecht –, verwandelt sich nach und nach zu einem Gegenstand der persönlichen Entscheidung. Damit ist freilich unweigerlich die Aufgabe verbunden, die persönliche Entscheidung auf der einen und die „natürlichen“ Gegebenheiten auf der anderen Seite in einen lebbaren Einklang zu bringen. Die Haare muss man regelmäßig färben, der langsamere Verstand bleibt langsam, auch wenn man ihn pädagogisch umdeklariert, und das geschlechtsbestimmende Chromosom hat nur eine X- oder eine Y-Gestalt und steckt in jeder Zelle des Körpers. Autonomie hat einen Preis, der zu zahlen ist, einerlei wieviel Rechtsanspruch erhoben wird.
Die Frage ist weniger, wie weit der Autonomieradius erweitert, sondern bis zu welcher Höhe der Preis getrieben werden kann.

Helmut Aßmann

 


Telefonzellen

05. September 2023

 

 

Ich weiß noch, was Telefonzellen sind. Das waren gelbe, abgeschlossene, durch eine meist nicht ganz leicht zu öffnende Tür begehbare Ein-Quadratmeter-Gehäuse, in denen ein Münztelefon hing. So ein Ding hatte gleich mehrere Vorteile. Erstens regnete es nicht herein und es gab keine Windgeräusche. Sodann war, jedenfalls außerhalb der Großstädte ein Verzeichnis der örtlichen Anschlüsse vorhanden, drittens konnte niemand zuhören, es sei denn, es gab eine Veranlassung sowie eine hinreichend schlanke Figur für eine zweite Person. Die Liebesgeschichte mit meiner Frau wurde zu ihren Anfangszeiten nicht unwesentlich über Telefonzellen abgewickelt. Mit dem Aufkommen des Funktelefons, vulgo Handy, sind die Telefonzellen erst zu unüberdachten Telefonsäulen geschrumpft und dann vor etwa 15 Jahren ganz verschwunden. Die Handys wurden allerdings noch viele Jahre lang wie die alten Schnurtelefone ans Ohr gehalten, und in ihrer Frühzeit verließ die telefonierende Person aus naheliegenden Intimitätsgründen den Raum bzw. die Umgebung, um einerseits nicht öffentlich zu werden und andererseits die Menschen in Hörweite nicht zu behelligen. Inzwischen ist der persönliche Intimitätsbedarf weithin entfallen. Man kann an beliebigen Orten ausführlich an Rezepten, Trennungen, Erziehungsproblemen und Arbeitsplatzausstattungen teilhaben. Seit einiger Zeit lässt man nun aber auch den jeweiligen Gesprächspartner lautstark zu Wort kommen, hält das Handy wie eine Eiswaffel vor dem Mund und plaudert unbeirrt und unbedrückt auch über halbkriminelle Vorhaben in der U-Bahn, auf dem Sportplatz oder im Restaurant. Ich gestehe eine Verstörung: Ich möchte beides nicht wissen, weder das, was mein direkter Beisasse, noch das, was sein ferner Telefonpartner in die Leitung gibt. Es tut einem nicht gut, zuviel von anderen Menschen zu wissen. Irgendwie war es doch auch eine schöne Zeit mit den Telefonzellen…

Helmut Aßmann

 


Tooligans

21. August 2023

 

 

Mit dem Begriff „Tooligans“ überraschte mich ein alter Freund, der zur Zunft der Coaches und Berater gehört. Diese Berufsgruppe wird in der Regel angeheuert, um irgendeine verfahrene Situation betrieblicher, existentieller oder auch nur empfundener Art mittels eines erprobten oder gerade brandneuen Konzeptes wieder gängig zu machen. Im Maschinenraum dieses Konzepts befinden sich dann die „Instrumente“, zu neudeutsch „tools“, mit deren Hilfe man beratungsseitig dem Übelstand aufzuhelfen gedenkt. Tools zur Hebung der Motivation, zur Fehlervermeidung, zur Beschleunigung von Prozessen oder Optimierung von Leitungshandeln. Die „Tools“ sind die eigentlichen Glücksbringer, denn sie versprechen der Sache nach eine Lösung des in Rede stehenden Problems, und Sache des Beraters ist es, die richtigen Tools an den richtigen Einsatzort zu bringen. Das kann mit etwas Glück und Geschick durchaus gelingen. Heikel an diesem Verfahren ist der Umstand, dass es in etwa so funktioniert wie ein Hammer. Wenn jemand den nicht gut bedient oder einfach alles, was bearbeitet werden soll, für einen Nagel hält, dann gibt's hinterher allerhand an Scherben zu beseitigen. So einfach das Verfahren ist, so hoch sind die nachlaufenden Kosten. Es hilft nichts, zwischen der verfahrenen Situation und dem Tool steht eine typisch menschliche und unverzichtbare Bemühung: Das Verstehen, und zwar nicht nur des Tools, sondern der Umgebung und des Systems, in dem es eingesetzt werden soll. Der Verzicht auf diese Bemühung macht aus dem Berater eine Tooligan. Hätte Gott sich damals nicht selbst auf die Erde begeben, um die Umgebung und das System „menschliches Leben“ zu verstehen, wäre vermutlich auch etwas anderes herausgekommen als das Kreuz. Diese Form von theologischem „Tooliganism“ ist uns Gottseidank erspart geblieben.

Helmut Aßmann

 


Freispruch?

21. August 2023

 

 

Das Muster ist erkennbar ähnlich. Kevin Spacey, Luke Mockridge, Till Lindemann – alles Männer, denen im Rahmen der #MeToo-Bewegung sexuelle Verfehlungen vorgeworfen werden. Spacey ist nun von einem englischen Gericht in allen Punkten freigesprochen worden. Der entstandene Schaden an Leumund, Vermögen und Selbstwert ist schwer zu schätzen, auf jeden Fall irreversibel. Mockridge ist ebenfalls aus der Schusslinie und noch jung an Jahren und könnte seine Rehabilitierung vielleicht selbst noch erleben, auf jeden Fall aber mit vorantreiben. Pläne zu einem Comeback gibt es bereits. Lindemann, der Mann mit dem vorsätzlich und programmatisch erworbenen schlechtesten Ruf in dieser Dreierrunde, steht noch vor gerichtlichen Verfahren. Aber die öffentlichen Urteile sind gefällt, wie auch immer die gerichtlichen Entscheidungen ausfallen. Die auf derlei Vorkommnisse eingestellten Medienformate präsentieren ebenso genüsslich wie moralinschwanger Fakten, Vermutungen und Behauptungen in einem konsumgefällig verrührten Infobrei, den man sich nach Gusto einzuverleiben eingeladen wird. Nun, kann man sagen, so war es immer. „Rufschädigung“ bzw. „Verleumdung“ und „Üble Nachrede“ haben es ja eben deswegen in den Rang eines Straftatbestandes gebracht (§186 StGB) und verbergen sich der Sache nach bereits im 8. Gebot (nach lutherischer Zählung) vom Berg Sinai. Klatsch und Tratsch sind der Abrieb jeder menschlichen Kommunikation. Außerdem gilt: „Wo Rauch ist, ist auch Feuer“. So mag der sprichworterfahrene Zeitgenosse denken. Allerdings ist hinzuzufügen, dass zwar Rauch und Feuer zusammengehören, aber damit noch nicht wirklich ausgemacht ist, wo genau es brennt. Wenn zuviel Qualm die Sicht vernebelt, ist es ratsam, abzuwarten, bis man wieder präziser hinschauen kann. Dazu sind Gerichte da, keine Gerüchte.
Ach ja: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“ – auch so ein Merkspruch aus alter Zeit …

Helmut Aßmann

 


Vereinfachung

31. Juli 2023

 

 

„Kooperieren Sie nun mit der AfD oder nicht?“ Caren Miosga stellte diese einfache Frage in den „Tagesthemen“ an den Präsidenten des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager (CDU), nachdem die Übernahme des Landratsamtes im sächsischen Kreis Sonneberg durch den AfD-Kandidaten Robert Sesselmann nach der Stichwahl am 25.6. nachhaltig und anhaltend Anlass zu grundsätzlichen politischen Positionsbestimmungen gibt. Herr Sager wollte dann einen feinen Unterschied zwischen Zusammenarbeit und Kooperation umständlich herbeidifferenzieren. Ist ihm nicht gelungen. Geht auch nicht. Nun ist Herr Sesselmann Landrat in Thüringen, gewählt in einem demokratischen Verfahren, von mündigen Bürgern. Die „Brandmauer“, von der auf bundespolitischer Ebene von konservativer Seite so gern die Rede war, ist damit augenblicklich zusammengefallen. Denn, bitteschön, was soll man als politischer Mandatsträger denn machen, wenn es um Kreisstraßen, Schulsanierungen, Kläranlagen und Bauflächenvergaben geht, die sich nicht um parteipolitische Ideen ranken, sondern um Aufrechterhaltung öffentlichen Lebens? Aus den Kreistagen ausziehen? Straßen blockieren? Kann man machen. Muss sich dann aber über die folgenden Entwicklungen auch nicht wundern. Unbedacht war weniger die Merz’sche Ankündigung, dass es auf kommunalpolitischer Ebene durchaus zu Kooperationen zwischen CDU und AfD kommen könne (entsprechende Dresche hat es dann ja in hinreichender Menge gegeben), sondern die Beschwörung der Brandmauer selbst. Sehenden Auges etwas für unmöglich zu erklären, was höchstwahrscheinlich unausweichlich wird, ist schon eine bemerkenswert unausgegorene Wirklichkeitsverweigerung. Im Laufe der biblischen Geschichte ist sogar Gott selbst mit solchen Aussagen vorsichtiger geworden. Dass, um auf das Interview zurückzukommen, Frau Miosga die hochsensiblen Findungsprozesse in dieser aufgeregten Situation auch noch mit solch unterkomplexen Sekt-oder-Selters-Fragen meint sinnvoll beleuchten zu können, ist auf einer anderen Ebene betrüblich. Aus den erkennbar objektiven Verlegenheiten von Verantwortlichen billige Unterhaltungserfolge zu erzielen, finde ich nicht anständig, um diesen altertümlichen Begriff – ebenfalls etwas unvorsichtig – ins Feld zu führen.

Helmut Aßmann

 


Zucchini

24. Juli 2023

 

 

Ein merkwürdiges Gemüse. Zu verdanken haben wir das, wenn ich die botanischen Vermerke überfliege, den Italienern, die den amerikanischen Gartenkürbis zuchtweise zucchinisiert haben. In unserem Hochbeet haben wir den leichtfertigen Versuch unternommen, einer Zucchini neben einem Hokkaido-Kürbis Lebensraum zu verschaffen. Einfache Einsaat. Und immerhin, Kürbisgeschwister. Da sollte man nichts Konfliktives vermuten. Die Kenner werden wissen, was nun passiert(e). Die Zucchini entwickelt sich schnurstracks zu einem beachtenswerten Gestrüpp, neben dem der arme Kürbisbruder nicht den Hauch einer Chance hatte. Unmengen an Zucchini-Material können wir nun verkosten. Hokkaido-Geschmack ist auf nächstes Jahr vertagt, jedenfalls was die Eigenernte angeht. Das ist nicht ohne theologischen Hintersinn. Man fragt sich, zumindest ich mich, warum etwas derartig Geschmackloses und Unförmiges wie eine Zucchini eine solchen Wachstumsfuror noch im selbstgebastelten Hochbeet entwickelt. Das hochexplosive Genmaterial steht in gar keinem vernünftigen Verhältnis zu seinen geschmacklichen Möglichkeiten. Was an Zucchini schmeckt, ist drangestreut, drübergeschüttet oder angebraten worden. Es gibt offenkundig Schöpfungsgegenstände, die nicht kraft eigener Finesse oder unmittelbar erfreulicher Eigenschaften Eingang in die zivilisierte Welt finden, sondern nur auf dem Wege von intensiver Bearbeitung und am Ende (wahrscheinlich) eher als Deko denn als Nahrungsmittel (ich habe jedenfalls noch niemanden getroffen, der mir bestätigt hätte, das Zucchini nach irgendetwas schmeckte). Aber Gott ist ja klug. Nicht alles liegt auf der Hand. Bei manchen Lebewesen muss man sich die Bedeutung erst noch erarbeiten oder sie kraft eigenen Einfallsreichtum herstellen. Ob es bei der Zucchini gelungen ist, wird sich vermutlich noch weisen. Einstweilen wüsche ich diesbezüglich munteren Appetit!

Helmut Aßmann

 


Zutrauen

17. Juli 2023

 

 

Zutrauen – ein eigenartiges Wort, und ein eigenartiger Vorgang. Wer jemandem etwas zutraut, glaubt nicht nur, dass die betreffende Person etwas zu tun, zu denken oder zu vollbringen in der Lage ist, sondern trägt ihr das – jedenfalls dem Willen und Grundsatz nach – auch an. Sie kann es vermutlich nicht nur, sie sollte es auch tun. Oder wenigstens ist man einigeraßen sicher, dass es ihrem Wesen oder Charakter entsprechen dürfte, das Zugetraute in die Tat umzusetzen. Dass man jemanden etwas zutraut, ist auch nicht auf ethisch einwandfreie oder moralisch herzeigbare Ansinnen beschränkt. Manchem Zeitgenossen möchte und würde man auch allerhand Böses zutrauen. Dass Zutrauen weniger einen beschreibenden denn einen energetisierenden Impuls freisetzt, kann jeder an sich selbst studieren: Wenn die Menschen, auf deren Urteil man Wert legt, einem das Vorhaben, von dem man ihnen berichtet hat, nicht zutrauen, bedeutet das auf der Stelle eine Einbuße an Lust, Motivation und Leidenschaft. Ein Abschlag an positiver Energie, der nicht unter Geringfügigkeit abzubuchen ist, sondern durchschlägt in den Maschinenraum der eigenen Lebenskraft, um es einmal technisch auszudrücken. Kinder benötigen das Zutrauen ihrer Eltern, Sportler das Zutrauen ihrer Trainer und Politiker das Zutrauen derer, die sie gewählt haben. Zutrauen geht auf ein Vermögen, Vertrauen auf eine Beziehung. Zutrauen braucht nicht notwendigerweise ein Vertrauen als Basis, das Zutrauen kann auch aus dem Abstand erteilt werden. Dem HSV etwa traut man den Aufstieg in die Erste Bundesliga kaum noch zu, der russischen Militärführung traut man indessen alles Bösartige zu. Wenn aber Ver- und Zutrauen zusammenkommen, dann verdoppelt das den Auftrieb des Lebens. Egal wie alt man ist. Einerlei, um welche Angelegenheiten es sich handelt. 
Es ist in diesem Zusammenhang eine ganz eigene Frage, was Gott dem Menschen zu- und ob er ihm vertraut.

Helmut Aßmann

 


Heiliger Eifer

10. Juli 2023

 

 

Aus der antiken Vorgeschichte Europas ragen zwei große Säuberungsaktionen von mythischem, ja ewigem Rang heraus: Die Ausmistung der Augiasställe durch den Halbgott Herakles (seine 5. Aufgabe) und die Tempelaustreibung durch Jesus, den Gottessohn. Die Herkulesaufgabe wurde zwar sprichwörtlich, ebenso wie die Tempelaustreibung, aber aufgrund der besonderen Hintergrundgeschichte, die Stellung von 12 abenteuerlich-sportlichen Aufgaben als Bußleistung für den Mord an seinen drei Söhnen, blieb dieser Vorgang nicht anschlussfähig für heutige Verhältnisse. Anders ist es mit der Reinigung des Tempels zu Jerusalem. Jesus hatte in heiligem Furor die Tische und Stände der Opferverkäufer und Geldwechsler umgestoßen und sie der Stätte verwiesen, aus der sie nach seiner Wahrnehmung einen Markt statt eines Bethauses gemacht hatten. Wollte man das auf heutige Verhältnisse übertragen, hieße das, all die Verkaufsstände und Devotionalienhändler, Buchecken und Zeitschriftenständer aus den Kirchen und Domen hinauszuwerfen, und, vertrackterweise, damit auch einen wichtigen Motivationsfaktor für den Eintritt in die Gebetshäuser der Christenheit. Nun wird Jesus das Schicksal der Kirche, die sich auf ihn berufen würde, nicht im Sinn gehabt haben, aber eines muss man wohl eher seinem geistlichen Eifer als seinem Verstand  zurechnen: Übersehen zu haben, dass zu einer ordentlichen Religion auch so etwas wie eine kaufmännische Seite gehört, die nicht gegen Gott gerichtet, sondern an den menschlichen Bedürfnissen großer Menschenmassen orientiert ist. Puristischer Eifer ist zwar in der ersten Runde stets imponierend, aber wehe, die darin vertretenen Anliegen haben Erfolg. Dann muss, ob gewollt oder nicht, der Menge Tribut gezollt und damit dem Verkaufsstand ein Raum zugestanden werden. Und man täusche sich nicht: Handel zieht die Leute vor die Altäre. Was dann geschieht, ist indessen vor allem Gottes Sache. Und viel mehr kann man als religiöser Mensch kaum wollen…

Helmut Aßmann

 


Monothematik

03. Juli 2023

 

 

Der Klimawandel wird alle Menschen betreffen. Keine Frage. Dass den politischen Entscheidern entsprechender Handlungsdruck aufgenötigt werden muss, steht außer Frage. Vertrackterweise ist aber der Klimawandel gegenwärtig nicht das einzige drängende Thema. Die weltweite Bildungsungerechtigkeit und die damit verbundenen Folgewirkungen sind von ähnlichem Kaliber. Die ebenso langweiligen wie gefährlichen geostrategischen Verschiebungen der Großmächte kommen dazu. Von der ruinösen Finanzsituation ganz zu schweigen. Nun kann man natürlich daherkommen und ein Ranking aufstellen, welches der Themen zuerst und welches zuletzt zu behandeln sei. Oder aber feststellen, dass alle aus einem einzigen Thema heraus verstanden werden müssten. Mit dem Ziel, sich kraftvoll oder rücksichtslos dieser einzelnen Fragestellung zu widmen. Das ändert an der elenden Tatsache nichts, dass derzeit alle diese großthematischen Aufgaben gleichzeitig bearbeitet werden wollen – und müssen. Die Komplexität der Sachverhalte steht dem Willen, eine eindeutige Zielorientierung vorzunehmen, stets im Wege und kann nur um den Preis einer gewaltsamen Unterdrückung der anderen Themen  umgesetzt werden. Das erklärt die Aggression, die Gruppen wie „Last Generation“ und andere offensive Klimaaktivisten auf sich ziehen. Nicht als persönliche Angriffslust, sondern als strukturellen Widerstand. Je verbissener monothematische Zielstellungen verfolgt werden, um so wahrscheinlicher ist die Radikalisierung ihrer Vertreter, und jeder Widerstand vertieft die Verbissenheit, bis am Ende gelegentlich sogar die Zielstellung verraten wird: Statt der Rettung oder Realisierung einer Idee geht es dann um die Vernichtung derer, die sie nicht teilen wollen. Im Extremfall müssen dann andere dran glauben, wenn der eigene Glaube unter die Räder gekommen ist. Davon ist die Radikalität Jesu wohltuend unterschieden.

Helmut Aßmann

 


Lewitscharoff

28. Juni 2023

 

 

Eine Meldung im Feuilleton und den Nachrichten war es allemal wert. Die Büchner-Preisträgerin von 2013, Skandaltante von Dresden 2014 und streitbare Schrifststellerin Sybille Lewitscharoff ist im Mai im Alter von 69 Jahren nach langer Krankheit verstorben. Sie gehört zu der Reihe von Autoren, die sich immer wieder, zuverlässig und spitz über Fragen von Tradition und Glauben in ihren Werken geäußert hat. Das war und ist deswegen so bemerkenswert, als sie sich nie gescheut hat, die von den Theologen und Kirchen eher vorsichtig behandelten Themenstellungen aufzurufen. Ich selbst wurde Zeuge einer handfesten Attacke auf einen amtsführenden Bischof, der verlauten ließ, bei der Bibel handelte es sich zunächst um eine literarische Größe, die so behandelt werden müsse wie die Odyssee oder Dantes Göttliche Komödie. Sie fiel dem Theologen ins Wort und bestritt leidenschaftlich, dass die weltweite, jahrtausendelange Wirkungsgeschichte der Bibel, ihr ewigkeitlicher thematischer Rahmen, die Tradition von Schriftauslegung und Meditation von der Schrift abgelöst werden könnte, als wäre es nur eine Oberfläche wie ein Gewand. Sie selbst, schon gezeichnet von ihrer Krankheit, gab der Wochenzeitschrift DIE ZEIT ein langes Interview über ihre Vorstellungen von nachtodlicher Existenz und hielt das eschatologische Büro mitnichten für geschlossen. Im Gegenteil: Die alten Geschichten vom Gericht über die Bösen, von der Vergeltung für alles Unrecht, das Menschen und allen Lebewesen angetan wird, und von einem Trost, der den Mühseligen und Beladenen des hiesigen Lebens zustatten kommt, waren für sie nicht leere Versprechungen zur Selbstbeschwichtigung, sondern Eckdaten einer begründeten Hoffnung. Man muss nicht alles, was sie als selbstbezeichnetes „Provokationskäschperle“ (L. über L.) von Stapel gelassen hat, für bare Münze nehmen, aber mit ihr eine sprachgewaltige und mutige Glaubensgenossin an der Seite zu haben, ist einen großen Dank wert. Und auch die Verwunderung, dass aus diesen Schriften und Büchern immer wieder mehr Glaubensmut und Munterkeit herausspringt als aus kirchlichen Freundlichkeiten.

Helmut Aßmann

 


Feigenbaum

20. Juni 2023

 

 

Es gibt in den Evangelien eine besonders kuriose Geschichte, in der Jesus aus dem Affekt heraus einen Feigenbaum verflucht (Mk.11). Kurios sind dabei drei Dinge. Zum einen, dass sich der Gottessohn überhaupt zu einer solchen Zornesgeste hinreißen lässt. Zum zweiten, dass der banale Anlass ein Hungergefühl war, dem allein deswegen durch den armen Feigenbaum nicht abzuhelfen war, weil die Feigenerntezeit schlicht noch ausstand. Und drittens, weil der Fluch nachhaltige Wirkung hatte. Nach Mk. 11 war er nach diesem spirituellen Frontalangriff bis in die Wurzel verdorrt. Der Evangelist Markus bemüht sich eilfertig, diesen Vorgang als ein Anschauungsbeispiel für Glaubensstärke und innere Überzeugungskraft zu interpretieren, redet von einem Glauben, der die sprichwörtlichen Berge versetzen könne. Die Verstörung, dass hier ohne Not und ohne Sinn dem Feigenbaum der Saft abgedreht wurde, wird durch dieses durchsichtige Interpretationsmanöver eher noch zugespitzt als ausgemerzt. Denn, immerhin, Jesus hätte ebensogut dem fruchtlosen Gewächs auch flugs ein paar Feigen auf die Äste segnen können. Das wäre auch eine neue Gattung Naturwunder gewesen. Ist aber nicht so gekommen. Bis heute müht man sich ab mit dem Verstehen, was denn in den Gottessohn gefahren sein muss, dass er sich so vergessen konnte. Der Feigenbaum hat es mit dieser Geschichte zur Ehre ewiger Überlieferung gebracht und lässt uns mit einer ebenso unbeantwortbaren wie tiefsinnigen Frage zurück: Ziemt es sich für eine heilige Gestalt, etwas Unsinniges, Banausenhaftes, ja, nachgerade Ungehöriges zu tun, nur wegen niederer, einfacher, sozusagen vegetativer Bedürfnisse? Nach der Lektüre der Evangelien muss man sich entscheiden: Entweder man schaut sich die Sache selbst an oder hält sich an den Verstehensvorschlag seiner Interpreten. Interessanter ist auf jeden Fall der erste Zugang.

Helmut Aßmann

 


Fixierungen

13. Juni 2023

 

 

In den vergangenen zwei Jahren haben sich China und Russland in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit des Westens begeben. Zum einen durch einen aggressiven Wirtschaftsfeldzug um den ganzen Globus herum, um möglichst viele Staaten und Regionen abhängig von chinesischem Einfluss zu machen. Zum anderen durch einen brutalen militärischen Überfall, der in einer solchen Form für das 21. Jahrhundert in dieser Weltgegend gar nicht mehr für möglich gehalten worden war. Beide identifizieren den „Westen“ und namentlich dessen harten Kern, die USA, als eigentlichen Adressaten ihrer Aktionen. Der „Westen“ seinerseits reagiert erwartungsgemäß in derselben Logik: Alles tun, damit diese beiden Diktaturen nicht irgendeine Art von Weltherrschaft übernehmen. Der Instrumentenkoffer reicht von unfreundlichen diplomatischen Akten bis zu F 16 Kampfjets, deren Übergabe an die Ukraine inzwischen mehr als wahrscheinlich geworden ist. Über diesem Säbelrasseln und Drohgesten, über den Leichenbergen und der wirtschaftlichen Repressalien geht der Blick auf das Ganze des Planeten verloren. Die Meere. Das Klima. Die Migrationsströme. Die Ausplünderung der Ressourcen. Die Verblödung durch social media. Alles Beifang, wenn es um die zentrale Fixierung geht: Die Schwächung und Entmachtung des jeweiligen Gegners. Die Feindeslogik bringt einen Tunnelblick hervor, dem das Ganze unsichtbar wird, am Ende auch egal ist, weil der Gegner im Fokus steht. Staunend ist hier zu verfolgen, wie eine Menschheit sich aufreibt an vergleichsweise schlichten Machtkämpfen, obwohl alle wissen, dass wir deutlich wichtigere Probleme haben als großrussische, großchinesische oder großtürkische, auch groß-US-amerikanische Phantastereien zu bedienen. Die Feindeslogik ruiniert die Wahrnehmung. Es ist die Aufgabe des Glaubens, sich von der zwingenden Härte dieser Logik nicht bange machen zu lassen.

Helmut Aßmann

 


Himmelfahrt

22. Mai 2023

 

 

Der Feiertag, der den Namen „Christi Himmelfahrt“ trägt, ist vorüber. Aufräumen ist weithin angesagt. Der ganze Müll der feiernden Gesellschaften wird von den Ordnungsagenten der Kommunen und Kreise eingesammelt und seiner weiteren Verarbeitung zugeführt. Wie auf Erden so im Himmel … Wollte man sich vorstellen, wie der auferstandene Christus sprichwörtlich gen Himmel fährt (Kinder malen derlei ja gern mit Raketenantrieb oder vergleichbaren Flughilfen zur Freude der Kindergottesdienst- oder Grundschullehrerinnen), dann hätte er ein nicht unbeachtliches Problem: Die Kollisionsgefahr mit den über den Wolken und dem Firmament herumfliegenden, z. T. auch -irrenden Satelliten und anderen technischen Himmelskörpern wäre keineswegs gering. Die Vermüllung der Erdatmosphäre oberhalb der Tropopause ähnelt etwa dem Stand eines normalen Stadtparks nach dem Abzug der Saufkohorten, die den Vatertag in sein Recht gesetzt haben. In den Himmel zu fahren heißt eben auch, irgendwie mit dem ganzen Erdenprüll nach oben zu kommen. Der russische Astronaut Juri Gagarin hatte Anfang der 60er tatsächlich erwogen, ob er mit einem Engel oder einem spirituellen Himmelskörper zusammentreffen könnte, und war ganz erleichtert, dass er Gott und die himmlischen Heerscharen nicht zu Gesicht bekam. Heutigentags sind wir einen – auch geistlichen – Schritt weiter. Wir fragen uns nicht so sehr, wo sich denn die Himmelsbevölkerung versteckt haben könnte, sondern drängender, wer uns den ganzen Müll, den menschliches Leben anhäuft, wieder entsorgen und beiseite räumen könnte. Plastikflaschen und Einweggrills geht ja noch, aber der ganze Rest??
Zeit also, der Himmelfahrt einen anderen Sinn zu geben: Das entropische Aufkommen des Lebens in Hände zu geben, die damit etwas anfangen können. Arbeit genug für den Auferstandenen.

Helmut Aßmann

 


Elementarisierung

08. Mai 2023

 

 

Aus guten Gründen, Diskriminierungen zu vermeiden und möglichst ohne kommunikative Barrieren miteinander in Kontakt zu kommen, ist leichte Sprache derzeit ein wichtiges Thema. Komplizierte Sachverhalte sollen soweit „elementarisiert“ werden, dass auf zusätzliche Schleifen und Fußnoten jenseits des Fließtextes und der gesprochenen Rede verzichtet werden kann. Nun ist die Sache mit der Elementarisierung leichter gefordert als eingelöst. Man kann es sich an den Elementarteilchen klarmachen. In den vergangenen hundert Jahren hat man versucht, durch Zertrümmerung von Materie herauszubekommen, welches die Elementarteilchen der Welt nun mal sind. Physikalische Elementarisierung sozusagen. Gewaltiger Aufwand ist da betrieben worden. Das Ergebnis ist allerdings so nüchtern wie bemerkenswert. Es gibt irgendwie keine kleinsten Teilchen, sondern, wenn man genau genug hinschaut, sind es Felder statt Teilchen, Wahrscheinlichkeiten statt Tatbestände. So ein Elektron hat auch eine Struktur, aber die kann man nicht materiell auflösen. Je präziser die Beobachtung, um so vielschichtiger das Ergebnis. So ähnlich wie wenn man versuchen würde, eine Seele aus dem Körper herauszuoperieren. Geht nicht. Wenn Elementarisieren heißen sollte, dass man das Überflüssige weglassen und nur die Substanz, den Kern herauspräparieren möchte, wird das Unternehmen fehlgehen. Wirklich überflüssig ist nur wenig. Wenn überhaupt irgendetwas diesen Tatbestand erfüllt. Sollte allerdings Elementarisierung darin bestehen, sich der Mühe einer Komplexitätssteigerung zu unterziehen, dann sieht die Sache anders aus. Aber, zugegeben, dann kommen wieder Worte ins Spiel, die missverständlich, vieldeutig, gelegentlich ambivalent sind. Sinn, Seele, Gutes und Böses, Energie, Liebe, samt den zugehörigen Verben, die natürlich bevorzugt zu verwenden sind. Elementarisierung ist ein schweres Geschäft. Aber notwendig, nicht nur wegen der der Barrierefreiheit, sondern auch wegen der Mühe um eine angemessene Erfassung dessen, was gesagt werden muss.

Helmut Aßmann

 


Menschenmangel

02. Mai 2023

 

 

Das Frauengefängnis in Hildesheim sucht nach Aufseherinnen. Die Privatbahn erixx, eine der zahllosen Expatriierungen ehemalig hoheitlich verfasster Mobilitätsanbieter, wirbt seit Jahren um Lokführer, Bahnbegleiter und überhaupt Menschen, die für eine einigermaßen routinierte Abwicklung des Bahnverkehrs im Großraum Hannover sorgen. Fachkräfte fehlen, Pastorinnen und Pastoren, Verwaltungsangestellte, Politiker, ach, es fehlt einfach an der wichtigsten Ressource in allen Branchen überhaupt: Menschen. Und das bei angesagter und verifizierbarer Überbevölkerung auf dem Globus bei 8 Milliarden. Wie kommt’s? Die Antworten sind einfach. Die einen wurden gar nicht erst geboren. Die fehlen schon mal grundsätzlich. Die anderen können in den arbeitsteiligen und sehr spezifischen Arbeitsumgebungen einfach nicht mithalten, aus welchen Gründen auch immer. Die Dritten, immer umstritten in der Angabe des Größenumfangs, wollen nicht mitmachen, leben von staatlichen Transferleistungen, machen sich einen schlanken Fuß oder verweigern sich vorsätzlich der Dynamik des „Systems“. Zusammen gibt das einen stattlichen Fehlbestand an Gestaltungs- und Unterstützungskraft in der bundesdeutschen Gesellschaft Mitte der 20er Jahre. Da hilft auch keine Gehaltserhöhung oder die Präsentation von Goodies wie Umzugskostenübernahme, Nahverkehrstickets oder Wohnungsgestellung. Es sind und bleiben zu wenig Menschen, Gesichter, Personen. Dahinter steckt kein verschwörerischer Entvolkungs- oder Überfremdungsplan, wie manche Phobiker vermuten. Die Sichtweite unserer Urteile ist immer kleiner als die Tragweite unserer Entscheidungen. So etwas kann eben immer mal passieren, im Großen wie im Kleinen. Die verzweifelte Suche nach einem Schuldigen für diese seltsame Ressourcenverknappung beim Rohstoff „Mensch“ läuft ins Leere. Das waren und sind wir alle. Es ereilt uns die Konsequenz einer Vergangenheit, deren Zukunft wir uns anders vorgestellt haben. 
Das Schöne an dieser prekären Lage: Wir müssen uns fragen, was der Mensch eigentlich ist, wozu er sein Leben führt und wieviel Ausstattung bzw. Klimbim es braucht, um ein Leben als „menschlich“ etikettieren zu können. Diese Diskussion wird interessant.

Helmut Aßmann

 


Altlasten

24. April 2023

 

 

Unlängst wurden bei Straßenbauarbeiten in Laatzen, südlich von Hannover wieder einmal tonnenschwere Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entsorgt, einer durch Entschärfung, zwei durch kontrollierte Sprengung. Im Ergebnis sind die Bomben beseitigt, aber um den Preis massiver Beeinträchtigung lokaler Infrastruktur. Brücken, Bundesstraßen, Straßenbahnen mit kräftigen Löchern, Rissen und Verformungen. Im Umfeld großer Städte ist das bekanntermaßen kein Einzelfall, sondern gehört zur Routine. Kampfmittelbeseitigungsfirmen haben auf die nächsten Jahrzehnte hinaus ausgesorgt. Tausende Tonnen Kampfmittel liegen nach wie vor in den Böden der Städte, und jedes größere Bauprojekt muss gewärtig sein, dass die Räumung der Bauplätze von Weltkriegsmaterial einen stets nicht genau bezifferbaren Mehraufwand an Kosten für den Projektträger bedeutet. Altlasten, die nun bald 80 Jahre alt sind. Es handelt sich dabei eben nicht um behäbige Möbelstücke für die museale Abteilung unserer Kultureinrichtungen, sondern um explosive, gefährliche Hinterlassenschaften, die einem jederzeit um die Ohren fliegen können. Lässt sich das als Metapher für die Verfassung der deutschen Zivilgesellschaft lesen? Gefahrgut im Tonnageformat im Untergrund unserer Wohn- und Verkehrsgebiete, jederzeit aktivierbar? Machen wir uns nichts vor: Das Wort „Altlasten“ suggeriert nur so etwas wie eine Bearbeitungsaufgabe. Mit Mühe und Beharrlichkeit bekommt man derlei auch hin. Worum es aber geht, ist eine Bedrohungssituation, die wir nur deswegen nicht ernster nehmen, weil wir sie nicht mehr sehen können. Es handelt sich um Kampfmittel, im Boden, im Bewusstsein und in der Erinnerung. Solcherart Menschenwerk ist nicht zum Spielen da. Man weiß nie, was man sich einhandelt, wenn man daran rührt. Siehe Laatzen.

Helmut Aßmann

 


Alarm

17. April 2023

 

 

Das eingedeutschte Wort „Alarm“ stammt aus dem Italienischen und hat dort die Bedeutung „zu den Waffen!“: all‘ arme. Militärisch heißt das: Herstellung der Kampfbereitschaft, d. h. Waffen und Truppen in Gefechtsbereitschaft versetzen, um dem erwarteten Feind gerüstet gegenüberzustehen. Alles auf Spannung, erhöhte Aufmerksamkeit, explosive Stimmungslage. Die mehrdimensionale Alarmierung der Gesellschaft (Migrationsströme, Klimaveränderung, Corona, usw.) und das gleichzeitig stete Anwachsen von aggressiven Verhaltensmustern im Straßenverkehr, auf Behördenfluren und neuerdings im Kino beim Abspielen des Films Creed III sind alles andere als zufällig. Hier gibt es einen ziemlich einfachen Zusammenhang, den zu bestreiten man einiges an Verdrängung aufbieten muss. Allerdings: Alarm ist nicht auf Dauer zu stellen. Alarm ist zwingend auf Spannungsabbau gerichtet. Unlängst konnte man in einer sehr interessanten Recherche zu sogenannten „Storykillers“ (SPIEGEL, Ausgabe 8/2023) studieren, wie professionelle Firmen zielgenau ganze Gesellschaften alarmieren und auf diesem Wege mehr oder weniger unregierbar machen können. Das Ganze ist mittlerweile zu einem weltweit florierenden Geschäft geworden. Der gezielt gesetzte Alarm löst übertemperierte Reaktionen in der Zivilbevölkerung aus und bringt die menschlich eigentlich selbstverständlichen Reflexe von Umsicht, Altruismus und Gelassenheit zum Erliegen. Der Unterschied zwischen einem notwendigen, lebensrettenden Alarm und einem kräftezehrenden und verstörenden Dauer- oder Überalarm ist elementar. Der erste rettet, der zweite verstört: Entweder sucht er sich irgendeine, eher beliebige Entladung oder er lähmt. Beides keine verlockenden Aussichten. Da ist es doch gut, wenn man nach großer Erregung irgendwie wieder zu einer Normalität zurückkehrt, so kurios sie einem auch erscheinen mag.

Helmut Aßmann

 


Judas III

03. April 2023

 

 

Bevor es zur Verratsszene kommt, liefert der Evangelist Lukas noch ein interessantes Vorspiel. In der sogenannten Abendmahlszene, also der Beschreibung des Festessens im Rahmen der jüdischen Passafeier, lässt Jesus die Bemerkung fallen, dass „einer unter ihnen“, also seinen Jüngern, ihn verraten werde. Es ist nun keineswegs so, dass die Jünger insgeheim sich schon haben denken können, wer der Denunziant vermutlich sein würde. Nein, niemand zeigt auf Judas oder murmelt versonnen vor sich hin. Lukas, der Evangelist, stellt es vielmehr so dar, dass sie sich alle zunächst einmal selbst und dann auch einander und schließlich Jesus fragen: „Bin ich’s?“ Es scheint – jedenfalls in dieser Lesart – allen in Frage kommenden Personen selbst ein Rätsel zu sein, um wen es sich dabei handeln könnte. Systemisch betrachtet, ist das auch vollkommen einleuchtend: Wie und weshalb sich in einem sozialen System die devianten und streitigen Meinungsbildungen verdichten und wer am Ende ihr erkennbarer Träger sein wird, ist nie von vornherein ausgemacht. Koalitionen und Wechselpositionen, Argumente und Gegenargumente wirken bis zum Schluss. Gewiss ist nur, es wird an irgendeinem Punkt zu einem Bruch kommen, einfach deswegen, weil nur in der Ausbildung von Differenzen die inhaltlichen Positionierungen klar werden. Der Widerspruch ist wichtig und die fundamentale Voraussetzung zur Orientierung des gesamten Systems, freilich um den unvermeidbaren Preis der Einheit und der Geschlossenheit der Gruppe. Wer das unterbinden will, muss notwendigerweise Zwang ausüben. Wer aus diesem Dilemma überhaupt ausbrechen will, darf derlei Gruppen und Netzwerken nicht beitreten. 

Helmut Aßmann

 


Judas II

27. März 2023

 

 

Der Mann bediente sich bekanntlich eines Kusses, um die Auslieferung des Heilandes an die Schergen von Staat und Tempel zu besiegeln. Es hätte ja durchaus gereicht, auf ihn zuzutreten im Garten Gethsemane und mit dem Finger auf ihn zu zeigen. Die paar Hansel, die um ihn herumstanden, waren weder zahlreich noch gefährlich genug, um sich als Verräter in Gefahr zu begeben. Umso mehr fällt dieser Kuss ins Auge, die toxische Melange von Intimität und Aggression. Der biblische Text belässt es in seiner Wortwahl bei dem „Anliegen, ihn zu küssen“, um deutlich zu machen, dass es wohl tatsächlich nicht zum Vollzug kommt. Den Kuss verschweigt übrigens der Evangelist Johannes ganz in seiner Schilderung der Gefangennahme Jesu im Garten Gethsemane. Vielleicht, weil ihm diese Ungeheuerlichkeit der Nähe des Verrats zur Glorie des Gottessohnes als allzu sperrig erscheint. So abgeschmackt und anstößig der Judaskuss als Berührung aber auch erscheinen mag, der treibt einen schmerzlichen Zusammenhang auf die Spitze: Richtig verraten kann man nur das, zu dem man in einer tiefen Verbundenheit steht. Daraus lassen sich zwei ganz unterschiedliche Schlüsse ziehen. Der erste: Dann siehe zu, dass du dich mit nichts so tief verbindest, dass du es nicht – aus welchen Gründen auch immer – am Ende doch verraten musst. Der zweite: Dann verbinde dich nur dann mit jemand oder etwas anderem, wenn du ganz sicher bist, dass dir das nicht passieren kann. Man wittert von fern: Beide Schlüsse sind unsinnig. Weder der eine noch der andere lassen sich durchführen. Verrat und Hingabe kommen aus derselben Wurzel. Man weiß zu Beginn nie, worauf es am Ende hinauslaufen wird. 
Notabene: Das wusste Jesus auch nicht, als er in das Licht der Öffentlichkeit trat.

Helmut Aßmann

 


Judas I

21. März 2023

 

 

Kein Mensch nennt sein Kind Judas. Jesus geht schon eher mal. Zwar nicht in Deutschland, aber in romanischen Ländern kommt das schon mal vor. Letztes Jahr habe ich an der Algarve in der „Snack-Bar Jesus Café“ einen Espresso eingenommen: Schmeckte weder besonders spirituell noch blasphemisch. Aber eine Judas-Bar wird sich im christlichen Archipel schwerlich auftreiben lassen, es sei denn als eine Art hölzerner Protestnote, und im nichtchristlichen Umfeld ist der Name ungebräuchlich. Immerhin hat Jesus in seinem Jüngerkreis nach dem Evangelisten Lukas gleich zwei Männer dieses Namens beieinander: Judas, den Sohn des Jakobus, und Judas mit Beinamen Iskariot, seinem Verräter. Den hatte er sich selbst ausgesucht. Wenn schon dem Gottessohn bei der Auswahl seiner Begleiter eine solche, ja, wie soll man sagen, Fehlbestimmung unterläuft, was soll man dann zu all den anderen bemühten Personalentscheidungen unter dem Himmel sagen, die nach bestem Wissen und Gewissen, aber am Ende mit schlechten Resultaten getroffen werden? Nimmt man hin zu, dass Jesus den Mann keineswegs beizeiten hinausgeworfen und unter Bann gestellt, sondern sogar noch Gelegenheit gegeben hat, den Verrat gewissermaßen mit Billigung zu begehen, ist man vollends verblüfft. Jeder vernünftige Kirchenvorstand zieht bei solchem Verdacht die Notbremse, jede Partei strengt ein Ausschlussverfahren an, und beamtenrechtlich ist das Loyalitätsversprechen zu sichern. Judas aber darf weitermachen, bis zu jedermanns bitterem Ende. Dass im Ergebnis ein Desaster dabei herauskommt, ist nicht erstaunlich. Dass dieses Desaster aber österliche Hoffnung freisetzt, ist über alle Maßen verwunderlich. Bevor man also irgendeinen Judas kollektiv entsorgt, lohnt sich ein Blick auf das Desaster, was man da gerne vermeiden möchte. Und eine gewissenhafte Relektüre der Golgatha-Geschichte.

Helmut Aßmann

 


Einstimmig

13. März 2023

 

 

Es erinnert ein wenig an die legendäre Wahl von Martin Schulz zum Bundeskanzlerkandidaten der SPD im Wahljahr 2017, nur jetzt in XXL: Der Nationale Volkskongress in Peking hat Xi Jinping einstimmig für eine weitere, dritte Legislatur zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas und zum Staatspräsidenten der Volksrepublik China gewählt. Einstimmig heißt, bei knapp 3000 Delegierten keine einzige Gegenstimme, nicht einmal eine einzige Enthaltung! Ein absurdes Theater. Es ist nicht von ungefähr, dass auf genau dieser Session des Volkskongresses eine Nationale Aufsichtskommission eingerichtet wurde, zur Bekämpfung der Korruption, wie es offiziell heißt. Den Rest darf man sich getrost denken. Wie solche Entschlüsse zustande kommen, ist nicht schwer zu ermitteln. An der argumentativen Überzeugungskraft oder der wahnsinnig impulsiven Bühnenshow wird es nicht gelegen haben. Neben allfälligem Erstaunen, dass man solch ein Ergebnis allen Ernstes als großartige Geschlossenheitsleistung des chinesischen Volkes vorzutragen sich angespornt sieht, gibt es eine weitere kleine, aber giftige Empfindung: Auf Erden und unter geschichtlichen Bedingungen geht es nach dem Gipfelereignis wieder bergab, egal wie lange man unter dem Gipfelkreuz verweilt. Die Zeit geht weiter. Die Dinge ändern sich. Panta rhei. Daran wird keine Aufsichts-, Kontroll-, Zensur- oder Gleichschaltungsbehörde etwas ändern. Klar ist lediglich, dass diese Behörde mit jedem Nachlassen der Zustimmung, jedem Seufzen, Gähnen und Augenrollen unerbittlich und immer unerbittlicher einschreiten muss, um die 100% zu halten. Angemaßte Gottgleichheit hat ihren Preis. So machtvoll dieses Politschauspiel um die Erde gereicht wird, so armselig und langweilig ist es auch.

Helmut Aßmann

 


Elisabeth

27. Februar 2023

 

 

Als ihr eröffnet wurde, dass sie, längst nach der Menopause, noch einen Sohn gebären sollte, weil es Gott gefallen habe, ein solches Wunder zu tun, wird Elisabeth sich ihren Teil gedacht haben. Es waren Zeiten, da gab es weder künstliche Befruchtung noch eingefrorene Samenzellen, von Brutkästen und allerlei technischer Fertilitätsverstärkung einmal ganz zu schweigen. Johannes der Täufer sollte old school-mäßig auf die Welt kommen und auf den Erlöser hinweisen. So steht es im Lukasevangelium, Kapitel 1. Es ist dann, glaubt man den Berichten, tatsächlich geschehen. Johannes der Täufer wird zu einer großen Gestalt der religiösen Menschheitsgeschichte. Elisabeth bleibt hinter all dem dann folgenden Rummel zurück. Aber sie ist ein bemerkenswertes Zeichen zur Frage der Lebensqualität von Senioren. In dreierlei Hinsicht, um es ein wenig zu präzisieren: Erstens, mit den Alten ist zu rechnen – der ganze betrübliche Diskurs über die Nutz-, Sinn- und Bedeutungslosigkeit des Alters vergisst, dass da immer noch Leben im Leben ist, Kampf und Liebe, bis hin zur Lust am Hervorbringen von Unerwartetem. Zweitens, old school geht immer auch noch, ging ja auch vorher, und manchmal ist es geradezu lebensnotwendig, dass jemand noch weiß, wozu die Natur Hände, Füße und Gehirne hervorgebracht hat. Und drittens, im Rückgriff auf den großen Historiker Leoplod von Ranke: Jedes Alter ist unmittelbar zu Gott. Der kann, wenn er will, aus Steinen Brot und aus Greisen Mütter und Väter machen. Will er nicht immer, zum Glück. Aber ausgeschlossen ist das nicht.

Helmut Aßmann

 


Mobbing & Co.

13. Februar 2023

 

 

Das Wort „Mobbing“ ist seit etwa 50 Jahren im deutschsprachigen Umlauf. Es bezeichnet den unerhört belastenden Vorgang, wenn eine Gruppe von Menschen („Mob“) gegenüber einer Person fortgesetzte Handlungen der Ausgrenzung, Erniedrigung oder Herabsetzung verübt. Das ist deutlich zu unterscheiden von dem, was man „Kritik“ zu nennen pflegt. Also die (in der Regel) differenzierte Betrachtung und Bewertung von Tätigkeiten, Prozessen oder Verhaltensweisen. Das wiederum meint etwas gänzlich anderes als „Meckern“, also jenes meist wenig sachbezogene, sondern eher charakterbedingte Herummaulen an einer missliebigen Situation oder Gegebenheit. Gelegentlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als würden, vielleicht um des dramatischeren Ausdrucks willen, Mobbing, Kritik und Gemecker in einer Schublade platziert, nämlich die, wo Mobbing draufsteht. Das klingt nämlich noch am ehesten nach krimineller Energie oder menschenrechtsverletzender Gewaltanwendung. „Gemobbt“ zu werden, hört sich einfach eindringlicher an als angemeckert worden zu sein oder Kritik erfahren zu haben. Zugegeben, Kritik ist nicht schön, und Gemecker ist lästig, aber Mobbing ist das nicht. Und mit der Generalattacke „Mobbing“ bekommt man kritische Rückmeldungen zwar meist mundtot, aber die kritisierten Sachverhalte nicht rückgängig gemacht. Allzu rasche Mobbingvorwürfe schaffen zwar Kritiker von Hals, aber geben keinen Weg frei, um sich entwickeln zu können. Jesus war ein guter Kritiker. Von Mobbing keine Spur.

Helmut Aßmann

 


VUCA - Welt

06. Februar 2023

 

 

Seit einigen Jahren geistert diese Abkürzung als Code für die neue Unübersichtlichkeit der Welt durch die öffentliche Meinungsmaschinerie. Sie steht für vier kennzeichnende Faktoren: volatility – Beweglichkeit, uncertainty – Unsicherheit, complexity – Komplexität und ambiguity – Vieldeutigkeit. Konkret meint das etwa: Früher gab es mal einen Sommer bis etwa Mitte September – heute weiß niemand, wann er wirklich aufhört. Früher gab es mal zwei Geschlechter – heute weiß man nicht einmal mehr, wie nach Mann oder Frau aussehende Personen angeredet werden sollen. Früher wusste man, dass s und t nicht getrennt werden dürfen – heut kann es jeder halten wie er will. Ist am Ende ja auch egal. Und es gab eine Zeit, da wurde bis weit in die Zukunft geplant, weil man sich auf ein paar stabile Grunddaten leidlich verlassen konnte. Die VUCA-Welt bricht mit derlei Festlegungen. Nicht wegen schwärmerischer Überspielung von naturgesetzlichen Zusammenhängen (obwohl das gelegentlich auch vorkommt), sondern wegen tatsächlich verwirrender Entwicklungen, deren Ende niemand abzusehen vermag. Wo traumtänzerischer Wahn anfängt und planerische Unsicherheit aufhört, ist meist nicht genau zu sagen. In manchen Managementkursen wird dieser Sachverhalt positiv als challenge, Herausforderung verkauft. Kann man machen. Solange man nicht zu den Verlierern zählt, mag das in Ordnung gehen. Im anderen Fall, und das dürfte die meisten Menschen betreffen, ist die VUCA-Welt ein Ort, in dem so etwas wie eine innere Welt Stabilität geben muss. Achtung: Religion!

Helmut Aßmann

 


Angstkultur

30. Januar 2023

 

 

Ja, es ist wahr: Mit dem Eintritt in das Panzerkarussell steigt die Wahrscheinlichkeit einer Ausweitung des Krieges in der Ukraine. Und es stimmt ebenfalls, dass die unverminderte Klimaverwüstung des Planeten heftigste Erschütterungen auslösen wird, politisch, wirtschaftlich und in den persönlichen Schicksalen. Ja, und es trifft zu, dass wir am Ende alle sterben werden, auf die eine oder andere Art. Man möchte mit Snoopy, dem weisen Ratgeber von Charlie Brown, antworten: Ja, richtig, aber alle anderen Tage nicht. Die christliche Variante findet man übrigens im Johannesevangelium, Kap.16, Vers 33: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“. Leben ist eine heikle, gefährliche Sache. Aber nicht immer. Genau genommen, meistens nicht. Was der Schöpfer alles tut, damit wir nicht merken, wie fragil unser Dasein ist, lässt sich gar nicht ermessen. Von unserer vegetativen Ausstattung über die Sonnenstabilität bis zur Aufrechterhaltung der Fotosynthese bei grünen Pflanzen – das läuft einfach so, fast immer. Die Lust, sich auszumalen, was passiert, wenn das alles einmal nicht mehr funktioniert, gehört ausdrücklich nicht zum Schöpfungsauftrag des Menschen. Deswegen ist das tägliche Bombardement mit schreckenerregenden Aussichten zu Lande, zu Wasser und in der Luft alles andere als hilfreich. Ja, es macht krank, wie uns die psychologische Wissenschaft zu verstehen gibt. Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Welt bleibt gefährlich, unberechenbar und riskant. Aber meistens nicht. Und zwar nicht, weil wir so klug und verständig leben, sondern obwohl das nicht der Fall ist. Das sollte uns – gelegentlich jedenfalls – viel mehr zu denken geben.

Helmut Aßmann

 


Klebstoff

23. Januar 2023

 

 

Sie werden journalistisch wie juristisch derzeit hoch gehandelt, die jungen Frauen und Männer, die sich zur „Last Generation“ zählen. Die Gruppe um Carla Hinrichs und Aimée van Baalen markiert mit spektakulären öffentlichen Aktionen und bemerkenswerter aktionistischer Phantasie die Entgleisungen der modernen gesellschaftlichen Entwicklung: Verschwendung von Ressourcen, Klimazerstörung, globale Ungerechtigkeit: Die ganze offenkundig tödliche Verschiebung der Prioritäten. Eindrücklich sind die „Klebe-Aktionen“, in denen infrastrukturell sensible Flächen, Straßen und Gegenstände durch Selbstverklebung der Aktivisten blockiert werden, in der berechtigten Hoffnung, dass in dieser Gesellschaft sie weder jemand überfahren noch ihre Hände ohne medizinische Rücksicht auf Verluste von den Flächen reißen wird. Neben den komplizierten gesellschaftstheoretischen Erwägungen und den rechtlichen Klärungen ist der Vorgang selbst bemerkenswert: Sich selbst an etwas festkleben, das man bekämpft. Also eine Verbindung mit dem suchen, das einem zuwider ist, um es damit zu überwinden, zu entkräften oder außer Betrieb zu stellen. Als religiöses und politisches Modell hat das nicht selten großartige Erfolge gezeitigt. Bei Wind und Wetter, im Angesicht schimpfender, potentiell gewalttätiger, jedenfalls im höchsten Maße angefressener Zeitgenossen… Das hat erst einmal – ganz menschlich gesprochen – Format. Aber noch ein Zweites: Das Stillstellen als Zielperspektive hat nur dann motivierende Wirkung, wenn es danach eine neue Bewegung gibt. Wie die aussehen soll, ist bei all dem Zorn nicht recht sichtbar. Und der Klebstoff ist kein – auch kein ethisch guter – Treibstoff. 

Helmut Aßmann

 


Dunkelheit

16. Januar 2023

 

 

In einem theologischen Aufsatz war kürzlich etwas zu lesen von den rassistischen Potentialen der Gottesdienstsprache. Vor allem die Hell-Dunkel-Gegensätze kamen da in den Blick. Sowohl die biblische wie die liturgische Sprache bewerten das Licht und die Helligkeit zweifellos höher und „gotthaltiger“ als die Finsternis oder die Dunkelheit. Gott wohnt im Licht, die Apokalypse beschreibt es ausführlich. Ps.139 versteigt sich sogar zu der Aussage, dass bei Gott „Finsternis wie das Licht sei“ (nicht umgekehrt). Die Autorin des Aufsatzes merkt dazu an, dass durch die Hochschätzung des Lichts eine unstatthafte Erhebung des Weißseins gegenüber einer ebenso unzulässigen Herabwürdigung des Schwarzseins festgeschrieben wird. Die Dunkelheit und die schwarze Hautfarbe seien in unguter Weise verbunden, ebenso die Helligkeit mit der weißen Hautfarbe. Als Konsequenz sollten solche kompromittierenden und herabwürdigenden Farbspiele um des Respekts gegen über den „People of color“ (PoC) unterlassen und durch andere Redeformen ersetzt werden. Theologisch lässt sich sicherlich manches Kritische oder Zustimmende sagen. Aber jenseits dieser Diskussionen wird an dieser Reflexion deutlich, wie sich nach und nach die elementarsten Tatbestände oder Orientierungen menschlichen Lebens auflösen, wenn man sie von Untertönen, Missverständnissen, kolonialen Belastungen oder repressiven Potentialen rein halten will. Jedes reine Wort ist am Ende leer. Jedes alltägliche Wort indes ist ein wenig schmutzig. So wie wir. So wie wir alle.

Helmut Aßmann

 


Kennzahlen

09. Januar 2023

 

 

Seit einiger Zeit bekommt man ungefragt auf der t-online website täglich drei Kennzahlen serviert: den Füllstand der Gasspeicher, den mittleren Gaspreis und den Strompreis in den vergangenen Monaten, jeweils aktuell fortgeschrieben. Klickt man diese Diagramme an, steht dort manchmal das Gegenteil des im Diagramm angezeigten Trends, gelegentlich eine Bestätigung, aber immer findet man ein undurchsichtiges Gebinde aus Fakten, Meinungen, Prognosen und Alarmmeldungen. Am besten, man konzentriert sich auf die Liniendiagramme, die reichen für die Fütterung des Lebensgefühls aus: Bedrohlich, beruhigend, unschlüssig. Die dahinter stehende Wirklichkeit ist zu komplex, um sich ernsthaft damit zu beschäftigen. Kennzahlen sind Komplexitätsreduktionen und Psychopharmaka in einem Abwasch.
So wie die Börsenkurse. Oder, vor gar nicht langer Zeit, die Inzidenzzahlen, Todesraten und Impfquoten im Corona-Covid-Rausch. Ein Blick, eine Zahl und auf der Stelle eine Befindlichkeit. Es erinnert mich ein wenig an die Zeit, als meine Großmutter mit einigem Pathos durchs Telefon verkündete, ihr Arzt habe jetzt einen Wert von 75 gemessen. Und das sei wirklich besorgniserregend. Meine dezente Frage, worauf sich diese besorgniserregende Zahl näherhin beziehen würde, gab sie lediglich den ebenso dezenten Hinweis, dass der Wert vor einer Woche eben noch bei unter 60 gelegen habe. Was immer diese Zahl bezeichnet haben mochte, ihre Bedeutung lag in der Vermittlung eines Lebensgefühls. Und mit dem Lebensgefühl muss man schließlich klarkommen, nicht mit den Zahlen.
Fürs neue Jahr könnte man ja – unter spirituellen Gesichtspunkten – auch mit Kennzahlen zur Erzeugung eines Lebensgefühls arbeiten. Mein Vorschlag für den laufenden Monat: Pro Tag einen biblischen Vers, 5 Stoßgebete und drei Dankadressen. Macht 153 als Kennzahl. Alles Gute!

Helmut Aßmann

 


Elbenweihnacht

19. Dezember 2022

 

 

Am Morgen des 17.12.2022, letzte Resteinkäufe bei REWE, bald kehrt diese spezifische Mischung aus Entspannung und letzter Anstrengung im öffentlichen Leben ein. Es ist noch vergleichsweise früh, vor acht. Das Supermarktpersonal steht noch nicht unter Hochspannung, sondern räumt geschäftig herum, die Kassenbesetzungen warten auf gelegentliche Kunden. Insofern: Alles normal. Ich meditiere die Bekleidung der REWE – Bediensteten. Genauer: Die Weihnachtsaccessoirs, die sich haben einfallen lassen sollen, können oder dürfen. Einer trägt einen blauen Tannenbaum auf dem Kopf. Ein zweiter die unvermeidliche Nikolausmannmütze, rot und blinkend, das Standardmodell. Gefolgt vom – ebenfalls unvermeidlichen – Rentiergeweih auf dem Haupt einer der Kassiererinnen. Ich bin aber überrascht von der Verkleidung als Elbenwesen, also mit Fledermausohren und Feenstaubschminke. Da ist nun der Zusammenhang mit irgendeinem Weihnachtsflitter völlig abgerissen. Im Mittelpunkt dieser Kostümwahl stehen offensichtlich weder die Story von der Heiligen Familie noch die dunkleren Jahresendfiguren im Stile des Knecht Ruprecht oder Krampus, sondern die Fantasyfiguren von J.R. Tolkien. Das ist bemerkenswert. Heiligabend also verstanden als dritte Gelegenheit, sich zu verkleiden, nach dem traditionellen Karneval, dem Jahrtausendwende – Neuzuwachs Halloween nun die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Der stetige Anstieg von Weihnachtsmemorabilien an Kleidung und Körper ist ja schon seit langem in Gang. Das habe ich bisher vor allem als eine Art Kompensation gelesen: Weil die Erzählsubstanz der Weihnachtsgeschichte allmählich dünn wird wegen des vielbeschworenen Traditionsabbruchs, tauchen – nun allerdings eher zufällig und zusammenhanglos – Restposten an Symbolik auf, die das Weihnachtsfest irgendwie beglaubigen sollen. Aber diese Sicht ist möglicherweise zu oberflächlich. Vielleicht liegt es tiefer: Sich regelmäßig verkleiden zu müssen, weist auf einen Wandlungsbedarf hin, der mit Rentiergeweihen und Blinkebäumchen nicht mehr zu erledigen ist.

Helmut Aßmann

 


Lichterfest

06. Dezember 2022

 

 

Unweit von der Hannoveraner Marktkirche wirbt ein kleines Textilkaufhaus mit Sonderrabatten zum „Lichterfest“. Gemeint ist natürlich Weihnachten. Man wäre fast nicht drauf gekommen. Warum also Lichterfest? Wegen der Muslime und anderer nichtchristlicher Religionsangehöriger wird es kaum so geschrieben worden sein. Davon gibt es erstens nicht so viele, dass das schon zwangsläufig wäre, und zweitens ist denen Weihnachten durchaus bekannt und wichtig, weil es da um einen der ihnen heiligsten Figuren des Glaubens geht, nämlich Jesus. Dann vielleicht wegen der vielen Nichtglaubenden? Unwahrscheinlich, denn die wenigen, denen Weihnachten wirklich gegen den Strich geht und die es am liebsten abgeschafft sähen, einschließlich der Feiertage, lassen sich an ein paar Händen abzählen. Weil man sich seines eigenen kulturellen Hintergrundes schämt? Möglich, aber warum nimmt man dann nicht das Zuckerfest oder irgendeine andere eingeführte religiöse Marke? Das Lichterfest als Label ist so ähnlich prägnant wie ein Schusterfest zum Nikolaus oder ein Deliriumsfest zu Pfingsten. Das ist eher albern als einfallsreich und erinnert an die Jahresendflügelfiguren der DDR. Der Versuch, den Festtagen des Kalenders ihren Inhalt zu entziehen oder ihn unkenntlich zu machen, läuft auf eine kulturelle Leere hinaus, die nicht zum Aushalten ist. Feiertage als Terminvakanzen. Feste als Konsumtreiber. Das Jahr als ein seelenloser Rhythmus. Der bittere Kern dieser Aussicht ist mitnichten ein antireligiöser Affekt, sondern eine Vergessenheit, die ihren Gegenstand vergessen hat.

Gesegnete Adventszeit!

Helmut Aßmann

 


Seindesign

29. November 2022

 

 

Bemerkenswerter Wandel in der Wahrnehmungsrichtung: Nicht herausfinden, was an einer Sache wesentlich ist, sondern das, was man für wesentlich hält, so inszenieren, dass andere einem das abnehmen. Der alte marxistische Slogan: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, will sagen: Die ökonomischen Bedingungen bestimmen Denkgewohnheiten und Weltanschauung, wird abgelöst durch einen „aesthetic turn“: Das Design bestimmt das Bewusstsein. Und nicht nur das: Am Ende bestimmt es auch das Sein. So erklärt sich vermutlich der gegenwärtig  ungeheure Aufwand um Darstellungsqualität von Körpern, Produkten, Prozessen und Politik. Die schönere Oberfläche gewinnt. Allerdings ist zu kurz gesprungen, wer meint, dass es sich dann um reine Oberflächlichkeit handelt, um eine populistische Vernachlässigung der tiefen, wahren, wesentlichen Aspekte. Der Zusammenhang lautet vielmehr: Wer seine äußere Gestalt nicht anziehend vorzustellen versteht, braucht mit dem Rest gar nicht erst kommen. Wer schon seinen Internetauftritt nicht ordentlich hinbekommt, wie soll bei dem eine hochwertige Aussage oder Performance zu erwarten sein? Daran ist etwas. Der römische Dichter Juvenal formulierte es einst so: orandum est, ut sit mens sana in corpore sano, zu deutsch: Man muss darum beten, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohne. Zwar nur als Wunsch formuliert, aber als grundsätzlich anzustrebender Zusammenhang unterstellt. Außen und innen müssen, besser: sollten einander entsprechen. Oberfläche und Tiefenaspekte sind miteinander zu verbinden. Nehmen wir diese Einstellung einmal nicht als Rollback in die poppigen 70er Jahre, sondern als ernstzunehmende Mühe, in einer undurchsichtig gewordenen Innenwelt unserer Gesellschaft durch äußere Mühe wieder eine orientierende Perspektive zu gewinnen. Wenn schon das Gute oder das Wahre nicht mehr zu fixieren sind, vielleicht lässt sich aus dem Schönen etwas ableiten. So die Hoffnung…

Helmut Aßmann

 


Tempolimit

21. November 2022

 

 

Die EKD-Synode hat in ihrer jüngsten Sitzung in Magdeburg einen interessanten Vorstoß in Sachen Klimaschutz gemacht: Nach einer durchaus kontroversen Diskussion wurde der Entschluss gefasst, dem Gerede über konkretes Handeln nun auch eine Tat folgen zu lassen: Die Empfehlung, genauer: freiwillige Selbstverpflichtung, bei kirchlich veranlassten Fahrten nur noch mit Geschwindigkeiten von maximal 80 km/h auf Landstraßen und 100 km/h auf Autobahnen zu fahren. Die Kontroverse ging nicht darum, ob diese Verpflichtung eingegangen werden sollte oder nicht, sondern ob sie nicht noch deutlich schärfer hätte ausfallen sollen. Diese Empfehlung als EKD-Initiative bewegt sich auf der Ebene der Veggie-Day-Kampagne der Grünen, sie verbreitet den Geruch von Gesinnungserziehung. Die schulmeisterliche Haltung verführt dazu, das Kirchenparlament als pädagogische Einrichtung einer Ökopartei misszuverstehen. Genau davor hatte die Ratsvorsitzende Kurschus in der Debatte ausdrücklich gewarnt. Es ist die alte Falle: Aus der nur allzu richtigen, fast möchte man sagen: alternativlosen Anstrengung, dem katastrophisch ausufernden Klimawandel mit einem veränderten Bewusstsein zu begegnen, wird in der enggeführten Konkretion eine lächerliche Geste, eine ethische Zwangsmaßnahme. Und eine fragwürdige dazu: Der Beitrag der Entschleunigung liegt bekanntlich vor allem in erhöhter Fahrsicherheit und dem Gewinn von Muße. Wollte man an den Klimawandel heran, gälte es politische Maßnahmen zu ergreifen, Anreize zu stiften. Dafür sind andere Einrichtungen zuständig. Das waren sie auch schon immer.

Helmut Aßmann

 


Kreuzschmerzen

17. November 2022

 

 

GZ - Gipfel der Außenminister in Osnabrück, neben Münster die Stadt des Westfälischen Friedens von 1648, Großer Ratssaal. Ehrwürdige, geschichtsträchtige Kulisse. Die Protokollabteilung des Auswärtigen Amtes, die in solchen Fällen für den notwendigen Hintergrundbetrieb in Kooperation mit den örtlichen Behörden sorgt, sorgt sich auch im das weltanschauliche Wohl der hohen Gäste und lässt das Kruzifix aus dem Saal entfernen. So soll anscheinend der weltanschaulichen und religiösen Neutralität der gastgebenden Außenministerin angemessen Ausdruck verliehen werden. Ein paar Tage und Aufregungen später gibt die Außenministerin höchstselbst zu Protokoll, dass ihr der Vorfall unangenehm sei und sie, hätte sie davon gewusst, eine solche Maßnahme sicher nicht angeordnet hätte. Lassen wir es einmal so stehen. Die Posse erinnert an das Ablegen der Kreuze seitens der deutschen Oberhirten beim Besuch des Tempelberges 2016 oder den nicht enden wollenden Auseinandersetzungen um die historischen Beschriftungen des Berliner Humboldtforums. Ohne gleich eine sozialpsychologische Diagnostik stellen zu wollen, stimmt einen doch die wachsende Unsicherheit im Umgang mit Religion in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage mehr als nachdenklich. Derlei Rücksichtnahmen kämen anderen Religionsvertretern in anderen Regionen der Welt wohl kaum in den Sinn. Es ist, als wäre hierzulande nicht nur der Bekenntniswille erloschen, sozusagen das konfessorische Kreuz gebrochen – das könnte man mit der Einsicht in die Fehler vergangenen Größenwahns noch nachvollziehen, sondern darüberhinaus auch eine Art Selbstzweifel am Werk, der in seinen offensiven Formen als Autoaggression verstanden werden könnte. Die Verdunstung von Religion, wie es oft beschrieben wird, ist wohl doch kein geräuschloser Vorgang, sondern tut richtig weh. Und zwar allen Beteiligten. 

Helmut Aßmann

 


Fleischtöpfe

02. November 2022

 

 

Dem Volk Israel kamen auf der Wanderung durch die Wüste zum Gelobten Land immer wieder einmal die Fleischtöpfe Ägyptens in den Sinn. Angesichts der aktuellen Strapazen hellte sich die Vergangenheit, der sie mit Mann und Maus erst ausgeliefert und dann entflohen waren, dermaßen auf, dass sich viele fragten, warum um Himmels willen sie eigentlich davongezogen waren. Zwar gab es damals Schläge, aber immerhin Rindfleisch. Und es war eine entsetzlich harte Arbeit, aber man hatte ein Zuhause. Die Gewaltigen saßen einem im Nacken, aber man wusste, wo man hingehört. Und man betete zwar die falschen Götter an, aber weil alle so verfuhren, war es plausibel. Fleischtöpfe der Vergangenheit sind seit je zauberhafte Attraktoren für eine undurchsichtige Gegenwart. Es reicht schon ein wenig Druck, um sie in der Erinnerung schön zu machen. Teuerung, Kälte und Hunger erheben sie gar zu paradiesischen Zielen. Sie verwandeln die Vergangenheit in das, aus dem man nicht entflohen, sondern vertrieben worden ist. Da werden die Führer in die Freiheit zu Verführern in das Chaos. Die hochgeschätzten Propheten mutieren unversehens zu übelwollenden Ideologen. Und die Aussicht auf ein gelobtes Land unter einem wohlmeinenden Gott wird als Chimäre abgetan. Gegen den dampfenden Fleischtopf auf einer zuverlässigen blauen Flamme stinkt kein windiges Vertrauen in eine unbekannte oder möglicherweise umkämpfte Zukunft an. Auf diesen elementaren Mechanismus können sich die Köche an den Herden der Gewalt stets verlassen. Damit lässt sich bis heute trefflich Politik machen. Man kann sich dem dann auch beugen, muss es aber nicht. Man kann – im umfassenderen Sinn des Wortes – auch vegetarisch leben.

Helmut Aßmann

 

Tier-Accessiores

17. Oktober 2022

 

 

Kleine Randszene am Konstanzer Bahnhof: Eine junge Frau wird von ihrem Bekannten, Freund oder Gefährten (Beziehungsstatus ist hier unerheblich) abgeholt, zeigt ihm ihren Hund, den sie gut in einer Hand tragen kann, gibt diesem, also dem Hund, einen liebevollen Kuss auf die Schnauze und geht dann mit ihm, also dem Mann, ihrer Wege. Die Zahl von Hunden und Katzen pro Mensch ist in den Corona-Jahren und schon davor sprunghaft gestiegen. Auffällig insbesondere der Umstand, dass junge Menschen sich mit häuslichem Getier ausstatten, selbst dann, wenn das, soziologisch und entwicklungspsychologisch betrachtet, alles andere als sinnvoll ist. Bei den Senioren liegen die Motive vermutlich etwas klarer. Aber warum etwa sollte sich ein junger Mensch, im besten Alter von Gesellungsphasen und Partnersuche, in seiner Studentenbutze mit einem Hündchen belasten, das nicht nur täglich Gassigehen oder irgendwelche Hundekrankheiten auskurieren muss, sondern die Freiheit der Welterkundung schlankweg unterbindet? Nun, das weiß ich nicht. Es wird aber zu Hunderttausenden genau dies getan. Haustiere sind neben Modelabels und Handymarken zu Identitätsaccessoires aufgestiegen. Zudem scheinen sie ein Kommunikationsbedürfnis zu bedienen, das entweder anders nicht gestillt werden kann oder soll: Den unkomplizierten Kontakt zu Menschen, großen wie kleinen. Das ist das Vertrackte an den zerebral-intuitiv gesteuerten Zweibeinern: Alles an ihnen ist kompliziert. Nicht nur an den anderen, sondern auch an einem selbst. So ein Vierbeiner aber redet weder zerebral gesteuert noch intuitiv-emotional, er redet sozusagen überhaupt nicht, aber mit nur wenig Phantasie kann man das ignorieren oder sich auf die unterstellten Bewusstseinsvorgänge auch in Nichtprimatenhirnen berufen. Und je kleiner so ein Schmusetier ist, um so weniger Chancen hat es, sich gegen die Beziehungs-, Zusammengehörigkeits- und Sympathie-Projektionen zur Wehr zu setzen, die ihm angetragen werden. Das macht die Sache vorderhand einfacher. Aber, ganz entschieden, nicht besser.

Helmut Aßmann

 


Führungssimulator

12. Oktober 2022

 

 

Olaf Scholz sei so etwas wie ein „Führungssimulator“, gab Simone Solga, kampferprobte Kabarettistin in der Leipziger Pfeffermühle, der Münchner Lach- und Schießgesellschaft oder der Berliner Distel bei der letzten „Nuhr im Ersten“ - Sendung zum Besten. In strahlendem Rot gekleidet, ging sie die Hauptmatador*innen der derzeitigen Regierung durch, um in sagen wir mal relativ durchsichtigen Pointen die Fehlleistungen auf die kabarettistische Kette zu ziehen. Die überarbeiteten Kollegen des Wirtschaftsministeriums oder eben der antriebsschwache Schweigekanzler bekamen ihr handelsübliches Fett weg. Vor dem nächsten Satz: Ich mag diese Satire - Sendung im allgemeinen sehr. Bei dieser Nummer hatte ich allerdings den Eindruck, die derzeitigen Umstände wären der guten Dame entweder nicht bekannt oder so einerlei, dass sie sich nicht einmal die Mühe machte, neben den Namen noch irgendetwas anderes zu variieren. Ich hatte sogar den Anfall, mich in die Situation von Robert Habeck zu versetzen, der sich diese Ausführungen anhört. An seiner Stelle hätte ich vermutlich gedacht: „Warum bin ich bloß in die Politik gegangen? Wenn man auch mit dreieinhalb Kalauern, ohne jede erkennbare tiefere Befassung mit der gesellschaftlichen Großwetterlage, soviel spontane Zustimmung ernten kann, dann bin ich, was das Preis-Leistungsverhältnis angeht, der Himbeertoni der Nation“. Zugleich empfand ich, auch das gehört zur Wahrheit, so etwas wie Scham, dass die einen sich die Nächte zergrübeln, wie sie eine halbwegs verantwortungsvolle Politik machen, während andere, die es durchaus wissen, daraus eine Spaßveranstaltung drechseln. Moralisch, wie dieses Gedankenexperiment nun einmal ist, will ich es auch noch fortschreiben: Wie sähe ein Kaffeetrinken zwischen Frau Solga und Herrn Habeck wohl aus? Ich jedenfalls hätte den Kaffee schon vorher auf … 

Helmut Aßmann

 


Doppelwumms

04. Oktober 2022

 

 

Nun sind die nächsten 200 Milliarden € als Sondervermögen fällig. Diesmal als Auffanginstrument für die Belastung der Privathaushalte sowie der Industrie aufgrund der enorm gestiegenen Energiekosten. Die 100 Milliarden Sondervermögen für die Wiederbelebung der Bundeswehr sind noch nicht ganz ausgegeben, da kommt die neue Großverschuldung in den Blick. Der Bundeskanzler hat dieser Maßnahme den jovialen Titel „Doppelwumms“ gegeben. Das hat einen durchaus ambivalenten Charme. Man weiß nicht so recht, an welcher Stelle es denn krachen soll: Handelt es sich um einen politischen Befreiungsschlag oder einen finanziellen Niederschlag für unsere Kinder? Oder ist gerade das der geheime Sinn des Doppelwumms? Oder hat ihn der inzwischen ja in der medialen Sprache umfassend aufgenommene militaristische Ton dazu verleitet, Finanzentscheidungen mit Granateneinschlägen zu vergleichen? In den späten 70er Jahren hieß die massive militärische Aufrüstung der NATO gegen die SS20 Atomraketen des Warschauer Paktes noch harmlos „Doppelbeschluss“. Aber wir leben wieder in kriegerischen Zeiten, und so allmählich wie umfassend nistet sich das diesbezügliche Vokabular in der Alltagssprache ein. Als gäbe es einen Bedarf, die über die vielen Friedensjahrzehnte aufgestauten Aggressionen an allen Ecken und Enden von der Leine zu lassen. Von der genderpolitischen Debatte über die cancel culture – Auseinandersetzungen bis zu den immer wieder bemühten Nazi-Vergleichen reicht das Spektrum der Eskalationsartistik. Man wird nicht lange auf den „Gegenwumms“ warten müssen, vermute ich. Das alles liegt in der Luft. Und man kann das Atmen ja nicht verbieten … 

Helmut Aßmann
 


Panzer

27. September 2022

 

 

Gestern Abend bei Plasberg: 4 Leute reden auf Kevin Kühnert ein, den Generalsekretär der SPD, er solle erläutern, warum seine Partei sich so schwer mit der Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine tut. Schwergewichte wie Wolfgang Ischinger sind dabei, vormals deutscher Botschafter in den USA und Chef der Münchener Sicherheitskonferenz bis 2021. Die neue Cheferklärerin der Öffentlich-Rechtlichen für Strategiefragen und militärisches Knowhow, Claudia Major, erläutert dem armen Herrn Kühnert, was eine Panzerhaubitze macht und wozu ein Kampfpanzer gut ist und wie ein Schützenpanzer eingesetzt wird: Sturmreif schießen, Geländer erobern und sichern. Gut, dass man das mal erfährt. Man fühlt sich an die Einweisung in das Gefecht der verbundenen Waffen in der Rekrutenausbildung beim Barras erinnert. Etwas ungläubig allerdings, dass derlei komplexe Gegenstände in einer Talkshow wie das neueste Rezept von „Grill den Henssler“ ausgebreitet und als militärisches Basiswissen des aufgeklärten 21. Jahrhunderts vorgetragen werden. „Was, sie wissen nicht, wie eine Panzerfaust funktioniert? Hohlladungsgeschosse nie studiert…?“ Herr Kühnert weiß vermutlich kaum, wo bei einem Gewehr hinten und vorn ist, aber das ist nun auch nicht seine Aufgabe, wie er unentwegt zu verstehen gibt. Aber die anderen wollen über Panzer reden. Große, schwere, viele, deutsche Panzer. Als ob es um Riesenräder ginge oder Lastkähne. Aber es stimmt ja: Für die Quote und die Kamera ist das auch letztlich egal. Es ist eine eigene Form von Perversion, wenn sich militärische Auseinandersetzungen wie Playmobilaufstellungen anfühlen. Nicht einmal ein Soldat war bei dieser Tele-Posse zugegen. Der öffentliche Diskurs steht immer in der Gefahr, als Unterhaltung zu enden, wenn er nicht mit dem Leben von Menschen verbunden wird.   

Helmut Aßmann

 


Rettung

22. September 2022

 

 

„Retten, was uns rettet: Den Wald“ – das ist einer der Slogans, mit denen DIE GRÜNEN in Niedersachsen um Stimmen für die Landtagswahl werben. Waldrettung tut not, keine Frage. Nach den unzähligen Waldbränden im Dürresommer 2022 muss man darüber nicht diskutieren. Und wer auf einer Fahrradtour einmal auf der eigenen Haut gespürt hat, wie ein bisschen Wald sofort moderierenden Einfluss auf Temperatur, Feuchtigkeit und Wind nimmt, kann sinnliche Erfahrungen als Bestätigung beisteuern. Dass allerdings der Wald uns rettet, ist nun eine etwas – sagen wir mal – steile Zuspitzung der Dinge. Denn wovor genau rettet uns der Wald? Unklar. Wie tut er das? Auch nicht deutlicher. Was heißt überhaupt „retten“? Ebenfalls eine hermeneutische Nullstellung. Der Wald, jenes germanische Urbiotop, ist offenbar ein solch selbstverständlich verstehbares und eindeutiges Plakat, dass es für sich stehen kann. Wer Wald sagt und sich ihm zuwendet, muss ein guter Mensch sein. Wählbar geradezu. Die Sinnlosigkeit der Parole fällt sozusagen in den Schatten des ideologischen Scheinwerfers. Im Lichtglanz des zur Ehre der Erlösung erhobenen Waldes geht der Frage nach der Aussagequalität die Luft aus. Ebenso gut hätte man auch sagen können: Ohne Wald kein Leben! Oder: Wer Wald sagt, muss von Liebe reden. Oder etwas theologischer: Der Wald, du lieber Gott! Um nicht noch weiter ins programmatische Unterholz zu geraten, sei angefügt: Rettet, was unser Verstehen rettet: den Willen zur Aussage!

Helmut Aßmann

 


Nachhaltigkeit

29. August 2022

 

 

Ein Restaurantbesuch. Der Ober kommt an den Tisch und erklärt bedauernd, dass die Walnusscreme leider aus sei. Man müsse sich mit anderen Tunken begnügen. Und, bei der Gelegenheit, auch das Huhn in Knoblauchsauce stehe nicht mehr zur Verfügung. Es tue ihm leid. Die erste Reaktion am Tisch war erstaunlicherweise keineswegs verschnupft oder enttäuscht. Im Gegenteil, man war geradezu beglückt über den Umstand, dass endlich mal etwas nicht mehr da sei und deswegen auch nichts mehr weggeworfen werden müsse. Ja, es wurde ausdrücklich als ein Zeichen von Nachhaltigkeit als lobenswerter Einstellung gedeutet, dass ein Restaurant sich nicht zu fein ist, auch mal unterhalb des Speisekartenangebots zu reüssieren. Dass etwas nicht auf Wunsch zur Hand ist, ist demnach nicht automatisch ein Zeichen von Mangelwirtschaft, sondern könnte auch der wohlwollend zur Kenntnis zu nehmende Hinweis auf eine Absage an unsere Überflussgewohnheiten sein. Was nicht da ist, zeugt also nicht von unzureichender gastronomischer Kompetenz, es wird vielmehr als Zeichen von schonendem Umgang mit natürlichen Ressourcen gewertet. Natürlich ist das nicht in jedem Falle so. Schlechte Wirtschaft ist nicht automatisch ein Nachweis von maßvollem Leben, Und schlechte Kleidung deutet nicht schon direkt auf eine ressourcenschonende Gesinnung. Aber diese Reaktion beleuchtet eine bemerkenswerte Wendung der Dinge. Die sich biegenden Tische der Nachkriegszeit sind in Verdacht geraten. Überweidung, Überfischung, Übersäuerung, Überfütterung – Überfluss ist out. Jedenfalls an diesem Tisch. Daraufhin habe ich umgehend auf den Nachtisch verzichtet. War nicht nötig, aber passend.

Helmut Aßmann

 


Aufrüstung

22. August 2022

 

 

Es sind nicht allein die umstrittenen 100 Milliarden „Sondervermögen“ für die Streitkräfte, die es in Sachen Aufrüstung zu vermelden gibt. Aufrüstung ist derzeit eher so etwas wie umlaufende, ja angesagte Gesinnung. Es geht nicht mehr „mit“, sondern vor allem „gegen“. Gegen China und die Seidenstraße. Gegen Russland und Putin natürlich. Aber auch gegen die Vertreter eines überkommenen Geschlechterverständnisses. Manchmal gegen die Kirche als offenkundigen Missbrauchskonzern. Und gegen die allzu lahme Umsetzung des Klimawandels. Sogar von einer „grünen RAF“ wird geraunt. Überall rasselnde Säbel, martialische Wortwahl und Parolen statt Argumenten. Man bringt seine Truppen in Stellung. Der eine seine Söldner, der nächste seine Demonstranten und der übernächste seine Hacker. Das Wassermannzeitalter, von dem in „Hair“ vor rund 60 Jahren prophetisch gesungen und geschwärmt wurde, das Zeitalter also, in dem Blockbildungen, gegenseitige Polemik und ideologische Rechthaberei zu einem harmonischen, grenzüberschreitenden Ende finden sollten, geht, so scheint es, schon nach ein paar mehr oder weniger glücklichen Jahrzehnten schon wieder zu Ende. Die alten Fronten sind wieder da. Nur unter verschärften Bedingungen: Doppelt so viele Menschen, ein fiebernder, ausgeplünderter Planet und ein Informationsmaschinerie, die jedes Körnchen vermeintlicher Wahrheit in einen Matsch von manipulierten Meinungen zerstampft. Dass der gute alte Paulus im Epheserbrief im 6. Kapitel von einer Waffenrüstung des Geistes spricht, war wohl doch nicht nur eine militaristische Entgleisung, wie man in den 90er Jahren glauben mochte, sondern eine durchaus realistische Einschätzung menschlicher Bedarfslagen: Wer sich zwischen die Fronten begibt, sollte gut geschützt sein. Und auf Kampf sollten sich auch die einstellen, die den Frieden im Herzen tragen. 

Helmut Aßmann

 


Ichbeschau

17. August 2022

 

 

Summertime – and living is easy. Durch die Bahnhöfe zu schlendern (sofern man da überhaupt schlendern kann) oder in den Innenstädten zu flanieren, ist eine feine und ungezwungene Art, der Entwicklung des öffentlich zur Schau getragenen körperlichen Selbstbewusstseins zuzusehen. Drei Trends fallen unmittelbar ins Auge. Da ist zunächst die wachsende Fläche an tätowierter Haut pro Person. Im Durchschnitt ist etwa ein Arm pro Mensch ausgeschmückt mit mehr oder minder ästhetisch überzeugenden Bilderzeugnissen oder religiösen Codes. Als zweiter Trend lässt sich die wachsende Unbekümmertheit ausmachen, den Leib in hautenge und bunte Stoffe zu kleiden, in denen jegliche Kurve, Beule und Falte in voller Kontur zum Zuge kommen kann. Und drittens lässt sich eine akute Textilverknappung bei der weiblichen Kohorte der Sommerbevölkerung konstatieren, ein Umstand, der weniger mit den zur Verfügung stehenden Geldmitteln als mit den inszenatorischen Ambitionen ihrer Trägerinnen zu tun haben dürfte. Vermutlich ist dies das zusammenfassende Stichwort: Bekleidung als Inszenierung.  Das Textil schon immer vom Wortstamm her mit Text und Textur verbunden war, also mit Kommunikationsangelegenheiten, erhärtet diese Vermutung. Das Stück aber, das bei der Inszenierung gegeben wird, lautet: das individuelle, nonkonformistische, mit dem Soziologen Andreas Reckwitz zu sprechen: das singularisierte Ich als Performance. Sich nicht nur in seiner Rolle zeigen zu können, sondern sich möglichst authentisch und unverwechselbar als Person zeigen zu müssen, das macht den Unterschied. Zuviel zu zeigen ist aber ebenso problematisch wie zu wenig von sich herzugeben. Es ist hilfreich, auch körperlich, einen Weg zum anderen gehen zu können statt eine Show präsentiert zu bekommen.

Helmut Aßmann

 


Imbalance

26. Juli 2022

 

 

Work-Life-Balance heißt das aktuelle Codewort für ein gebändigtes Leben. Wenn die Erwartungen von außen, die Ansprüche von innen und die Grenzen der eigenen Ressourcen zu einem gedeihlichen, bewussten und flexiblen Ausgleich gekommen sind, dann hat das Leben das Zeug zu einer wenigstens relativen Vollkommenheit. Selbst-, Zeit- und Problemmanagement haben dann eine gediegene Prozessstabilität und damit das Ziel authentischer und autonomer Lebensgestaltung erreicht. Das muss, so die Theorie, dann (nur noch) verstetigt werden. Zur gefälligen Unterstützung dieses Anliegens gibt es eine reichhaltige Berater-, Coaching- und Optimierungsliteratur. Freilich ist auch zu bemerken: Ist das tatsächlich einmal erreicht, sollte man diesen Status wegen akut drohender Langeweile auch wieder verlassen. Es ist wie mit dem Gehen. Motorisch betrachtet, handelt es sich dabei um eine Art kontrolliertes Fallen: Der nächste Schritt verhindert stets, dass man nicht um- oder hinfällt. Was Leben als dynamischer Prozess genannt zu werden verdient, ist insgesamt eher eine Art ständiges Anpassen und Korrigieren als die Fortschreibung eines stabilen Verlaufs. Imbalance ist die eigentliche Überschrift des Alltags. Natürlich, wenn die Imbalancen ins Chaotische und Lebensbedrohliche umschlagen, dann ist eine stabile Phase so etwas wie das Paradies. Aber auch nur für kurze Zeit. Selbst die erste Paradiesesgeschichte ist wegen unerwarteter Imbalancen abrupt zu Ende gegangen. Seither ist es in der kleinen und großen Menschheitsgeschichte eigentlich stets unruhig geblieben. Nicht, dass das immer eine schöne Sache gewesen wäre. Aber die Beschwörung der Work-Life-Balance erinnert mich nun einmal, man möge mir das nachsehen, an einen Zoo, in dem man das Leben hinter Gittern anschaut.

Helmut Aßmann

 


Schafskälte

18. Juli 2022

 

 

Zwischen dem 4. und dem 20.6. gibt es – mitten im Frühsommer – immer mal wieder einen Kälteeinbruch mit Temperaturen im einstelligen Bereich. Zur Zeit der Schafschur bereitet das den Wolltieren natürlich eine arge Pein, aber dank des Klimawandels ist diese meteorologische Unpässlichkeit in Mitteleuropa inzwischen weithin ein klimatisches Museumsstück. Dafür bahnt sich aber eine interessante neue Variante der Schafskälte an, und die fällt auch in eine thermisch naheliegendere Jahreszeit, den Winter. Und sie hat natürlich weniger mit den blökenden Nutztieren zu tun, sondern mit uns. Wenn nämlich die Gaslieferungen, auf die unsere Heizungen, Wirtschaftssysteme und Infrastrukturen angewiesen sind, in größerem Umfang ausbleiben, dann wird es in Ermangelung hinreichender Wolldichte auf unserer Haut vorauszusehenderweise und bemerkenswert kühl. Und das nicht nur für ein paar Tage, sondern für ein paar Monate. Dann sind wir deutschen Normalverbraucher sozusagen die Geschorenen. Das ist eine Schafskälte, die sicherlich hätte vermieden werden können, wenn es eine weniger schafsköpfige Einschätzung der Abhängigkeitsverhältnisse gegeben hätte. Ich will aber nicht nachtreten. Im Nachherein ist man immer schlauer. Nun wird es darauf ankommen, bei aufziehender langfristiger Schafskälte enger zusammenzurücken, um möglichst unbeschadet in den nächsten Sommer zu kommen. Ein Gegenprogramm zur Corona-Vereinzelung?

Helmut Aßmann

 


Bundeswehr

12. Juli 2022

 

 

Unlängst saß ich in einem dieser überfüllten ICE‘s mit eingebauter Verspätung, in denen man sich dann mühsam einen Platz erkämpfen muss, weil die Reservierungsdaten irgendwie verloren gegangen sind. Und zwar saß ich genau hinter solch einem Kommunikationsviererarrangement mit Tisch und konnte – ohne aufdringlich, neugierig oder sonstwie minderwertig ambitioniert zu sein – den munteren Reden und Gegenreden meiner Beisassen lauschen. Die Beisassen bestanden aus 2 uniformierten Soldaten im Rang von Hauptfeldwebeln (ich hab mal gedient und kenne mich deswegen damit immer noch ein bisschen aus) und insgesamt 6 jungen Damen. Also, die Viererarrangements befinden sich ja auf beiden Seiten des Ganges. Das Gespräch war für meine Ohren laut genug. Es drehte sich um eine Art Generalerkundung des Universums „Bundeswehr“ durch die weiblichen Teilnehmerinnen. Die beiden Herren vom Militär gaben sichtlich gern, bereitwillig und kundig Auskunft über alles, was es an auflaufenden Fragen gab: Von der Uniform über die Quartiersqualität in Kasernen, die persönliche Bewaffnung und die Reichweite von Befehlsstrukturen bis hin zu individuell empfundenen Bedrohungslagen. Dass es bei den Streitkräften tatsächlich gelegentlich um Leben und Tod gehen könne, war das Interessanteste. Üblicherweise war man eher Genderfragen, Ausrüstungsdefizite und Beschaffungsdesaster gewohnt. Dass in den Uniformen richtige Menschen stecken, die ganz real in Konflikten stecken, die tödlich ausgehen können, war für die jungen Frauen nachgerade cool – wie im Film irgendwie. Da sterben ja auch dauernd Menschen, aber hinterher geht man dann einen Capuccino trinken. Das funktioniert möglicherweise bei den Hauptfeldwebeln in den Uniformen bei den Realeinsätzen irgendwie nicht, oder …

Helmut Aßmann

 


9 Euro

04. Juli 2022

 

 

Das war jetzt mal eine wirkliche Ansage. Für 9 lumpige € einen Monat lang durch die Republik fahren. Zwar nur mit Regionalbahnen als Hochgeschwindigkeitsszug, aber dafür auch alle Nahverkehrsnetze. Wer jetzt noch herummeckert, dass sich niemand von allerhöchster Stelle um Mobilitätsentwicklung kümmert, hat den Schuss nicht gehört. Dass ein paar versprengte Syltbegeisterte nicht verstanden haben, dass Saufen auf Sylt sich nicht anders anfühlt als Saufen in Oer-Erkenschwick, nur dass man da noch 9 € draufgeben muss, rechnen wir mal als unterhaltsame Posse. Das eigentlich Blöde an dieser Signalattacke der Regierung und der Bahn ist der Umstand, dass die heruntergewirtschaftete Bahn bei der Drangsal der zahllosen Nahverkehrsenthusiasten erst jetzt so richtig zeigen kann, nein: muss, was sie nicht mehr drauf hat. Vorher wussten das nur die Pendler und ICE-Nerds, die mit den Begründungen für ausgefallene, verspätete oder verfahrene Züge schon Bullshit-Bingo spielen können. Jetzt wissen es alle. Ein Nachmittag in den überfüllten, halbkaputten und stets unzuverlässigen Regionalbahnen wird hier als experimenteller Selbstversuch empfohlen. Die Einsicht, dass die Teilprivatisierung der Bahn zum 1.1.1994 keine wirklich gute Idee gewesen zu sein scheint, konnte man unter der Maßgabe einigermaßen bezahlbaren Autoverkehrs noch erfolgreich verdrängen. Nun drängen Klimakrise, Ölknappheit und Inlfation es mit Macht an die Oberfläche. Mit 9 € kommt man gerne mal nach Sylt und zurück nach Oer-Erkenschwick, aber als Mobilitätsanbieter auf Dauer nicht über die Runden. Was schmerzlich erkennbar wird, ist die Fehlannahme, dass Profitorientierung mitnichten eine Garantie für Höchstleistung ist. Hoheitliche Aufgaben und Renditeverpflichtung schließen sich à la longue eben aus. Das hat mit der zugrundeliegenden Interessenlage zu tun. Vorsicht also vor gewinnorientierten Spiritualitätsunternehmen …

Helmut Aßmann

 


Augen geradeaus!

26. Juni 2022

 

 

Wer bei den Streitkräften „gedient“ hat, kennt das noch: Dieses besondere Kommando bei der ordentlichen Aufstellung einer militärischen Gruppe. Formalausbildung nannte man das. Nachdem ein „Richt‘ euch!“ dafür gesorgt hat, dass man durch die Drehung des Kopfes nach rechts und eine Orientierung am Nachbarn wirklich in eine Linie zu stehen kommt, werden die Augen wieder abrupt nach vorn ausgerichtet. Alle schauen in dieselbe Richtung. Als Exerzierkommando hat das etwas Ruppiges, Übergriffiges an sich. Als Ordnungselement ist es überaus effizient. Wenn alle dasselbe sehen, weil sie auf dieselbe Szenerie schauen, ist die Wahrnehmung, jedenfalls äußerlich, harmonisiert. Natürlich lässt sich die Menge an Perspektiven, die schon ein kleines Rudel Menschen aufbringt, von keiner ordnenden Macht dieser Welt einfangen. Harmonisierung ist nicht Egalisierung. Aber, das wussten schon die Stadtplaner der Antike, in den Mittelpunkt von Gemeinwesen gehören Orientierungsbauten, -plätze, -einrichtungen und -rituale, damit es eine Mitte gibt, auf die sich alle beziehen können. Unmarkierte Orientierungen sind keine. Der Irrtum der unbekümmerten Individualismusbefeierung übersieht, dass wir nicht nur nebeneinander, sondern mit- und voneinander leben. Damit das geschehen kann, bedarfs es eines Mindestmaßes an gemeinsamer Orientierung. In 4. Buch Mose, Kap.11 findet sich eine feine Veranschaulichung dazu: Die Siebzig Verantwortlichen für das wandernde Gottesvolk stellen sich im Kreis rund um das Heiligtum auf, die sogenannte Stiftshütte, um für ihre Aufgaben geistig ausgerüstet zu werden. Jeder bleibt, der er ist, aber es gibt einen gemeinsamen Bezug. Man muss zum Glück keine Formalausbildung machen, damit so etwas geschieht. Der gute alte Kirchturm in der Mitte der Städte und Dörfer reicht gelegentlich schon.

Helmut Aßmann

 


Auslagerung

20. Juni 2022

 

 

Eine klassische Vermeidungsstrategie: Aus den Augen, aus dem Sinn. Man parzelliert die Realität, setzt einen mentalen Zaun um die unschönen Reviere und kann mit ein wenig Anstrengung glauben, dass die Welt eigentlich ganz in Ordnung sei. Den Müll stellen wir – ordentlich – an den Straßenrand, damit er irgendwo auf einer Müllkippe landet, von Hungerlöhnern sortiert, in irgendwelchen Gewässern verklappt oder als Wertschrott verhökert wird. Das muss uns dann nicht mehr interessieren. Stromversorgung lagern wir an die Atomkraftwerke aus Frankreich oder Polen aus, dann haben wir nicht den Stress mit den AKW - Protestierern. Nationale Sicherheit wird an die USA und die NATO abgegeben, dann können wir so tun, als wäre der Frieden ohne ethischen Aufwand gesichert. Öl und Gas kommen aus Russland, dann haben wir auch nur einen Vertrag zu unterschreiben, dasselbe gilt für die Elektroteile aus China. Teure Arbeitsplätze nach Indien und billige Klamotten aus Pakistan. So könnte man fortfahren. Dass die gesamte Lebensumgebung, in der wir Mitteleuropäer unser Dasein fristen, auf ausgesprochen fragilen und gelegentlich auch sehr fragwürdigen Fundamenten, Geschäften, Annahmen und Versprechungen ruht, wird dieser Tage mit ungeahnter Heftigkeit deutlich. Nicht dass man das einfach abstellen könnte. Wir sind immer abhängige Wesen und müssen Verantwortlichkeiten auslagern. Niemand ist autark. Aber es gibt offenbar eine kritische Masse an Wirklichkeitsverdrängung, die gegen die Störungen aus der realen Welt nicht mehr ankommt. Dann fallen einem die ganzen aus dem Sinn gekommenen Deals und Abschichtungen auf die Füße. Das tut weh. Für eine Neujustierung der eigenen Lebensperspektive ist es freilich hilfreich. Und es hilft zudem, die wichtigste Auslagerung in den Blick zu nehmen: die Vergebung der Schuld.

Helmut Aßmann

 


Teuerung

03. Juni 2022

 

 

Teuerung – so nannte man früher einmal das, was heute Inflation heißt. Die alten biblischen Schriften berichten immer wieder von Situationen der Teuerung, in denen das Geld knapp, die Ware schlecht und der Markt abgeräumt war. In Zeiten von Nobelpreisen, die an Wirtschaftswissenschaftler verliehen werden, kann einem glatt das Gefühl dafür verloren gehen, dass wir es vor allem mit Schicksal, weniger mit Planung, eher mit Glück oder Pech anstelle von Strategie zu tun haben, wenn es um Wohlstand, Frieden, Reichtum und Stabilität geht. Es reicht ein Krieg am Rande Europas, um die ganze fragile Komplexität der finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenhänge offenzulegen. Ein armseliges Schiff im Suez-Kanal torpediert weltweite Lieferketten. Der Corona-Ausbruch in Shanghai stellt die Montagebänder in hiesigen Produktionsstätten still. Ein zaudernder Politiker, ein größenwahnsinniger Silberrücken, eine falsche Tonlage auf dem Börsenparkett – schon schießen die Preise nach oben, Menschen verlieren ihre Arbeit, Regionen veröden gesellschaftlich. Die sogenannte „unsichtbare Hand des Marktes“, ein Bildwort des schottischen Ökonomen Adam Smith (1723 – 1790), die dafür sorgen soll, dass am Ende alles egoistische menschliche Getue in eine allgemeine Hebung des Gemeinwohls mündet, ist eher ein Ausdruck christlicher Hoffnung als eine wohlbegründete Theorie. Die Alten haben deswegen neben dem ihnen zur Verfügung stehenden Sachverstand stets auf Gottes Hilfe gesetzt in solchen Zeiten der Teuerung. Nicht etwa, weil ihnen nichts Besseres eingefallen ist oder die Hoffnung eben zuletzt stirbt, sondern weil entweder Gott noch den Überblick zu behalten und dann hilfreich einzugreifen vermag oder sonst eben niemand. Das ist nicht kindlich, sondern realistisch. Und es bewahrt immer wieder einmal menschliche Hybris davor, mit Sachverstand die Sachlage zu verschlimmbessern.

Helmut Aßmann
 


Demokratieförderung

23. Mai 2022

 

 

Ernstzunehmende Gerüchte sagen die Entstehung und Verabschiedung eines sogenannten „Demokratieförderungsgesetzes“ voraus. Die derzeitige Innenministerin hat dieses Projekt im Visier, aber es liegt auch ganz in der Linie aller derer, denen die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsformat am Herzen liegt. Also eigentlich im Interesse aller gutmeinenden Zeitgenossen. Wenn man da nicht so ein leicht säuerliches Gefühl hätte, wie verschieden so etwas angestellt werden könnte: Demokratieförderung als pädagogisches Modul im Kindergarten. Neben Genderpolitik, Migrationstoleranz und Japanisch als optionaler Fremdsprache im zweiten Jahr? Oder Zwangsbeschulung nach der fünften Klasse mit anschaulichkeitsverstärkenden Exkursionen wahlweise nach Ungarn oder Russland, um die Gefährdung der „richtigen“ Demokratie zu illustrieren? Wir werden sehen, wer die Definitionshoheit über das übernimmt, was dann als demokratisch gelten und vertreten kann und was nicht. Wohl wird einem bei diesen Überlegungen nicht, auch wenn das Gefühl, dass bei schwächelnden Wahlbeteiligungen und wachsenden Extremismuswerten dringend etwas getan werden muss, nichts weniger als unverständlich ist. Aber es gibt einen seit Luthers Zeiten eingebauten evangelischen Reflex, dass staatliche oder staatsanaloge Institutionen eine verhängnisvolle Neigung haben, politische, religiöse und weltanschauliche Zwangsbeglückungen als notwendige Schritte zu Rettung der geistigen Welt zu markieren, um dann Erziehungsprogramme auf die unvorbereitete Menschheit loszulassen. Im Ergebnis hat das noch nie etwas Gutes hervorgebracht. Oder um es positiver zu formulieren: Wer auf dem Zwangswege Ordnung schaffen oder durch pädagogische Veranstaltungen geistige Positionen fixieren will, hat seine Rechnung ohne den Geist des Menschen gemacht. Der will immer beides: Freiheit und Ordnung. Zusammen gibt es das in Vollendung nur im Himmel, nicht auf Erden. Wäre schön, wenn so ein Demokratieförderungsgesetz Vielfalt hervorbringt und nicht ein Bataillon erstklassiger Demokraten.

Helmut Aßmann

 


Muskerade

17. Mai 2022

 

 

Früher gab es mal so etwas wie Politik. Kaiser, Könige, Präsidenten, Parlamente und Allianzen haben sich um Territorien gestritten, Spionage veranstaltet, Verträge geschlossen und sich irgendwie einer Art Herrschaftslegitimation bedient, so fragwürdig das auch bisweilen war. Zwischen dem Gottesgnadentum des zweiten Wilhelm und der Überzeugung, dass alle Macht vom Volk ausgeht, gab es eine ganze Reihe von Begründungen, warum eine politische Entscheidung nicht einfach kraft eigener Wassersuppe, sondern zum Wohle von irgendwem und im Auftrag von irgendwas im Letzten zu verstehen sei. Elon Musk ist eine Figur, an der diese Zuschreibungen zerschellen. Wenn man sich die Unternehmen anschaut, mit denen er gerade nicht nur die Geschäfts-, sondern die ganze Welt überzieht, wird man den Eindruck nicht los, hier spiele jemand so etwas wie globales Roulette. Einfach so. Für den Ukraine Krieg leiht er den Ukrainern den Code für sein Starlink-System – mit nicht unerheblichen Folgen für den Verlauf des Krieges, und: er hätte es auch einfach andersherum machen können, ist ja alles sein Eigentum –, den Nachrichtendienst Twitter kauft er für seinen mehr oder minder persönlichen Öffentlichkeits- und Kommunikationsbedarf, die Wasserversorgung ganzer Großstädte wird durch Gigafactories gefährdet, für die ganze Landesregierungen einen archaischen Regentanz werden aufführen müssen. Und wenn seine Neurofirma, die mögliche Schnittstellen zwischen Computerchips und menschlichem Gehirn bearbeitet, zu einem substantiellen Ergebnis kommt, dann laufen irgendwo auf der Welt die ersten Cyborgs aus echter Biomasse mit menschlichem Angesicht vom Band. Super. Irgendeine belangvolle politische Entscheidung ist da nicht zu sehen. Zumeist freut man sich, die Muskerade auch auf dem eigenen Hoheitsgebiet einmal ablaufen zu lassen. So gesehen, können sich alle Karnevalisten freuen: Immer Rosenmontag. De Zoch kütt!

Helmut Aßmann

 

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Fortschritt II

02. Mai 2022

 

 

Der Soziologe Andreas Reckwitz hat in einem bemerkenswerten Aufsatz darauf aufmerksam gemacht, dass die Kosten dessen, was wir den gesellschaftlichen oder zivilisatorischen Fortschritt nennen, in der Regel verschwiegen oder umetikettiert werden. Zum einen, weil wir diese Kosten nicht wirklich berechnen können. Wer will Umweltzerstörung und Klimawandel, Ressourcenplünderung und Verlust an Artenvielfalt wirklich abschätzen? Sowohl der Atlantische Ozean als auch der Feldhamster sind trotz deutlich unterschiedlicher Größe gleichermaßen unbezahlbar. Zum anderen aber auch, weil wir die Kosten einfach nicht wahrhaben wollen: Die Überforderung ganzer gesellschaftlicher Milieus durch Arbeitstempo, infrastrukturelle Komplexitäten, Bildungserfordernisse oder aus dem Ruder laufende Work-Life-Balances. Der Verlust an handwerklicher und musikalischer Kompetenz in der gesellschaftlichen Breite. Die Konzentrationsschwächen, Desorientierungen und Antriebsstörungen einer ganzen Generation. Fettleibigkeit, Depressionen und Herzinfarktrisiken. Und so weiter. Wer nicht mithält oder mithalten kann, hat offenbar – persönlich – etwas falsch gemacht. Schlechte Karriereplanung, falsches Investment, schwacher personal coach. So wird das Fortschrittsvorhaben gewissermaßen entschuldet. Und wer sich zu einer grundsätzlichen Kritik gegenüber der Fortschrittsidee versteigt, riskiert den Verdacht, er habe den fundamentalen Wert des fortschrittlichen Zivilisationsprozesses nicht verstanden. Der Fortschritt als gesellschaftliche Leitidee hat – wie alles im normalen Menschenleben – einen Preis. Der ist nicht Null oder vernachlässigbar. Die Frage ist nicht, wie man ihn zu Null bringen kann. Das funktioniert nicht. Die Frage lautet eher, ob man ihn entrichten will. Und irgendwann auch: Ob man ihn überhaupt entrichten kann. Als Einzelner und als Gesellschaft.

Helmut Aßmann


Fortschritt I

25. april 2022

 

 

Eigentlich war mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges klar: damit hat das Zeitalter der Kriege in Europa ein Ende. Dieser gebeutelte, größenwahnsinnige, kreative und hochkomplexe Kontinent sollte nach 1945 seine Lektion in Sachen Gewalt gelernt haben. Nürnberger Prozesse, Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag, die Ächtung des Genozids – mehr an juristischer Infrastruktur lässt sich kaum denken. Die Gründung der Vereinten Nationen, die Schlussakte von Helsinki, die NATO – Russland Grundakte und die intensiven wirtschaftlichen Verflechtungen deuteten darauf hin, dass es einen realen Fortschritt in Sachen Sicherheitspolitik zu verzeichnen gab: Hin zu Frieden – statt Rüstungspolitik, weg von vom Kalten Krieg in Richtung temperierter multinationaler Kooperation. Spionage und Desinformation gab es noch als musealen Bestand in den Bond-Filmen der 60er und 70er Jahre, aber die wahren Bösewichter verbargen sich in anderen Branchen: Chemielabore, digitale Nerds und Öl-Magnaten. Und die schienen irgendwie beherrschbar zu sein. Darauf haben wir uns verlassen. Es sah alles so aus. Und wir haben es gerne geglaubt. Spätestens seit dem 24.2.2022 muss man nun feststellen: Das war ein Irrtum. Vor allem ein deutscher Irrtum. Der Fortschritt hat gar nicht stattgefunden. All die alten Reflexe sind noch unvermindert da. Ja, eher so: Sie sind nie weg gewesen, wir haben nur woanders hingeschaut. Sie haben sich im Schatten des Luxusglanzes und der materiellen Überfülle, das uns die Seelen und Augen verblendet hat, neu sortiert und darauf gewartet, dass sie wieder einen Anlass zum Auftritt bekommen. Und den bekamen sie. Ja, doch, es gab einen Fortschritt, wir wollen das nicht einfach wegreden. Aber der bezog sich auf Gegenstände wie das Bruttoinlandsprodukt, den Energieverbrauch und den durchschnittlichen Medienkonsum. Das, was in biblischer Sprache Sünde heißt, hat mit allem Fortschritt mitgehalten und sich nicht verbraucht.

Helmut Aßmann


„Z“

21. april 2022

 

 

Auf den russischen Militärfahrzeugen wurde es zuerst gesichtet und als eine Art Logo identifiziert. Inzwischen ist es nachgerade eingeführt in der medialen und der analogen Welt als Bekenntnis zur Unterstützung der Putinschen Ukraine-Politik. Auch im zivilen Leben taucht es auf, bei Auto-Korsos, auf T-Shirts und in Turnwettbewerben, als Grafitto oder Beschriftung irgendeines gut sichtbaren Hinweiszeichens. Einige Bundesländer haben angekündigt, die Verwendung des „Z“ unter Strafe zu stellen. Was genau es bedeutet oder bedeuten soll, ist kaum sicher anzugeben, zumal es diesen lateinischen Buchstaben im kyrillischen Alphabet gar nicht gibt. Der Lautwert des deutschen „z“ ist am ehesten im kyrillischen Buchstaben „ц“ wiederzufinden. Das „z“ sollen also ganz offensichtlich Leser lateinischer Schriften zur Kenntnis nehmen. Gemäß nachgeschobener Auskunft des russischen Militärs will es – wie eine Abkürzung – verstanden werden als „für den Sieg“ oder „für den Frieden“ oder einfach „für Putin“. Das „z“ ist demnach nur ein Kürzel für eine Präposition; den Rest kann sich dann jeder denken. Oder sich vordenken lassen, je nachdem, wonach einem der politische Sinn steht. Für „irgendwas“ also. „Irgendwas“ ist schließlich immer. Ein grandioser Leerwert. Das „z“ erspart einem, irgendeine Aussage verbindlich zu machen. Mit einem – geliehenen – Buchstaben zieht man sich aus der Affäre, ohne irgendeine belastbare Auskunft gegeben zu haben.
Am naheliegendsten erscheint mir indes die Erläuterung, dass man das „z“ benötigte, um die Kriegsgeräte der Russen von den baugleichen der Ukrainer, Georgier, Kasachen, Tschetschenen unterscheiden zu können.  Das geschwisterliche Massaker braucht wenigstens eine Konfliktsignatur, wenn schon sonst kaum plausibel wird, warum Krieg um Krieg in die osteuropäischen Länder getragen wird. Wenn man die Feindschaft schon nicht verstehen kann, soll man den Feind wenigstens sehen können.

Helmut Aßmann


Ohnmacht

11. april 2022

 

 

Nach den Bildern aus dem ukrainischen Butscha weiß man nicht, wohin mit sich, seiner Empörung, seiner Scham als Mensch, seiner Trauer und Wut. Unmittelbare oder mittelbare Kriegserinnerungen mit dem ganzen Horror von Gewalt, Blut und Entsetzen drängen sich neben Zukunftsängsten in mannigfaltigen Ausprägungen und einer dunklen Ahnung, dass wir keine wirkliche Verfügungsgewalt über die laufende Geschichte haben, in die ohnehin reizüberfluteten Seelen. Und Rachegelüste, verdruckst oder ganz frei heraus. Radikalen Kehraus, Tyrannenmord, solche Sachen. Aber wohin mit der Energie, die weder reales Ziel noch legitimierten Auftrag hat, sondern vor allem und drängend eine möglichst befriedigende Entladung sucht? Der therapeutisch naheliegende Hinweis, diese Energie solle besser produktiv genutzt oder bearbeitet werden, hat sowohl eine zynische wie eine alberne Note, so naheliegend und zeitgemäß er sich auch anhört. Auch biblisch gibt es diesbezüglich keine Vorschläge zu spirituellen „Prozessen“ zu vermelden, an deren Ende irgendeine „Verarbeitung“ stünde. Stattdessen findet man dort – üblicherweise in den Gesangbuchauskopplungen immer weggelassen – vor Gott ausgesprochene, ja, ausgestoßene Rachegedanken, Bitten um Vergeltung und Flehen um einen gerechten Ausgleich: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Der Ohnmächtige bittet den Allmächtigen um Beistand in Gestalt handfester Gewalt. Warum so etwas „in der Bibel steht“? Nun, nach den Bildern vom Ukraine-Krieg wird es erstens (wieder einmal) plausibel und zweitens deutlich, warum sie sogar nötig sind: „Die Rache ist mein, spricht der Herr, ich will vergelten“ (5. Mose 32, 35, zitiert bei Paulus in Röm. 19,19) – nicht etwa, um die Rache zu denunzieren, sondern um sie in die kompetentesten Hände zu geben.

Helmut Aßmann

 


Wladimirs

01. april 2022

 

 

Bemerkenswert: Die beiden Präsidenten der kriegführenden Parteien in der Ukraine hören auf den gleichen Vornamen. Zwischen Wladimir und Wolodymyr ist erkennbar nur eine Lautverschiebung zu notieren. Ob der deutsche Name Waldemar aus dieser Bedeutungslinie stammt, ist nicht geklärt, aber auch nicht unwahrscheinlich. Wladimir / Wolodymyr heißt so viel wie „groß in seiner Macht“, aber auch „Friedensherrscher“ oder „Herrscher über die Welt“. In jedem Fall eine Ansage, die Großes im Sinn oder vor Augen hat. Die Nachnamen der beiden sind übrigens eher unergiebig, was direkte Bedeutungen anlangt. Zwei Wladimirs / Wolodymyrs sind also dabei, nicht nur kriegerische Handlungen auszutauschen und gegeneinander zu führen, sondern dabei herauszufinden, wer denn am Ende tatsächlich „groß in seiner Macht“ ist. Sicher, man darf es nicht überheben und zu einer kulturkämpferischen Apokalypse aufsteigern. Aber die Wahl der Verfahren und der Motive dieses Waffengangs in der Ukraine sind überaus lehrreich. Hier der staatspolitische Goliath mit seiner z. T. seltsam lächerlichen Inszenierung an Monstertischen in weißen Palastsälen, dort der im einfachen Militärlook gekleidete, noch dazu jüdische kleine Mann als David; hier die Weltmacht, dort die weitgehend unbekannte Truppe von idealistischen Neulingen im Politikbetrieb; hier ein gewaltiger Propagandaapparat zur Manipulation öffentlicher Meinungen, dort ein Stakkato von Interviews direkt in die Parlamente der Welt (mit Ausnahme Russlands, Weißrusslands, Nordkoreas und Eritreas natürlich). Es ist für unsereinen nicht schwer zu entscheiden, welchem Waldimir man Ohr und Zuneigung schenkt. Wir kennen den Ausgang der Geschichte von David und Goliat. Aber, wie heißt es: Geschichte wiederholt sich nicht, aber gelegentlich reimt sie sich.

Helmut Aßmann


Tapferkeit

21. März 2022

 

 

1997 veröffentlichte Generalmajor i. R. Gerd Schultze-Rhonhof ein Buch unter dem Titel „Wozu noch tapfer sein?“, eine Publikation, die ihm vor allem geharnischte kritische Reputation einbrachte. In den Zeiten nach der Wende, in denen die sogenannte Friedensdividende mit vollen Händen ausgezahlt wurde, kam allein ein solcher Titel als unschicklich zu stehen. War doch, titelgemäß, in dem Buch ein unüberhörbar vorwurfsvoller Ton angeschlagen, der sich auf den Abbau der Verteidigungsfähigkeiten und der demokratischen Legitimierung von ernstzunehmenden und einsatzbereiten Streitkräften bezog. „Warum noch Soldat sein?“ – das war die bohrende Frage, die er mit viel Bitterkeit ohne Aussicht auf eine qualifizierte Antwort stellte. Und die Soldatentugend der „Tapferkeit“ rief eine zwiespältige Erinnerung an verlorene Kriege auf, die sich wie ein Schatten über all das legte, was mit Militär, Waffen und Uniformen zu tun hatte. Daran hat auch der 11.9.2001 nicht wesentlich etwas geändert. – Das Adjektiv „tapfer“ kehrt nun aktuell in den allgemeinen Sprachgebrauch ohne jeden diskreditierenden Ton zurück. Sein bevorzugter Träger ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, es gilt aber auch all den Kämpfern, die sich mit mehr oder weniger militärischem Sachverstand, aber ungeheurem Eifer und Widerstandswillen der russischen Armee entgegenstellen. Ihnen wird die gute alte „Tapferkeit“ attestiert, es werden neue Helden und Heldinnen befeiert, und die Kämpfe in den Städten und Dörfern der Ukraine werden als heroisches Engagement bewundert. Und das nicht nur, weil es das Gesetz der medialen und rhetorischen Aktualität verlangt, sondern weil sich durch den Ukrainekrieg unversehens herausstellt, dass Tapferkeit und Treue, die beiden Tugendelemente des Soldateneides, in Zeiten maximaler Unsicherheit jene Kräfte darstellen, die Orientierung und Zuversicht geben. Schultze-Rhonhof hätte sein Buch heute nicht mehr schreiben müssen.

Helmut Aßmann


Fieber

14. März 2022

 

 

Überall steigt die Temperatur. Nicht nur auf der Erdoberfläche, wo die Polkappen zu schmelzen beginnen und der Meeresspiegel in den kommenden Jahren die Küstenlandschaften bedrohen wird. Auch in den sozialen Netzwerken und der öffentlichen Meinungsbildung ist der Diskurs mit kühlem Kopf und wohlerwogenen Argumenten dem modernen hatespeech, dem hitzigen Stalken, Dissen und Mobben nicht mehr gewachsen. Binäre Pro- und Contra-Votings statt Zuhören und Verstehenwollen. Und zu guter Letzt tritt nun auch noch der Krieg in den Alltag Europas ein. Die menschliche Welt leidet unter einem Fieberwahn, der auf eine kritische Verfassung der Menschengemeinschaft schließen lässt. Wenn es gut geht, erholt sich ein Patient danach und gewinnt neue Kraft. Wenn es schlecht läuft, geht er am Fieber zugrunde. Die Apokalyptiker aller Lager sehnen auf eine merkwürdig suizidale Weise dem Untergang herbei, der freilich sie selbst nicht treffen soll. Die Glaubenden erkennen aber ebenfalls ein altes Muster wieder: Der Glaube wächst mit der Not, und mit Fieber kannte sich der Gottessohn bestens aus.

Helmut Aßmann


Prophylaxe

08. März 2022

 

 

Man hätte es durchaus sehen und wissen können. Alle Dinge haben ja einen Vorlauf. Und wenn man genau hingeschaut, aufgepasst und sein Unbehagen ernst genommen hätte, wäre möglicherweise all das nicht passiert, was uns derzeit Herz und Verstand schwer und traurig macht: Klimawandel, Corona-Pandemie und nun auch noch der Ukraine-Krieg. Den Klimawandel thematisierte in aller Ausführlichkeit und Konsequenz bereits der berühmte Bericht des Club of Rome Ende der 60er Jahre. Dass uns pandemische Krankheitsereignisse bevorstehen, hatten ebenfalls Jahrzehnte vorher Biologen und Mediziner vorausgesagt, weil die menschlichen Gesellschaften den Lebensraum von Wildtieren immer stärker einschränken und damit die Gefahr einer Übertragung von Krankheiten wahrscheinlicher wird. Und die Ukraine? Nun, auch hier gab es seit der Brandrede von Putin in Davos 2007 und den folgenden öffentlichen Darbietungen seines Geschichts- und Nationalverständnisses genügend  Stoff, Anlass und Möglichkeit, eine finale Eskalation wie die jetzt geschehende zu verhindern. Warum aber ist es jeweils nicht passiert und kommt es erst aufgrund von Katastrophenereignissen zu einer wirklichen Reaktion, die dann ihrerseits – aus verständliche Gründen – etwas von Übersteuerung und Kompensationsverpflichtung an sich hat? Weiter zugespitzt: Was lässt prophylaktisches Handeln so zuverlässig scheitern? Vielleicht der Umstand, dass ihr Lobbyist dem Verdacht anheimfällt, er wolle die von ihm vorhergesagte Katastrophe für seine eigenen Interessen ausnutzen, Kriegsgewinnler sozusagen. Oder die Tatsache, dass Prophylaxe „nur“ mit Möglichkeiten, nicht mit Realitäten argumentieren muss. Oder, drittens, der uneinholbare Vorsprung sinnlicher Vergewisserung vor theoretischer Beschreibung. Vielleicht aber auch nur dies: Weil wir uns und unser Verhalten erst dann ändern, wenn wir müssen. Und das nicht, weil wir böse wären, sondern weil wir nicht wissen, was dann kommt.

Helmut Aßmann


Martenstein

28. februar 2022

 

 

Dem Martenstein, ausgerechnet dem Harald Martenstein (HM), einem der wirkungsmächtigsten Meinungsbildungsästheten der zeitgenössischen Leitmedien im Printbereich, ist eine Kolumne von seinem Hausorgan, dem „Tagesspiegel“ aus Berlin, gestrichen, d. h. aus dem digitalen Format gelöscht worden. Grund: Er hatte sich am 6.2. mit der Frage beschäftigt, wie das Tragen von „Ungeimpft“-Armbinden in Form von Judensternen bei Corona-Demonstrationen von Impfgegnern zu verstehen und zu bewerten sei. Am Ende seiner Überlegungen stand ein durchaus differenziertes Fazit: Es handele sich, so HM, zwar um eine anmaßende Aneignung eines Holocaust-Symbols, aber nicht zwingend um Antisemitismus. Der „Tagesspiegel“ begründet die Problematisierung und spätere Löschung des Textes u. a. mit folgender Formulierung: „Wir verzichten auf Provokationen um der Provokation Willen und vermeiden Graubereiche, die zu Missverständnissen einladen oder verleiten. Wir orientieren uns an Rationalität mehr als an Emotionalität und bleiben menschlich respektvoll“ (am 7.2. / 15.2.). Das ist nicht nur verwunderlich. Es ist erschütternd. Thematische „Graubereiche“, in denen Missverständnisse, Unschärfen und Zweideutigkeiten ihr natürliches Biotop haben, sind nun einmal der bevorzugte Gegenstand von geistiger Arbeit, Klärungsaufwand und Verstehensbemühungen. Für die „klaren“ Bereiche von Schwarz und Weiß benötigen wir weder Journalisten noch Philosophen, da reichen Nachrichtenticker. Es spricht für den ZEIT-Kolumnisten MH, dass er dem „Tagesspiegel“ die Brocken hingeworfen und sich aus dem Staub gemacht hat. Wer den intellektuellen Kontakt und die geistige Auseinandersetzung mit anstößigen, provokanten und Schmuddelimage-behafteten Fragestellungen scheut, reduziert sein thematisches Portfolio auf mainstreamkonforme Hofberichterstattung. Konfliktvermeidung macht lendenlahm. Mit solcher Geistesaskese haben schon die Kirchen keine guten Erfahrungen gemacht. Aber das ist auch wieder so ein Graubereich …

Helmut Aßmann


Der Tisch

21. februar 2022

 

 

War schon ein Hingucker: Macron bzw. Scholz und Putin sitzen zu einem persönlichen Gespräch an einem Tisch im Kreml, aber nicht irgendeinem Tisch, sondern einem Monstrum von ca. 6 Metern Länge (ohne Ausziehelemente) auf drei Säulen und als sehr langgestreckte Ellipse geformt. Grotesker geht es kaum. Das Möbelstück stammt übrigens aus Norditalien, so verrät uns das Internet, und wurde als Teil eines gewaltigen Möblierungsauftrages Mitte der 90er Jahre in den Kreml gebracht. Der Tisch erinnert an eine Szene des fast schon musealen Weihnachtsfilms „Der kleine Lord“ aus dem Jahr 1980, in der der kleine Lausbub Cedric Errol unversehens zum Erben des mürrischen Earl von Dorincourt avanciert und seinem misanthropischen Großvater an einem Kreml-artigen Tisch zum Abendessen allein gegenüber zu sitzen hat. Nun werden weder Macron noch Scholz zu irgendeinem Erbantritt die Gastlichkeit des Kreml zu würdigen Anlass gehabt haben. Und der Grund für das Monstertisch-Arrangement ist die Corona-Sorge seitens des russischen Präsidenten. Bzw. um es genauer zu sagen: Die Sorge des französischen Sicherheitsdienstes, dass die russischen Hygienespezialisten bei einem Corona-Test ihres französischen Gastes an dessen DNA-Daten hätten kommen können. So wurde der italienische Tisch zu einem festlichen Symbol des gegenseitigen europäischen Misstrauens. Wie lange man sich dort aufgehalten hat, ist nicht von Belang. Der Tisch als Medium herzlicher Abneigung reicht als dauerhafter medialer Marker. So begann es auch mit dem Earl von Dorincourt, der sich die Zappeligkeit seines ihm zuvor unbekannten Enkels mit räumlicher Distanz vom Leibe zu halten versuchte. Am Ende hat es nicht funktioniert. Es haben sich auch andere an den langen Tisch gesetzt. Dazu sind Tische schließlich – in erster und in letzter Linie – da. Nicht nur, wenn sie grün sind. Weiß geht auch. Hoffen wir das Beste.

Helmut Aßmann


Energieträger

14. februar 2022

 

 

Damit der zivilisatorische Prozess und das gesellschaftliche Leben, die Idee des Fortschritts und die Behaglichkeit des smarten Heims aufrecht erhalten werden können, braucht es Energie. Strom. Egal ob er aus Gezeitenkraftwerken, Öl- und Gasverbrennungsanlagen, Atommeilern oder Windparks gewonnen wird. Am Ende ist es immer: Elektrische Energie, die in tausenderlei Form und Dichte durch die Drähte unserer Stromnetze fließt. Die Kurve des Energiebedarfs geht mit Zeitpfeil steil nach oben. Tatsächlich handelt es sich dabei eigentlich weniger um die Erzeugung von Energie, sondern um Erzeugung von – das ist wichtig – verfügbarer Energie. Sie wird im physikalischen Sinn nicht erzeugt, sondern entbunden und aus den natürlichen Energieträgern mehr oder weniger aufwendig herauspräpariert. Kinetische, thermische, potentielle oder atomar gebundene Energie wird umgewandelt in Strom. Oder – im Falle von Verbrennungsmotoren oder Hausheizungen – direkt in Wärme oder Mobilität. Wegen der klimaschädigenden Nebenwirkungen nehmen allerdings die letzteren Verbräuche durch intensive politische Lenkung merklich ab. Die Sorge um die Energie könnte man ohne großen Aufwand auf einem noch bedeutenderen thematischen Feld markieren: Wie nämlich sorgt man sich politisch und gesellschaftlich um die geistige Energie, die wir benötigen, um nicht nur Materie zu formen, sondern auch Bewusstsein zu entwickeln angesichts der gewaltigen Herausforderungen einer menschlichen Zukunft? Auch hier gibt es natürliche Energieträger, Ressourcen sozusagen, aus denen die Kräfte für die Arbeit an der Menschheit herauspräpariert werden können. Religionen etwa. Philosophie. Außerwissenschaftliche Traditionen. Es kann nicht richtig sein, dass wir mittels eines kleinen Bildschirms weltweite Wirkungen erzielen und nicht in der Lage sind, die eigene Verantwortung für die kleine Welt des eigenen Lebens wahrzunehmen.

Helmut Aßmann


Schnee

08. februar 2022

 

 

Wie es aussieht, kommt der Winter auch ohne Schnee aus. Jedenfalls bei der Olympiade in Peking. Eis und Schnee, Kälte und rutschige Flächen bekommt man schließlich auch ohne dazugehörige Witterungsbedingungen auf die Plaine. In begrenztem Umfang machen wir das Wetter sicherheitshalber selber, damit wir prestigeträchtige Megaereignisse auch pünktlich gerissen kriegen. Skilanglauf geht im Notfall auch bei 10° am Rhein. Wenn dem Scheichtum Katar im Dezember dieses Jahres die Ehre zuteil wird, mitten in der ballunkundigen Wüste in gekühlten Stadien von höchstbezahlten Kickern das Runde ins Eckige bringen lassen zu können, gibt es eine weitere Auflage dieser Abkopplung von Umgebung und Veranstaltung. Erstmalig konnte man dieses Phänomen in Sotschi 2014 am Schwarzen Meer besichtigen: Winterolympiade in den Subtropen. Elon Musk hat vermutlich schon einen Masterplan zur Ausrichtung der Sommerolympiade 2034 in einer bis dahin zusammengebauten Orbitalstation in einer seiner vielen Ideentaschen. Wenn hinreichend Geld, technisches Geschick und politische Grandezza zur Verfügung stehen, kann man die Sportereignisse in Zeit und Ort beliebig verschieben. Dass die sogenannte olympische Idee diese Entkopplungen und Verdrehungen immer noch aushält und Athleten wie Zuschauer jedenfalls für eine gewisse Zeit in ihrer Aufmerksamkeit bindet, ist eine eigene Erwähnung wert. Die Bereitschaft, die Absurditäten dieser politischen Zirkusnummern aktiv zu missachten, hat etwas Religiöses an sich. Angesichts der realen Welt das Reich Gottes als tatsächliche Wirklichkeit zu predigen und daran zu glauben, ist ein zunächst einmal ähnlicher Akt. Aber, der Unterschied ist am Ende doch markant: IOC-Präsidenten haben mit dem Herrn Jesus nicht wirklich viel gemein.

Helmut Aßmann


Spaziergänge

31. januar 2022

 

 

Merkwürdige Szenerien. Da versammeln sich Demonstrationsteilnehmer zu nicht angemeldeten Demonstrationen an zuvor ausgemachten Plätzen, um gegen die Corona-Politik der Kommunal-, Landes- oder Bundesregierung zu protestieren, marschieren durch die Innenstädte und verwandeln diese sogenannten Spaziergänge wahlweise in Solidarisierungsbekundungen oder persönlich adressierte Drohgebärden im Stile der SA-Schlägertrupps aus der Nazizeit. Es wird einem unwohl in der demokratischen Haut. Interessant sind die Symbole, derer sich die Herren und Damen Spaziergänger bedienen. Allein der Treffpunkt, nicht selten die Kirchplätze. Nicht nur weil sich dabei um öffentliche Räume handelt (auch wenn sie oft durchaus dem Hausrecht der zugehörigen Kirchengemeinden unterliegen), sondern zusätzlich um öffentliche Räume mit einer besonderen Signatur: Die Kirche im Dorf, das christliche Abendland, die alte Kultur. Dass es sich nicht um Demonstrationen handeln soll, sondern um „Spaziergänge“, erinnert an Prozessionen, also Bekenntnis-, Vergewisserungs- und Verehrungshandlungen, die eigentlich in anderen Kontexten beheimatet sind. Schließlich die Kerzen, eine merkwürdige Übereinkunft von Wendezeittraditionen und kirchlich konnotierten Gedenkaktionen. Schließlich: Jedwede Form von Betroffenheit und alle spirituell konnotierten Äußerungen der Zivilgesellschaft werden bekanntlich seit einiger Zeit mit dem Entzünden von Kerzen markiert, also gehören sie fast automatisch auch zum Accessoirebestand der Corona-Spaziergänge. Da sind nun also seltsame Wallfahrten, Bittprozessionen und Gedenkwachen aufgeboten, als würde ein christliches Ritual vollzogen – dabei geht es lediglich um eine mehr oder minder dramatisch inszenierte Meinungsäußerung mit oft unappetitlichem Beifang. Es handelt sich – vorsichtig ausgedrückt – möglicherweise um eine Form der unstatthaften kulturellen Aneignung.

Helmut Aßmann


Ambidextrie

24. januar 2022

 

 

Eine Wortkreation aus der Berater- und Organisationsentwicklungswelt. Es klingt nach technischer Brillanz und gut abgehangener Professionalität. So ist es vermutlich auch gemeint. Wer in der Schule Latein gelernt hat, erinnert sich vielleicht dunkel: das Präfix „amb(i)“ steht für zweiseitig, doppelt, zweideutig, „dexter“ bedeutet zunächst einmal einfach „rechts“, meint aber auch die passende oder angemessene Seite. Ambidextrie bezeichnet insofern – formal, im Wortsinne – so etwas wie Beidseitigkeit oder Beidhändigkeit. Bei „Unternehmer.de“ findet man dazu folgende Definition: „Ambidextrie beschreibt die Eigenschaft eines Unternehmens, „beidhändig“ zu agieren – also gleichzeitig das Tagesgeschäft und inkrementelle Innovation zu managen als auch in der Lage zu sein, disruptive Innovation voranzutreiben“. Was für ein herrlicher Satz! Gleichzeitig inkrementelle Innovation managen und disruptive Innovation vorantreiben können – so hält man einen Betrieb am Laufen. Ach so, „inkrementell“, das müsste auch noch einmal dargestellt werden: „Inkrementelle Innovation ist die schrittweise Evolution von Vorhandenem als linear verlaufende Verbesserung“, so nachzulesen bei „green-salamender.de“. Ein bisschen schwindelerregend sind derlei ausgearbeitete Fachvokabulare schon. Dieses Gelehrtenvokabular erreicht durchaus das Format theologischer Begriffsarchitekturen. Es gibt die süffisante Anmerkung, Theologie (wahlweise auch Philosophie) sei die Übersetzung des Unbegreiflichen ins Unverständliche. Ambidextrösen Followern agiler Managementkonzepte muss man nun neidvoller- und fairerweise attestieren, dass ihre Wortakrobatik so etwas wie die Transformation des Unvermeidlichen ins Unerreichbare darstellt, unter Anempfehlung von allerhand kostspieligen Beratungsoptionen. Darin liegt auch ein gewisses Sucht- und Verzweiflungspotential. Je eleganter die Begriffe, um so angestrengter der Versuch, die Realität auf sie abzubilden. Ich gebe zu bedenken, dass das schon der Theologenzunft in aller Regel nicht gutgetan hat…

Helmut Aßmann


Fühlen

17. januar 2022

 

 

Seit einigen Jahren ist aus dem eher defensiv-widerfahrnisaffin besetzten Verbum „Fühlen“ eine außerordentlich kreative, bisweilen sogar offensive Tätigkeit geworden. Was jemand fühlt: Das war einmal das Ergebnis einer Erfahrung, die über ihn oder sie gekommen war wie schlechtes Wetter, eine Krankheit oder eine amor fou. Danach fühlte man sich unweigerlich so oder anders. Und die dazugehörige Frage formulierte auch so: „Wie fühlst du dich?“ Die Antwort bestand in der Regel aus kurzen, gelegentlich einwortigen Sätzen wie „gut“, „schlecht“ oder „so lala“. Die Grammatik der neuen Frageform verrät den Perspektivwechsel, der stattgefunden hat: „Wie fühlt sich das für dich an?“ Die Nachfrage gilt nicht mehr dem Empfindenden, sondern nimmt stärker das betreffende Ereignis oder Widerfahrnis in den Blick. Da werden im Grunde auch redseligere Antworten als nur simple Adjektive erwartet. Es wird damit – und darüberhinaus – in Rechnung gestellt, dass man mit dem wie auch immer beschriebenen Gefühl etwas anfangen kann oder wenigstens können sollte. Das Gefühl wird sozusagen funktionalisiert und von der Person abgelöst. Die Aufmerksamkeit richtet sich weniger auf die Befindlichkeit als auf die Wirksamkeit, die betrachtet werden soll. Hierher gehört auch die offensive Verwendung des Gefühls. In therapeutischen Zusammenhängen wird man gelegentlich aufgefordert, in irgendeine Richtung „hin zu fühlen“, also das Gefühl gewissermaßen zu lenken, um eine Auskunft über den Zielgegenstand des „Hinfühlens“ einzuholen. Ob es sich nun eine imaginierte Situation, eine Problemlage oder ein Entscheidungsszenario handelt: Man wird aufgefordert, sein Empfinden mit diesem Sachverhalt zu verbinden, um das dann entstehende Gefühl für die weitere Lebensgestaltung oder Entscheidungsfindung zu nutzen. Das ist – gegenüber dem rationalen Wägen von Argumenten – ein fundamental anderer Vorgang. Wer sagen kann, dass sich etwas für ihn „gut anfühle“, sieht sich der Mühsal gedanklicher Durchdringung gelegentlich überhoben. Ob es immer gut ausgeht, das mit dem „guten Gefühl“, bleibt freilich offen. Der Kopf ist vom Schöpfer ja nicht nur als Regenschutz konzipiert worden.

Helmut Aßmann


Wellengang

10. januar 2022

 

 

Nun also Omikron. Und die Aussichten auf die nächsten Corona-Wellen. Warum die so heißen, kann man nur so halb verstehen. Griechische Buchstaben, okay. Warum auf Delta nun Omikron folgt, ist eine eigene Wissenschaft. Die Buchstaben epsilon (ε), zeta (ζ) usw. bis  my (μ), ny (ν) und xi (ξ) vor dem Omikron im griechischen Alphabet sind nicht ausgelassen worden, sondern waren nicht auffällig in einem epidemiologischen Sinn des Wortes. Oder, so die WHO, sie stellen eine möglicherweise irreführende Bezugnahme her, beispielsweise „ny“, was im Englischen nach „new“ klingen könnte, aber eben nicht stimmt, oder „xi“, weil ein Mann namens Xi Jinping damit nicht in Zusammenhang gebracht werden sollte. Nun, mag sein. Die wissenschaftliche Bezeichnung für den Omikron-Erreger ist jedenfalls in der Tat eher langweilig und uninspirierend: B.1.1.529. Was die Omikron-Fälle auszeichnet, ist, soweit kann man den medienüblichen Verlautbarungen folgen, hohe Infektionseffektivität bei gleichzeitiger harmloseren Krankheitsverläufen. Danach wird dann, auch das ist schon prognostiziert, eine fünfte oder sechste Welle folgen. Mit immer neuen Namen, irgendwann ist das griechische Alphabet auch aufgebraucht, dann kommen möglicherweise hebräische, kyrillische oder arabische Buchstaben zum Einsatz. Die mitlaufenden epidemiologischen und medizinischen Alarmzeichen werden ebenfalls wechseln. Das Virus ist eben auch einfallsreich, wie alles, was irgendwie Zeichen von Lebendigkeit zeigt. Kurzum: Wenn Welle um Welle kommt, ist das wie bei einem Ozean, der ebenfalls niemals ganz zur Ruhe kommt. Vielleicht ist das Inaussichtstellen einer Virusflaute ebenso unangebracht wie die die Hoffnung auf einen dauerhaft windstillen Atlantik. Es kommt darauf an, wie man darauf fahren lernt. Es wird gehen. Das Leben ist einfallsreich. So hat Gott es geschaffen.

Helmut Aßmann


Halbe-Halbe

02. januar 2022

 

 

2022 könnte das Jahr werden, in dem die Kirchenmitgliedschaftsquote der deutschen Bevölkerung unter die 50% Marke rutscht. Wenn man orthodoxe Christen, Freikirchen und christentumsnahe religiöse Gruppierungen dazurechnet, landet man vermutlich wieder bei ca. 60%, aber die entscheidende Quote ergibt sich doch aus den Mitgliedszahlen der großen Kirchen, der Mitgliedskirchen der EKD und der römisch-katholischen Kirche. Mit einer Mischung aus nüchterner Faktenpräsentation, immer noch gelegentlicher Schadenfreude und einer zunehmenden gesellschaftskulturellen Besorgnis wird dieser Sachverhalt öffentlich registriert. Auf Wachstumskurs hingegen sind der Atheismus und der Islam in Deutschland. Die religionsbezogene Geburtenrate spricht da eine eindeutige Sprache. Nicht für die Christen oder Atheisten, sondern den Islam. Was bedeutet das? Der etwas mechanische Vorwurfsreflex, den Kirchen ihre Verfehlungen oder ihre Schlafmützigkeit anzulasten, ist wohlfeil, aber nicht stichhaltig. Vor allem dann, wenn sich eine Art Rachegelüst daruntermengt oder eine Selbstentlastungsattitüde, wenn man den Laden – oft aus außerordentlich sachfremden Gründen – schon lange verlassen hat. „Die Kirchen“ – wer soll das sein, und was genau machen „die“ falsch? Schlechte Videos, schwerfällige Verwaltungen? Als ob es um irgendein Unterhaltungsprogramm ginge, das schlecht choreografiert wäre. Wenn Religionen verdämmern, geschieht etwas anderes als Missmanagement oder Fehlproduktion. Gesellschaftliche Haltungen und Überzeugungen werden nicht in irgendeinem hohen Kämmerlein beschlossen, sondern entstehen in einem komplexen Prozess, den man im Nachhinein möglicherweise verstehen zu können meint, im Vorherein aber als Geschick erlebt. Dem ehedem christlichen Europa widerfährt eine epochale Veränderung, deren Stoßrichtung noch niemand bestimmen kann. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es zu früh zum Jubeln, zu spät zum Kleinreden und zu wichtig zum Ignorieren.


Reichtum

25. dezember 2021

 

 

Zu Weihnachten feiert die christliche Welt Gottes Reichtum an Erbarmen, den Reichtum seiner Gnade und den reichen Schatz seiner Geheimnisse. Reich sein – das ist seit Menschengedenken vor allem gekoppelt an viel Besitz. Die Beschreibungen der Reichtümer Salomos in der jüdischen Bibel können sich gar nicht genug tun in der Aufzählung der Tonnen an Gold und Silber, der Menge an Pferden und Kriegswagen und – nicht zuletzt – der Anzahl an Frauen, die er in seinem Harem zählte. Es geht in der Tat stets um Menge, wenn wir von Reichtum sprechen. Aber dass in den vergangenen Jahrzehnten „Reichtum“ auf nichts anderes als Besitz zu beziehen Gewohnheit geworden ist, offenbart eine Verkürzung dessen, was Menschsein wertvoll macht. Viele Freunde, lebendige Phantasie, vielfältige Gedanken, ein weites Herz oder ein starkes Gedächtnis, zahlreiche Erfahrungen oder mannigfaltige Interessen. Ein intensives Gebetsleben, ein breit angelegter Liedervorrat oder detaillierte Kenntnisse über Blumen, Strickmuster oder Motoren. Alles Ausdrücke eines reichen Lebens, ohne dass es mit viel Besitz oder einem ansehnlichen Kontostand verbunden sein müsste. Wenn das nun schon beim Menschen eine Verkürzung darstellt, wie ist es dann erst bei Gott? Gott irdischen Reichtum zu unterstellen oder zu vermuten, ihm  könnte daran etwas gelegen  sein, wäre albern. Wenn aber Reichtum nicht mehr anders verstanden werden kann denn als Besitzstand, dann wird auch die Vorstellung von Gott seltsam arm. Die großen Zuschreibungen von Allwissenheit oder Allmacht retten diese Armut nicht. Solche Begriffe sind zu abstrakt und dogmatisch unbeweglich. Sie helfen nicht, wecken kein Interesse. Dass Gott reich sein kann an Erbarmen angesichts der tragischen Verläufe von Menschsein, an Vergebung der Schuld, an Lebenskraft in Pflanzen, Tieren und Elementen, an Liebe zu allem, was existiert und an Aufmerksamkeit meinem kleinen Leben gegenüber – das zu meditieren lohnt über die Feiertage.

Helmut Aßmann

 


Weihnachtsgefühle

08. dezember 2021

 

 

Man schaue: Youtube/Penny, nehme sich ein Taschentuch und gebe sich seiner tiefen Ergriffenheit andächtig hin. Wem das nicht reicht, bitte sehr: Youtube/Aldi – dann ist man mindestens ebenso berührt. Rudolph the rednose reindeer und Tomte Tummetott sind müde Stories dagegen. Das erste Video ist von Penny, das zweite von Aldi. Wirklich. Weder das Logo der Discounterketten noch irgendein Produkt ist zu sehen, sondern es wird eine ergreifende Geschichte zur Weihnachtszeit präsentiert. Sei es (Penny), dass einer verlorenen Lebenszeit gemeinsam nachgetrauert und damit eine neue gemeinsame Lebensbasis gefunden wird, sei es (Aldi), dass eine vergurkte Vater-Sohn-Geschichte unter dem Einfluss weihnachtlicher Kräfte auf unerwartete Weise wieder ins Lot kommt. Kein Weihnachtsmann, kein Christkind, kein Lametta. Pure Menschlichkeit, leicht überzuckert. Dass auf diesem Wege das Weihnachtsfest mit elementaren menschlichen Bedürfnissen in schwierigen Lebenssituationen zusammengebracht wird, sei es als Verheißung, sei es als romantische Geschichte, geht sachlich völlig in Ordnung. Die Heilige Familie hatte schließlich auch weder Tannenbaum noch Bescherungstisch zur Verfügung. Dass allerdings ausgerechnet zwei Lebensmitteldiscounter (unabhängig?) darauf kommen, Weihnachten nicht mit einem neuen Preisfeuerwerk zu überblenden, sondern in eine Geschichte zu kleiden, könnte ein verheißungsvolles Zeichen sein. In der Mitte des Konsums erscheint so etwas wie Seele, unfrisiert und weitgehend unverstellt. Das ist in den konventionellen Weihnachtsgottesdiensten ja auch keineswegs selbstverständlich, zumal in Corona-verdüsterten Zeiten. Will sagen: Wer immer den Werbeleuten diese Idee eingegeben hat, es muss ein weihnachtlicher Geist gewesen sein.

Helmut Aßmann

 


Lärmschnüre

29. november 2021

 

 

Flugrouten, Schifffahrtspassagen, Autobahnen, Schienennetze: Sofern man sich diesen Verkehrssträngen nähert, bekommt man es mit Lärm zu tun. Wie Schnüre aus Verkehrsgeräuschen schlingen sich diese Pfade um den Globus und durchziehen alle Länder und Gegenden der Erde. Auf ihnen werden Menschen transportiert, Waren verfrachtet, Träume realisiert und Geschäfte gemacht. Jeden Tag, jede Nacht. Selbst oberhalb der Stratosphäre dasselbe Bild: Hunderttausende von Satelliten und Satelliten Resten fliegen um den Globus, allerdings mit dem Unterschied, dass sie hier mangels hinreichender Luftdichte keinen Krach machen können. Manchmal habe ich den Eindruck, als würden sich diese Lärmschnüre unter einem unsichtbaren, aber wirksamen Zwang zusammenziehen und den Planeten mit einer merkwürdigen Zusatzatmosphäre ausstatten: Einem ewigen Gebrumm, von den Pinguinen bis zu den Eisbären, von Neuseeland bis zum Nordkap, vom Meeresboden bis zu Tropopause. Eine Geräuschkulisse, hinter der die dezenteren Töne nahezu unhörbar werden: Die Worte, die Wind und Wasser an uns richten, das Flüstern der Jahreszeiten, die Töne in den Pausen unserer Worte, die unhörbaren Abstimmungen zwischen Mensch und Tier, Blume und Vieh oder Berg und Regen. Was keinem aufzeigbaren und unmittelbar einsichtigen Zweck dient oder nicht in einen nützlichen Kontext eingestellt werden kann, gerät in eine Hinterwelt, für die das Wahrnehmungsvermögen allmählich verschwindet. Bis sie dann fort und dem Verstehen nicht mehr zugänglich sind: Die Worte, die einmal großes Gewicht besaßen, die Bilder, aus denen wir Hoffnung schöpfen konnten, die Lieder, in denen wir uns verbunden haben, und die Gebote, die uns ein Maß gegeben haben. Nicht, dass es das alles nicht mehr gäbe. Das nicht. Aber der Weg dahin ist weiter geworden. Der Aufwand, um zu verstehen, ist größer, die Meister, die es uns vermitteln konnten, sind weniger geworden. Der Lärm, hinter den es zu horchen gilt, wird dichter.

Advent heißt: Auf die Stille hoffen.

Helmut Aßmann

 


Instagram-Account

22. november 2021

 

Ich habe keinen Instagram-Account. Noch nicht. Was bedeutet das? Erstens: So ganz genau weiß ich das nicht. In derart hochkomplexen Angelegenheiten weiß man nichts wirklich ganz genau. Aber zweitens: Ich gehöre deswegen entweder zur Gruppe derer, die einfach den Anschluss verloren haben und die Kommunikationsgeschwindigkeiten und -moden nicht mehr mitgehen können, oder zur Kohorte der Facebookverweigerer und vorsätzlichen social media-Analphabeten, die ethisch einfach schon einen entscheidenden zivilisatorischen Schritt weiter zu sein glauben. So jedenfalls meine ich es in den Augen derer zu lesen, die meine bislang notorische Instagram - Abstinenz kommentieren. Auch hier: Wohin ich mich selber einsortiere, kann ich gar nicht genau sagen. Mal das eine, mal das andere. Hängt ganz vom Gesprächspartner ab, um ehrlich zu sein. Jetzt drittens: Ich bekomme, egal wie man es jetzt dreht und wendet, nicht mit, was auf Instagram so „läuft“. Was geht mir an Wirklichkeit damit verloren? Erneut: Ich weiß es nicht genau. Das, was mir durch Kinder, Studierende und andere Instagram-Virtuosen geschildert wird, lässt mich, nun ja, nicht gerade darüber verzweifeln. Viertens:  Was bedeutet Instagram eigentlich? Das weiß ich jetzt aber. Es ist eine Zusammenziehung aus den englischen Wörtern „Instant camera“ und „telegram“, bedeutet also eigentlich irgendetwas „dazwischen“. Es ist der Name einer Firma, die von Kevin Systrom und Mike Krieger gegründet und 2012 von Facebook für damals sagenhafte 1 Milliarde Dollar gekauft wurde. Die Anzahl der Nutzer hat derweil ebenfalls die Marke von einer Milliarde überschritten. Ich bin, wie gesagt, (noch) nicht dabei. Noch etwas, fünftens: Wem wäre damit gedient, wenn ich einen Instagram-Account besäße: Ich fürchte, kaum jemandem. Es würde sich auch niemand freuen, außer Facebook natürlich. Aber die Herrschaften kenne ich nicht. Sie machen auch keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck nach all dem, was man so hört und liest. Aber genau weiß ich es auch nicht. Kurzum: Ich muss mich entscheiden. Aber ich weiß eben nicht genau, wofür…

Helmut Aßmann


Modernitätsmüdigkeit

15. november 2021

 

Es ist keine Kleinigkeit, die da in einem Dialog der beiden derzeit namhaftesten Soziologen deutscher Sprache als Bemerkung gefallen ist: Hartmut Rosa und Andreas Reckwitz haben ihr gemeinsames Buch „Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie“, Berlin 2021, in einem Videoclip vorgestellt, mit den für sie leitenden Perspektiven. Rosa, der durch seine „Resonanztheorie“  einen ebenso beeindruckenden Vorschlag zur Überwindung der rasenden Modernisierungsprozesse vorgelegt hat, wie Reckwitz, dessen Analyse von der „Gesellschaft der Singularitäten“ ebenfalls ein Millionenpublikum gefunden hat, arbeiten sich an den derzeitigen Krisensymptomen der spätmodernen Gesellschaft ab. Er wolle, so Rosa wörtlich, die Moderne „überwinden“. Man muss sich das auf der Zunge zergehen und es im Ohr verhallen lassen, dass an akademisch und gesellschaftswissenschaftlich höchststehender Stelle darüber nachgedacht wird, die Moderne als ein vergangenes oder wenigstens vergehendes Projekt rubrizieren zu wollen oder zu können. Nicht dass sie falsch gewesen wäre. Das ist nicht der Ton. Sondern, dass sie sich jetzt in einem Status befindet, in der sie nicht nur mehr Schaden als Nutzen anrichtet, und zusätzlich eine gewisse Sinnlosigkeit an den Tag legt, weil die treibenden Inhalte unplausibel geworden sind. Niemand kann mehr sagen, warum die gewonnenen 15 Minuten auf irgendeiner Autobahnstrecke der Lebensqualität der Gesellschaft zugute kommen sollen, wenn es am Ende nur um so formale (und langweilige) Dinge wie Beschleunigung, Effizienzerhöhung und Profitsteigerung geht. Die Lädierung von Menschen, Natur und Geist hat ein Ausmaß angenommen, das keine allgemeine positiven Zukunftserwartungen mehr zulässt, nur noch Perspektiven für 0.01% der Weltbevölkerung. Als hätte sich der produktive Furor der Neuzeit mit seiner Wissenschaftsbegeisterung, seinem Weltverbesserungspathos und seinen glanzvollen Menschheitsträumen inzwischen erschöpft. Der Ressourcenmangel ist nicht nur ein wirtschaftliches Faktum, sondern mehr noch ein tellurisches Syndrom. Alles und alle können nicht mehr. Und also auch nicht mehr einfach weitermachen.

Helmut Aßmann


Masturbatoren

08. november 2021

 

Ehrlich gesagt, war ich ein wenig überrascht, als ich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen unlängst einer Werbung für Masturbatoren zuschauen konnte, also: Selbstbefriedigungsmaschinen, für Männer wie für Frauen. Ein kurzer Besuch bei den einschlägigen Suchplattformen gewährte mir den Einblick in die Vielzahl der zur Verfügung stehenden Varianten: Vom „Men heat vibration“ über „Auflegevibratoren“ bis zum „Suck-o-Mat“ präsentiert sich eine reiche Palette von Sexualstimulantien, deren Gebrauch aus sozialen, hygienischen, vergnüglichen oder kompensatorischen Gründen angezeigt ist. Dass derlei Erwachsenenspielzeug so mehr oder weniger unverkrampft als beworbener Artikel über frei zugängliche Bildschirme geht, ist m. W. durchaus etwas Neues. Denn es hat ja für viele Generationen auch ohne elektrische Assistenz funktioniert, trotz erheblicher Bedrohungsszenarien seitens einschlägiger und entgegenstehender Erziehungs- und Moralvorstellungen.
Interessanter ist also die Frage, auf welchen Bedarf hier reagiert wird. Es muss von kundigen Bedürfnisscouts ausgemacht worden sein, dass für solche Geräte ein profitabler Absatzmarkt existiert. Versprochen wird nicht weniger als ein ultimatives Lusterlebnis ohne Partner. Optimierung des sexuellen Empfindens ohne die – zugegebenermaßen störungsanfällige – Beteiligung eines anderen Körpers, und dann noch mit einem Menschen darin... Woody Allen notierte dazu die sarkastische Bemerkung, so etwas sei „Sex mit jemandem, den man liebt“, gewissermaßen mit Erfüllungsgarantie. Nimmt man die zahlreichen Vergesellschaftungsportale (Tinder, Parship, ElitePartner. LoveScout24, usw.) hinzu, stellt sich der Eindruck ein, dass es entweder an der Existenz anderer Menschen gebricht, die als Sexualpartner in Frage kommen, oder am Zutrauen, ihnen auch auf den Leib zu gehen. Möglicherweise sogar beides. Weil aber Maschinen aller Art uns seit der industriellen Revolution das Leben fraglos erheblich erleichtert haben, könnte das mit Matching-Algorithmen und eDildos ja vielleicht auch funktionieren, ohne dass wir uns zusätzlich anstrengen müssten.
Ach, da sei die Liebe vor!

Helmut Aßmann


Missbrauch

03. november 2021

 

Die Enthüllungen über sexuellen Missbrauch in den christlichen Kirchen sind furchtbar. Nicht allein der Zahlen wegen, sondern weil es ausgerechnet um das „Werteinstitut“ Kirche geht. Der Hinweis, dass anderwärts die Zahlen ebenfalls ungeheuerlich sind und in den Vergleich gezogen werden müssten, zieht unweigerlich den Verdacht der Beschwichtigung, Verschleierung oder Bagatellisierung auf sich. In Anbetracht der Opfer und der bei und an ihnen angerichteten Schäden verbieten sich Zahlenspiele von selbst. Die Kirchen werden im Vertrauensranking öffentlicher Einrichtungen nach unten durchgereicht. Sie erscheinen als höchst verdächtige Gesellschaften, die im Zweifelsfalle Wasser verkündigen und Wein saufen. Dagegen hilft kein Argument. Die verheerende weltweite Menge an Verfehlungen duldet keine differenzierende Ermäßigung, auch wenn sie sachlich noch so angebracht ist. Erwägende, verzögernde, zurückhaltende Erwägungen und Diskurse stehen unter massivem öffentlichem Druck, sich rasch und möglichst radikal zu positionieren. Ein Moment von Vergeltungsdrang mischt sich in die diesbezüglichen Debatten. Vieles wird allzu einseitig und tendenziös vorgetragen. Die Möglichkeit, es der jahrhundertelangen klerikalen Besserwisserei endlich einmal heimzuzahlen, hat für manche durchaus attraktiven historischen Charme, der von der Fakten nicht immer gedeckt wird. Gleichwohl: Die Missbrauchssituation und ihre Aufdeckung sind und dürfen nicht ausmanövriert werden. Sie sind Gericht, Geschick und Gelegenheit. Gericht über begangene, vertuschte, heruntergeredete Sünde. Daran ist kein Vertun. Und als dieses sind sie ein Geschick aus Gottes Hand, nicht nur aus dem menschlichem Aufklärungseifer. Darüberhinaus bilden sie eine bemerkenswerte Gelegenheit für alle Beteiligten, sich ernsthaft, ehrlich und ergebnisoffen zu fragen, worum es in der Religion eigentlich geht.


Helmut Aßmann


Superlative

25. oktober 2021

 

Die einzigste Frage, die man nicht beantworten kann, lautet: Wie geht die Steigerung von „einzig“? Die, Sprachpuristen bekommen schon leicht gequälte Gesichtszüge, die gibt es natürlich nicht. Einzig ist, wenn auch nicht grammatisch, so doch sachlich bereits der Superlativ. Weniger bzw. mehr als einzig geht nicht. Aber es hört sich gut an. Wirkt noch entschlossener. Dasselbe sprachliche Schicksal erleidet der optimale Sachverhalt. Er wird inzwischen wie jedes andere Adjektiv gnadenlos gesteigert: optimal, optimaler, am optimalsten. Obwohl das Optimum eben von Haus und Sache und Anliegen aus bereits – naja – eben das Optimum ist. Lateiner fügen als Erinnerung noch an: bonus melior optimus – gut, besser am besten. Der Aussagewille schert sich nicht um die grammatischen Verhältnisse, solange verstanden wird, was gemeint war. Die schönste Blüte dieser Übertreibungen sprosst am Halm des Wortes Konzept. Ein Konzept ist die Kurzform dessen, was man eine „Konzeption“ nennt. Sachlich nichts anderes, hört sich aber feierlicher an. Wem das nicht ausreicht, darf gerne auch weiter ausholen und von einer „Konzeptionierung“ oder gar einer „Konzeptionalisierung“ sprechen – da schwingt das Zustandekommen des Konzepts noch mit, aber im Ergebnis ließe sich dann das finale Wort „Konzeptionalisation“ ausmachen. Das wäre so etwas wie das Konzept, nachdem die Anfangskonzeption aus der Phase der Konzeptionalisierung herausgefunden hat und zu einem Sachverhalt geronnen ist. Das Verbum mag auch nicht dahinter zurückbleiben. Seine sprachliche Karriere begann beim schlichten konzipieren (von lat. concipere, zu deutsch: entwerfen) und ist über das Konzeptionieren bis zum Konzeptionalisieren gekommen. Der nächste Schritt wäre vermutlich der Übergang zum Konzeptionalisationieren – das hört sich noch umständlicher und also bedeutsamer an. Das Ganze nennt man dann zum Schluss einen vollenden Konzeptionalisationismus, die optimalste, wenn auch nicht die einzigte Form von Sprachverschwendung.


Helmut Aßmann


Optimierungsfalle

18. oktober 2021

 

Prozessoptimierung – ein Signalwort für moderne Arbeit. Prozesse in der Industrieproduktion, der Verwaltung, der akademischen Lehre sollen, so die allgemeine Erwartung, stets daraufhin betrachtet werden, wie sie besser gemacht werden können, d. h. im Effekt: schneller, präziser, kostengünstiger, störungsunanfälliger. Bis sie eben optimal sind. Das Instrumentarium der künstlichen Intelligenz bietet dazu die einschlägigen Mittel in Gestalt der berühmt-berüchtigten Algorithmen, die mit hohem Dateneinsatz und selbstlernenden Routinen noch die kleinsten Entwicklungspotentiale zu heben verstehen. Digitalisierung als Optimierung verstanden steigert noch einmal die Zivilisationserwartungen der Moderne. Das hört sich erst einmal verheißungsvoll an.
Wenn da nicht eine vertrackte Widersprüchlichkeit ebenfalls zu erwähnen wäre. Nämlich: Ist erst einmal etwas, irgendetwas, tatsächlich optimiert, ist es auch tot – es gibt keine weitere Entwicklungsschritte mehr. Stattdessen nur noch die dann notwendig werdende Abwehr von Veränderungsversuchen, um die optimale Effizienz nicht zu gefährden. Ist beispielsweise erst einmal der öffentliche Verkehr in einer zukünftigen smart city durchoptimiert, heißt es allen weiteren Variationen den Zugang zu verwehren, weil dann eine Störung eintreten könnte, die den erreichten Effizienzgrad gefährdet. Das haben Innovationen jeglicher Art nun einmal an sich: Zuerst wird die Sache eben nicht leichter, sondern benötigt Implementierungsaufwände und Anpassungsleistungen. Und: Fortschritt ist etwas grundsätzlich anderes als Optimierung. Es unterscheidet sich ebenso wie Leben vom Rechnen. Der Versuch, Dinge besser zu machen, ist etwas anderes als sie anders zu machen. Verbesserung allein ist eine Zwangsvorstellung. Veränderung hingegen die Verheißung von Vielfalt.


Helmut Aßmann

 


Fertigungstiefe

11. oktober 2021

 

Ein normales Auto mit Verbrennungsmotor besteht aus ca. 8000 Teilen. Die kommen aus den verschiedensten Gegenden der Welt. Viele sind ihrerseits aus zahlreichen anderen Teilen zusammengesetzt. Das fertige Auto ist das Ergebnis einer hochdynamischen Gesamtanstrengung von produzierendem Gewerbe, Dienstleistung und Logistik, Vertrieb und Finanzwesen. Es steckt in ihm, wie man es nennt, eine respektable Fertigungstiefe. Wie anfällig auf Störungen das ist, konnte man an der Havarie Containerfrachters „Ever given“ im Suezkanal im März dieses Jahres besichtigen. Ein Navigationsfehler – weltweite Auswirkungen. Solche und ähnliche Vorkommnisse haben dafür gesorgt, dass vor allem große Firmen versuchen, die Fertigungstiefe ihrer Produkte zu verringern. Alles aus einer Hand, nach Möglichkeit.
Und bei uns selbst? Die Fertigungstiefe eines menschlichen Bewusstseins ist erwiesenermaßen unendlich. Dutzende Generationen, ja die ganze Evolution steckt in uns mitsamt aller zugehörigen Dynamik. Störungen aller Art sind in Rechnung zu stellen, wenn man sich mit einem solchen Bewusstsein abgibt. In hohem Maße unberechenbar. Heerscharen von Therapeuten und Medizinern, Psychologen und Neurowissenschaftlern arbeiten daran, so etwas wie sozialverträgliche Standards im Lebensvollzug zu implementieren. Ein hochgezüchteter Luxuswagen ist dagegen lächerlich simpel. Berechenbarer werden Menschen allerdings auch in diesem Falle dann, wenn man ihnen den Zugang zu ihrer Fertigungstiefe verstellt und vor allem auf Augenblicksgefühle, Stimmungen und Themen fokussiert. So wie es die social media eindrücklich vorexerzieren. Leben möglichst ohne Gedächtnis, ohne Störung, ohne Prägungen aus der Vergangenheit, sei sie erinnert oder erlebt. Immer schön authentisch, direkt und vorhersehbar auf der Ereignisoberfläche im Hier und Jetzt. Alles aus einer Hand, nach Möglichkeit.


Helmut Aßmann


Ziegenficker

05. oktober 2021

 

Nun ist Jan Böhmermann mit dem ZDF – Fernsehpreis ausgezeichnet worden. Für das beste (Dreh)Buch und Late Night Talk. Böhmermann – das ist der Moderator, Satiriker, Journalist, Entertainer usw., dessen Talkshow „ZDF Magazin Royale“ November 2020 ins Hauptprogramm gehievt und der 2016 berühmt geworden ist, als er in einem sogenannten „Schmähgedicht“ den türkischen Staatspräsidenten Erdogan unter anderem als „Ziegenficker“ mit „Schrumpelklöten“ titulierte. Folgende Begründung der Jury: „Jan Böhmermanns Show setzt Standards für satirische Fernsehunterhaltung. Nach dem Wechsel von ZDFneo zum Muttersender bietet „ZDF Magazin Royale“ mehr denn je einen Mix aus journalistischer Relevanz und purem Entertainment“. Journalistische Relevanz und pures Entertainment… - so die Begründung. Kostprobe gefällig?: „Warum ist der deutsche Film so scheiße?“ Eine relevante Frage. Oder: „Irgendjemand sollte verdammt noch mal endlich Dieter Nuhr die Fresse polieren.“ Pures Entertainment. Ficken, scheißen, kotzen – journalistische Raffinesse mit ordinärer Soße garniert. Echt preisverdächtig.
Okay, sagen wir, es sei Geschmacksache, und: Ich bin schon über 60.
Aber das ist noch nicht alles. Die Verbalfickerei bekommt auch größenwahnsinnige Züge. Auf einer Podiumsdiskussion warf Böhmermann ausgerechnet Markus Lanz, dem aktuell herrschenden Talk-Imperator und ebenfalls diesjährigen Preisträger des Fernsehpreises (in der Sektion „Beste Information), allen Ernstes vor, er würde menschenfeindlichen Kräfte eine Bühne geben. Er meinte damit Hendrick Streeck, den umstrittenen Virologen aus Bonn, den Lanz in seine Abendshow eingeladen hatte. Ein Vorgang, der in einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender nichts weniger als überraschend ist. Dass der Fäkalakrobat Böhmermann trotz solcher Ausfälle mit einem Fernsehpreis ausgezeichnet werden kann, erinnert mich an das Schicksal des Echo-Preises 2018, der wegen nachweislich akuter Gesinnungsverderbnis sein wohlverdientes Ende fand. Beim Fernsehpreis könnte man ähnliche Phantasien bekommen.


Helmut Aßmann


Brabus, Bottrop

27. september 2021

 

Auf einer yellow-press Internetseite habe ich den Hinweis gefunden, dass sich Cristiano Ronaldo, vormals Real Madrid und Juventus Turin, nun erneut Manchester United, mal wieder einen Mercedes gekauft hat. Also nicht seinen ersten, sicher nicht seinen letzten. Nur eines der zahllosen PS-Schmuckstücke seiner Garage. Das nebenbei. Es ist ein Geländewagen, den die Firma Brabus aus Bottrop, Spezialist für Autoveredlung der höheren und höchsten Güteklasse, aufgemöbelt hat. Genauer: Einen Mercedes AMG G 63 mit sage und schreibe 662 kW Motorleistung. Das ist mehr als doppelt so viel, wie alle meine bisherigen Fahrzeuge zusammengerechnet aufgebracht haben. Brabus beschreibt sich unter dem Titel „Supercars“ wie folgt: „Vom ULTIMATE E bis zum ROCKET 900 – jedes BRABUS Supercar ist das Ergebnis eines perfekten Zusammenspiels: Vollendete Technik, ausgefeilte Ingenieurskunst und individuelle Handarbeit machen jedes BRABUS Supercar einzigartig in seiner Klasse.“ Einschlägig bewanderte Zeitgenossen bestätigen, dass es darüber eigentlich nichts mehr gibt. Die Pose, in der sich Ronaldo inszeniert, lässt an Klischee wirklich nichts aus, was einem spießigen Bürger wie unsereinem so vorschwebt. Macho, PS-verrückt, testosterongesteuert, eitel, narzisstisch – was immer man zu unterstellen geneigt ist, Ronaldo setzt es ins Bild. Brabus ist ein kongenialer Dienstleister dieser Attitüde. Die Firma verdient Geld mit Eitelkeit und Ausschweifung, nachgerade unanständigem Luxus.
Aber: Sie ist richtig gut. Die Leute aus dem Ruhrpott verstehen etwas von ihrem Handwerk. Warum sonst sollten allerhand mehr oder weniger beeindruckende Multimillionäre nach Bottrop kommen? Und Ronaldo versteht auch etwas von seinem Hand-, also seinem Fußwerk. Brabus und Ronaldo kommen aus derselben Güteklasse: Da ist nicht mehr viel Luft nach oben. Bevor man sich (berechtigterweise) aufregt über die ungeheure Sinnlosigkeit, die in der Überbezahlung von Fußballern und dem Overtuning von fahrbaren Blechkisten, steht die blanke Feststellung: Die können was. In der völlig überdrehten Inszenierung liegt immer noch so etwas wie echter Glanz, der Traum von der Vollendung.


Helmut Aßmann


Mobility

20. september 2021

 

Fahrräder auf der Automesse – man fasst es nicht. Neben den Hochglanzboliden, sexy Ladies, unfahrbaren Zukunftsstudien stehen nun Fahrräder. Völker, seht die Signale! In der Selbstvorstellung der IAA München 2021 heißt es: „Im Mittelpunkt stehen Mobilitätslösungen aller Art. Angefangen von Autonomen Fahrzeugen über Bikes, eScooter und Sharing Möglichkeiten bis hin zu innovativen Modellen für den öffentlichen Personennahverkehr“. Nicht nur das Auto, sondern das Auto schlechthin, die gute, alte Verbrennerschüssel, die überdachte Zündkerze, ein Pfeiler unserer bundesdeutschen Wirtschaftsmacht, geht in Frührente. Spacige Elektrokutschen (warum müssen eigentlich die eAutos immer so albern aussehen?) erinnern noch an Golf und 3er BMW, aber das seit etwa zwei Jahrzehnten intensiv reflektierte neue Wirtschaftsgut bekommt langsam ein Gesicht. Es geht nicht um Autos, Fahrräder oder sonstwelche radgestützten Untersätze, sondern um Mobilität. Deswegen heißt die IAA auch nicht mehr einfach „Internationale Automobilausstellung“, sondern IAA Mobility. Gründe für diesen Wechsel gibt es genug. Klima, Lieferketten und deren Anfälligkeiten, Verkehrsinfarkte – so ein Auto kostet eben mindestens 5m2 Platz, von den territorialen SUV – Bedürfnissen einmal ganz abgesehen. Interessant an dieser Veränderung ist der Umstieg von einem Besitzstand auf eine Lebensqualität. Geworben hatten damit die höherpreisigen Autoklassen immer schon: So ein Audi Q7 ist eben in erster Linie eine Statusansage, kein Fahrzeug. Aber diese Haltung konnte man sich kaufen. Sie war wesentlich ein Besitz. Bei der Mobilität ist das anders. Natürlich bleibt das Problem der Bezahlbarkeit erhalten. Wer keinen Fahrschein lösen kann, ist ebenso aufgeschmissen wie jemand ohne fahrbaren Untersatz. Aber der Begriff signalisiert es: „Mobil“ ohne „Auto“. Wie beeindruckend das benutzte Vehikel ist, spielt eine geringere Rolle als der Umstand, dass man damit vorankommt. Und ob es das eigene ist oder nicht, ist ebenfalls unerheblich. Weil am Ende die Beweglichkeit das höhere Gut ist als der Besitz, gibt die IAA 2021 Grund zur Hoffnung. Auch – in einem durchaus übertragenen Sinne – geistlich.


Helmut Aßmann


Geistiges Opium

13. september 2021

 

Das war schon steil: Mit sofortiger Wirkung wurde Ende August in ganz China der Medienkonsum, namentlich das Gaming, für Minderjährige drastisch rationiert. „Künftig dürfen Kinder und Jugendliche nur noch drei Stunden pro Woche spielen - und zwar freitags, samstags und sonntags jeweils von 20 bis 21 Uhr, wie die Behörden jetzt mitteilten“ – so die Nachricht im ZDF vom 30.8.. Das ausgiebige Gaming sei „geistiges Opium“, dem mit der höchstexekutiven Anordnung ausdrücklich der Kampf angesagt wird. Die Regierung hat verstanden: Wer zu lange an den Flimmerkisten hockt, verblödet nicht nur, sondern wird auch für die gesegneten Einflüsterungen des Staates unempfänglicher. Daher einfach von Staats wegen: Ausknopf drücken. Und wer es nicht machen oder ernstnehmen sollte, dem wissen die Verantwortlichen schon die Karten zu legen.
Bei den Kommentaren auf deutschen Zeitungsseiten wird – erwartbar – auf die rechtliche Problematik abgestellt, die ein solches Vorgehen hierzulande aufwerfen würde. Und auf die diktatorische Geste selbstverständlich. Menschen- und Freiheitsrechte, Nichtzuständigkeit des Staates, Wirtschaftserwägungen usw. Klar. Der Aufschrei vor hiesigen Bildschirmen würde wahrscheinlich die Screenplatte zum Zerspringen bringen. Über die anlassgebende Analyse der chinesischen Regierung („Opium“) fällt dagegen kaum ein Wort, höchstens die beschwichtigende Bemerkung, dass natürlich die Wirkung der Gamerei je nach Gebrauch und Intensität, Veranlagung und Charakter individuell verschieden ausfällt. Mit diesem Argument kann man bekanntlich jede starre Regelung in jeder möglichen Themenstellung aushebeln. Die Folgen des unkontrollierten Medienkonsums aber, ob nun in Ost oder West, kann man an jeder wissenschaftlichen Bude nachlesen, von Sozialdemontage bis Gehirnerweichung ist da in verschiedenen Alarmniveaus die Rede. China zieht daraus – chinesische – Konsequenzen. Die westliche öffentliche Meinung empört sich über diese Radikalität, lässt die Analyse aber freizügig liegen.
Wäre auch zu steil, dieses ungeheuer marktfähige und profitable Opium einfach aus dem Handel zu ziehen. Immerhin werden damit Milliarden verdient. Zu nicht geringen Teilen übrigens in China. Mit dem afghanischen Mohn ist es ähnlich.


Helmut Aßmann


Ahrweiler – Ver(un)sicherungen

16. august 2021

 

Eine der naheliegendsten und für die Betroffenen bedeutendsten Fragen richtet sich auf Unterstützung beim Wiederaufbau und auf Entschädigungen für die entstandenen Verluste. Es wird auch kräftig gesammelt, gespendet, zugesichert, zugeschossen. Gott sei Dank. Was nicht hindert, dass selbst die bestzahlende Versicherung nicht jene Verstörung beseitigen kann, die die Wasserflut durch ihre schiere Gewalt und Unausrechenbarkeit in der allgemeinen Wahrnehmung ausgelöst hat. Es kann also auch im ansonsten meteorologisch und tektonisch so ruhigen und maßvollen Mitteleuropa die Welt untergehen. Mitten im organisatorischen Wunderland Deutschland. Und wenn da, dann überall. Nicht weil die Leute an Ahr und Erft böser oder maßloser gewesen wären als andere, sondern weil sich hoch oben in der Atmosphäre, so auf 12-14 km Höhe, jenseits von Nationen, Kulturen, Sprachen und Konsumverhalten eine Veränderung eingestellt hat, die niemand einfach anhalten, beeinflussen oder bändigen kann. Der inzwischen allgemein bekannte Jetstream steuert Hoch- und Tiefdruckgebiete träger und inspirationsloser als sonst, und die wärmere Atmosphäre kann einfach mehr Wasser aufnehmen als üblich. Grund dafür ist der Mensch und sein Einfluss auf Wasser, Luft und Erde. Wen es jetzt und in Zukunft trifft mit Dürre, Wasserfluten, Brand und Hagel, ist ganz unausrechenbar. Je weiter die Plünderung der natürlichen Ressourcen  der Erde voranschreitet, um so massiver werden diese von Menschen indirekt verursachten Interventionen werden. Das vorauszusagen bedarf es keiner hellseherischen Fähigkeiten. Es gibt, das ist das eigentlich Unheimliche an dieser Wahrnehmung, derzeit auch keine Möglichkeit, dieser Lage mit handelsüblichen wieder Herr zu werden. Wissenschaftliche Forschung erkennt immerhin die groben Strukturen – die Sache mit dem Jetstream etwa –, aber das war es denn auch. Feinere Zusammenhänge sind in der Regel so komplex, dass sie weder wahlkampfpolitisch noch technisch auf redliche Weise ausgewertet werden können.
Auf eine ganz prosaische Weise wird die Frage nach dem, worauf man sich in guten und in bösen Zeiten verlassen kann, wieder ins allgemeine Bewusstsein geschoben. Freilich, das fühlt sich eher schmerzhaft an als dass es sonnigen Gemütes daherkäme.


Helmut Aßmann


Ahrweiler – Herr Sievers hat da eine Frage

10. august 2021

 

Herr Sievers vom „heute-journal“ konnte es am Ende doch nicht lassen. Er hatte – vergleichsweise empathisch – die Vizepräsidentin des THW, Sabine Lackner, interviewt, um aus dem Mund einer wirklichen Expertin für Großschadensfälle so etwas wie einen Bericht aus dem Zentrum der aktuellen Katastrophenbewältigung zu bekommen. Bekam er auch. Sehr klar, sehr bedacht, sehr kompetent wurde der Bericht zur Lage im Ahrtal vorgetragen. Die seinerseits ein wenig linkisch eingeschobene Frage, wie denn in Zukunft die Alarmierung der Bevölkerung vonstatten gehen sollte, per App, Sirenen, Fernsehen, Radio oder Mund-zu-Mund-Information, wenn das Wasser nicht einmal davor zurückschreckt, die Funkmasten für die Handy-Verbindungen umzuhauen – auch die wurde prompt beantwortet: Alles! Alles machen, was geht, um zu warnen. Auf so etwas Simples muss man erst einmal kommen. Aber, Herr Sievers hatte denn doch noch eine Frage. Man habe eben auch von Problemen beim Krisenmanagement Meldung bekommen. Da seien THW – Züge weggeschickt worden, weil offenbar die Informationen und die Handlungen nicht ganz synchron geschaltet waren. Das müsste eben auch einmal kritisch angemerkt werden. Wie kann so etwas passieren? Inmitten der Apokalypse gingen offenbar allen Ernstes bei der Feuerwehr oder dem THW Informationen verloren…
Frau Sabine Lackner bewahrte – Respekt! – angesichts dieser umwerfend blödsinnigen Frage Ruhe und Contenance. Sie erläuterte dem Herrn im Studio, dass es in solchen Fällen am Anfang immer eine Chaosphase gebe, in der niemand Herr der Lage sei. Es müsse zuvor überhaupt erkundet werden, an welcher Stelle Hilfe und Unterstützung als erstes benötigt wird. Eine kleine Phantasie müsste eigentlich ausreichen: Stell dir vor, die Straßen sind versperrt, die Handynetze sind zusammengebrochen und vor dir hängen Leichen im Baum (das ist nicht Frau Lackner, das kommt von mir, HA). Jetzt sei du Herr der Lage und erstatte dem Herrn Sievers im Mainzer Studio Bericht, wie ein THW Hilfszug da an die falsche Stelle hat kommen können!
Es ist mir ein Rätsel, warum selbst die öffentlich-rechtlichen Medien die Berichterstattung in derart armseliger Weise auf Alarm und Schuldursachen fokussieren, ohne wenigstens in irgendeiner feststellbaren Forum Scham darüber kund werden zu lassen. Sollen sie statt dessen einfach einen verlängerten Bericht über die unglaubliche Hilfe senden, die nachbarschaftlich und ganz spontan zur Stelle ist. Ich hätte diesenfalls glatt wieder Lust, einmal Nachrichten zu schauen.


Helmut Aßmann


Elysium

03. august 2021

 

Nun ist es also soweit: Weltraumtourismus on start. Richard Branson und Jeff Bezos sind mit Privatraketen und Weltraumgleitern in die Stratosphäre geflogen und haben sich die Erde göttergleich einmal von außen angesehen. Nicht so eingezwängt wie Weiland Walter Schirra (echt, in Apollo 8) oder Tom Hanks (Apollo 13, im Film), sondern eher gemütlich in einem flugzeugähnlichen Vehikel. Sie haben die Location da oben schon mal unter Vermarktungsgesichtspunkten gescannt. Für eher bescheidene 250.000 $ kann man als Normalsterblicher bei Bransons Firma auch mal mitfliegen. Elon Musk, der nächste private Astronautenaspirant, rechnet mit immerhin unter einer Million Dollar. Spätere Milliardärsgenerationen werden sich dann vermutlich in 36.000 km Höhe (da wo Fliehkraft der Erdrotation und die Gravitationskraft sich auf einer geostationären Umlaufbahn die Waage halten) eine Art Weltraumhotel bauen. Finanziell ist das bei den zur Verfügung stehenden Summen durchaus möglich, und der begehrte Weltraumtourismus der Superreichen wird dann die nötigen Infrastrukturkosten einspielen. Geplant sind zunächst Besuche auf der ISS (solange die noch geradeaus fliegen kann), Mondumrundungen oder auch suborbitale Flüge mit kleinen Schwerelosigkeitsattacken für die Merzsche Obere Mittelklasse.
In dem Film „Elysium“ (USA, 2013, Regie: Neill Blomkamp) ist das schon einmal durchgespielt worden. Am Himmel kreisen die Auserwählten des Geldes und Vermögens, auf der verwüsteten Erde schlagen sich die verbliebenen Verlierer des Wettlaufs um die größten Kuchen die Köpfe ein. Ihr begehrtester Job besteht in der Bedienung der Bedürfnisse der orbitalen Bewohner. Eine Sklavengesellschaft des 22. Jahrhunderts. Die Orbiter müssen auch gar nicht mehr zurückkommen – die Sklaven werden zu ihnen emporgeflogen und nach vollbrachter Arbeit wieder entsorgt. Sie sind – und bleiben – am Himmel.
Richard Branson, Jeff Bezos, Elon Musk und die ganze Truppe von Himmelsstürmern machen sich mit ihren symbolischen Flügen daran, einen ebenso irrwitzigen wie verhängnisvollen Traum zu realisieren: Sich der Lebensschwere zu entledigen. Wie wäre es, sich den Zugriffen der sich immer wilder gebärdenden Erde wie eine Gottheit hoch über den Bedingungen menschlichen Daseins zu entwinden! Es scheint, als bräuchte es dazu nur ein paar Maschinen und viel Geld. Nennen wir es beim Namen: Das ist eine dramatisch missverstandene Selbsterhebung.
Der alte Christengott hatte es anders herum probiert. Der wollte nicht weg. Der wollte allen Ernstes Richtung Erde. Bei allem, was man nun noch – nach zwei Jahrtausenden Kirchengeschichte – dazu sagen könnte: heilsamer war dieser Versuch auf jeden Fall.


Helmut Aßmann


Ahrweiler – 200 ml

26. Juli 2021

 

Niederschlagsmengen bis zu 200 l/qm. So etwas ist in Deutschland gegen alle Erfahrung. Dass ergiebiger Niederschlag zu Überschwemmungen führt, ist allenthalben bekannt. Auch dass es dabei zu gewaltigen Schäden kommt. Oderflut 1997, Elbhochwasser 2002, Donauhochwasser 2013, Moselhochwasser eigentlich alle Jahre wieder – kurzum, viel Regen gibt es immer wieder einmal. Aber die Ereignisse an der Ahr und in der Eifel / Voreifel haben ein anderes Kaliber. Man merkt es nicht nur daran, dass das Ausmaß der Niederschläge aufgrund von Wettervorhersagemodellen zwar vorher bekannt war, aber andererseits kein Notfallplan für solche Maximalszenarien existierte. Eine harmlose Straßenkreuzung, die so schnell zu einer Todesfalle wird, dass man als Autofahrer keine Chance mehr hat – auf so etwas war niemand eingestellt. Es wird vor allem deutlich an dem Schrecken, den die vielen Toten und das schiere Ausmaß der Zerstörungen verbreiten. Hier ist mehr passiert als nur ein besonders schweres Naturunglück. In der unzensierten Öffentlichkeit wird – auf den Schlag – eine Verbindung hergestellt zwischen dem Umgang des Menschen mit der Erde und den Reaktionen der natürlichen Umgebung auf eben diesen Umgang. Das war zwar immer schon klar. Aber wirklich ernst haben es nur wenige genommen. Die chinesische Regierung führt übrigens bei den Parallelereignissen in der Region Zhengzhou gerade vor, wie es aussieht, wenn man derlei Katastrophen einfach medial unter den Teppich kehrt und so tut, als wäre alles beim Alten.

Ist es aber nicht. Die Erde ist kein Material. Sie ist ein Gegenüber. Und: Sie ist kein Feind.
Deswegen laufen die üblichen Verarbeitungs- und Vorsorgemechanismen so merkwürdig ins Leere. In Zukunft Pflichtversicherungen gegen Naturkatastrophen? Hochwasserschutzverbesserungen? Staatliche Notfallreserven für den Katastrophenfall? Verbesserte Frühwarnsysteme, analog und digital? Alles richtig und notwendig, aber es trifft den zentralen Punkt dennoch nicht. Wir müssen uns nicht nur schützen, um zu überleben, sondern vor allem kooperieren, um in der Realität zu bleiben. Kooperieren mit der Erde, mit der Natur, mit der Schöpfung. Aber: Wer ist das?


Helmut Aßmann


Heldendreck

19. Juli 2021

 

Ein Werbeclip für Philips-Rasierer zeigt einen smarten, jungen Mann, der zwischen zwei gegensätzlichen Welten wechselt: der des Abenteurers, der mit Drei- oder Viertagebart aus dem Kanu in irgendeinen (vermutlich Piranha-verseuchten) Fluss in sagen wir mal Südamerika springt, um sich kurz zu erfrischen, und der des glattrasierten Bürohengstes im Frankfurter Bankenviertel, natürlich in bester Kleidung, sportiv und ansehnlich. Der „echte“ und „eigentliche“ Mann ist natürlich der aus dem Kanu mit dem verdreckten Hemd und dem Struppelgesicht. Der andere ist die durch den Philips – Rasierer wohlgetarnte Kunstfigur. Man soll nicht gleich erkennen, was für ein toller Kerl da unter der parfümierten Oberfläche steckt. Der Rasierer als Hüter des Geheimnisses. Da muss ich unwillkürlich an mein gutes, altes Tourenrad denken, mit dem ich Tausende von Kilometern abgeritten habe – wenn es besonders dreckig ist, radele ich mit Vorliebe durch Einkaufspassagen oder über Touristenplätze, um vorzuführen, dass da ein richtiger Kerl gerade vor ihnen auftaucht – mit echtem Heldendreck am Rad und in den Klamotten. Schmutz und Ungepflegtheit als Ehrenzeichen der Anstrengung, als Nachweis von Durchhaltevermögen und Widerstandskraft – das kann man auf unzähligen Werbeplakaten finden. Da bricht sich eine archaische Männlichkeit Bahn, die von keiner genderpolitischen Finesse angerührt ist. Ist das nun einfältige Macho-Romantik, fiese Instrumentalisierung von Geschlechterstereotypen oder Ausdruck durchschnittlicher Männerphantasien? Ich weiß es natürlich nicht. Aber auch auf die Gefahr hin, mich ins ganz falsche Lager zu begeben: Ich fürchte, es ist letzteres. Meine Rückfrage bei mehreren Intensivradlern ergab, dass sie dieses dreckige Gefühl schätzen. Da will sich irgendeine archaische Kampfsau suhlen. Solange sie das im Rahmen gesetzlicher Ordnungen tut, ist es ja auch okay, oder?


Helmut Aßmann



Ordensverlust

13. Juli 2021

 

Kardinal Marx aus München war vorgesehen als Empfänger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern, für seine großen Verdienste in sozialpolitischen Fragen, sowohl was das Engagement der Kirche als auch den zivilgesellschaftlichen Zusammenhang anlangt. Die gibt es – fraglos. Am 27.4. ging dennoch ein Brief aus der Kurie in München beim Bundespräsidialamt ein, diese Auszeichnung nicht vorzunehmen. Anlass dafür war der mächtige, geharnischte Einspruch von Opferverbänden: „Der Orden dürfe nur vergeben werden, wenn eindeutig nachgewiesen sei, dass Marx sich nicht an der Vertuschung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche beteiligt oder deren Aufklärung behindert habe, hieß es von mehreren Opferverbänden“ – so schreibt die SZ an diesem Tag. Aufgrund der allgemein sensiblen öffentlichen Diskussion in dieser Sache hielt es der Kardinal also für angezeigt, diese besondere öffentliche Ehrung auszuschlagen. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die neue Lage der Kirche. Dabei ist es einerlei, um welche Konfession es geht. Dass ein hochrangiger Kleriker der katholischen Kirche durch einen massiven öffentlichen Widerspruch dazu genötigt wird, eine hohe gesellschaftliche  Wertschätzung abzulehnen, dokumentiert, wie schwach, verletzlich und unsicher die kirchliche Performance auf dem zivilgesellschaftlichen Parkett geworden ist. Die offenen Flanken sind zahlreich und in ihrer emotionalen Wucht z.T. schlicht argumentationsresistent: angefangen von den schrecklichen Missbrauchsenthüllungen über echte oder so interpretierbare patriarchale Seilschaften alter weißer Männer bis hin zu struktureller Bigotterie, wie sie in allen religiösen Großorganisationen vorkommt. Der Respekt früherer Jahre oder Jahrhunderte ist dem Verdacht gewichen, dass am Ende vor allem Zweifelhaftes im Schild geführt wird. Nicht mehr der Hinweis auf „einige“ schwarze Schafe, sondern die Frage, ob es denn überhaupt weiße darunter geben könne. Gegen diesen Verdacht hilft kein Argument, im Gegenteil: Jedes Argument wird verdorben durch das Interesse, etwas entlasten, korrigieren oder reframen zu wollen.
Was bleibt, ist die große Frage nach einem Lebenszeugnis (nicht Authentizität!). Wie das aussehen soll, nachdem Papst Franziskus das erwartbare Rücktrittsgesuch von Marx unlängst abgelehnt hat, ist eine tiefe religiöse und kirchliche Frage.


Helmut Aßmann


Abstand

05. Juli 2021

 

„Absence makes your heart grow stronger“. Abwesenheit macht dein Herz stärker. Meine indische Brieffreundin aus den 70er Jahren hat mir in einem romantischen Anflug bei einem Besuch in London diese Weisheit in mein jugendliches Ohr gesäuselt. Ich hab es gerne gehört. Aus der Romanze ist am Ende zwar nichts geworden, aber der Satz gehört zu einem Kernbestand allfälliger Lebensklugheiten, der in den Jahrzehnten bei mir aus dem Erinnerungs- in den Selbstverständlichkeitsmodus übergewechselt ist. In vereinfachte Psychosprache übersetzt: Abwesenheit verstärkt innere Prozesse, positive wie negative. Auf- wie abbauende. In Zeiten der social media Kommunikation könnte man leicht variierend sagen: absence makes your hate grow stronger. Ein bemerkenswerter Vorgang. Die Verheißung, die durch die digitalen Kommunikationsmedien Realität werden zu können versprach, verkehrt sich auf fatale Weise in ihr Gegenteil: Statt einer barrierefreien Kommunikation durch alle Milieus hindurch und über alle Kulturgrenzen hinweg hat sich ein Chaos an sich gegenseitig abstoßenden und bekämpfenden Meinungshorden aufgebaut, die keine Argumente austauschen oder sich gegenseitig zu bereichern suchen, sondern Diffamierung und Vernichtung über die Andersdenkenden bringen möchten. Statt des paradiesischen Dialogs vielmehr der Alptraum des (noch) rhetorischen Kampfes aller gegen alle. Eine entscheidende Bedingung dafür scheint das Prinzip Abstand zu sein. Abstand vor allem im Sinne von physischer Abwesenheit. Über den, der nicht da ist, ließ sich immer schon leichter herziehen. Wenn keine direkte Widerrede möglich ist, kann man unbesorgt seinen niederen Instinkten freien Lauf lassen. Wo Sozialkontrolle ausfällt, kann der innere Schweinehund endlich seine Zähne zeigen. Abstandsgebote jeglicher Art verstärken Misstrauen, Fremdheitserleben und blanke Unkenntnis. Die menschliche Versuchung, sich gehen zu lassen, wenn „kein anderer da ist“, wird von den Betreibern der social media geradezu schamlos ausgenutzt. Er bringt Geld und Hass. Für die einen das Geld, für die anderen den Hass.
Wie gut, dass Gott nicht auf Abstand geblieben ist.


Helmut Aßmann


Volkserzieher

28. Juni 2021

 

Da hat nun in Sachsen – Anhalt doch die CDU deutlich gewonnen. Es war nichts mit der AfD als sehr voraussichtlich stärkster Partei im Landtag. Nichts mit Anna-Lena Baerbock im nächsten Schritt auf dem Weg zur grünen Kanzlerschaft. Auch die FDP war nicht auf dem Demoskopen – Zettel. Die Pleiten der Meinungsforscher aus den letzten Jahren setzen sich offensichtlich unverändert fort. Trotz wöchentlicher Statistik – Übungen für öffentlich-rechtlicher Fernsehzuschauer beim ZDF – Politbarometer, trotz nahezu täglicher Umfragekanonaden über immer wieder die gleichen Sonntags-, Kanzlerkandidaten- und Koalitionsfragen auf allen Medienkanälen, trotz medialer Guerilla-Überfälle im Stile der inzwischen auch etwas stereotypen Rezo - Youtubefilmchen. Die professionellen Volksbefrager werden sich sicher nicht entmutigen lassen durch diese fast schon gewohnheitsmäßigen Fehlprognosen, denn wenn sie ernst nähmen, woran es liegt, dann würde sich ihr Geschäft erledigen.
Es ist nämlich ungefähr so wie in der Quantenphysik: Wenn jemand ein System auf der Quantenebene beobachtet, dann beeinflusst er das Messergebnis. Beobachtung ist, kurz gesagt, stets und immer auch Einflussnahme. Der beobachtete Prozess verändert sich, wenn man ihn beobachtet, weil man ihn beobachtet. Was dann tatsächlich beobachtet wird, ist etwas anderes als das, was beobachtet werden könnte, wenn man denn einflusslos beobachten könnte. Kann man aber nicht. Wenn nun also, der Vergleich ist wirklich nur näherungsweise, die Demoskopen die Leute befragen und dann das Ergebnis dieser Befragung als derzeit wahrscheinlichen Ausgang darstellen und mit sagenhafter Energie in das öffentliche Nachrichtengestöber blasen, reagieren die Leser und Zuschauer und Hörer auf diese Meldungen, nicht auf die Wahlprogramme der Kandidaten und Parteien (sofern sie in größerem Umfang darauf überhaupt reagieren). Kurzum: Das Meinungsumfrageergebnis produziert seine eigene Fehlerhaftigkeit. Je genauer gefragt wird, um so unwahrscheinlicher wird die Realisierung des Umfrageergebnisses. Das ist auch kaum zu vermeiden. Die Umfragen werden ja nicht gestartet, um sie anschließend im stillen Kämmerlein zu studieren. Bittere Sache, das. Aber auch beruhigend. Ich kann immer noch wählen, was ich will, nicht das, was die anderen sagen, dass ich würde, selbst wenn das, was ich wähle, nichts anderes ist als das, was die anderen sage, dass ich müsste.


Helmut Aßmann

 

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Meinungsumfragepannen

23. Juni 2021

 

Da hat nun in Sachsen – Anhalt doch die CDU deutlich gewonnen. Es war nichts mit der AfD als sehr voraussichtlich stärkster Partei im Landtag. Nichts mit Anna-Lena Baerbock im nächsten Schritt auf dem Weg zur grünen Kanzlerschaft. Auch die FDP war nicht auf dem Demoskopen – Zettel. Die Pleiten der Meinungsforscher aus den letzten Jahren setzen sich offensichtlich unverändert fort. Trotz wöchentlicher Statistik – Übungen für öffentlich-rechtlicher Fernsehzuschauer beim ZDF – Politbarometer, trotz nahezu täglicher Umfragekanonaden über immer wieder die gleichen Sonntags-, Kanzlerkandidaten- und Koalitionsfragen auf allen Medienkanälen, trotz medialer Guerilla-Überfälle im Stile der inzwischen auch etwas stereotypen Rezo - Youtubefilmchen. Die professionellen Volksbefrager werden sich sicher nicht entmutigen lassen durch diese fast schon gewohnheitsmäßigen Fehlprognosen, denn wenn sie ernst nähmen, woran es liegt, dann würde sich ihr Geschäft erledigen.
Es ist nämlich ungefähr so wie in der Quantenphysik: Wenn jemand ein System auf der Quantenebene beobachtet, dann beeinflusst er das Messergebnis. Beobachtung ist, kurz gesagt, stets und immer auch Einflussnahme. Der beobachtete Prozess verändert sich, wenn man ihn beobachtet, weil man ihn beobachtet. Was dann tatsächlich beobachtet wird, ist etwas anderes als das, was beobachtet werden könnte, wenn man denn einflusslos beobachten könnte. Kann man aber nicht. Wenn nun also, der Vergleich ist wirklich nur näherungsweise, die Demoskopen die Leute befragen und dann das Ergebnis dieser Befragung als derzeit wahrscheinlichen Ausgang darstellen und mit sagenhafter Energie in das öffentliche Nachrichtengestöber blasen, reagieren die Leser und Zuschauer und Hörer auf diese Meldungen, nicht auf die Wahlprogramme der Kandidaten und Parteien (sofern sie in größerem Umfang darauf überhaupt reagieren). Kurzum: Das Meinungsumfrageergebnis produziert seine eigene Fehlerhaftigkeit. Je genauer gefragt wird, um so unwahrscheinlicher wird die Realisierung des Umfrageergebnisses. Das ist auch kaum zu vermeiden. Die Umfragen werden ja nicht gestartet, um sie anschließend im stillen Kämmerlein zu studieren. Bittere Sache, das. Aber auch beruhigend. Ich kann immer noch wählen, was ich will, nicht das, was die anderen sagen, dass ich würde, selbst wenn das, was ich wähle, nichts anderes ist als das, was die anderen sage, dass ich müsste.


Helmut Aßmann

 


Sneaker

07. Juni 2021

 

Seit etwa einem Jahr habe ich einen wichtigen Teil meiner Bürokleidung verändert: Mein Schuhwerk. Bislang war ich einer leicht snobistischen Haltung zugeneigt, was die Auswahl und Bewertung von Schuhen anlangt. Alles, was an Latschen, Flipflops, Sportschuhen oder Modekram an die Füße gelegt, gebunden oder gequetscht wurde, war mir – na, sagen wir – beschwerlich. Warum nur gab es das ehrwürdige Handwerk des Schuhmachers, wenn am Ende die Leute mit irgendwelchen zusammengeklebten Kunststoffprodukten an ihren Gehwerkzeugen durch den Tag stelzen? Kurzum: bei Schuhen habe ich, als das von den Einkommensverhältnissen her möglich wurde, weniger auf den Preis als auf Solidität und Seriosität geschaut. Für jemanden im kirchlichen Dienst hielt ich das auch für angemessen. Anfang letzten Jahres nun habe ich – zum ersten Mal – Sneakers angezogen, etwas, was ich bis dahin unter dem Label „Turnschuh“ diffamiert hatte, sozusagen Wohlfühlaccessoires für Bequemlichkeitsfetischisten. Zu meiner Überraschung musste ich zugeben: Ich fühlte mich wohl, und: Sie waren bequem. Sogar wärmer in der Jahresübergangszeit als meine Budapester Edeltreter. Also, man glaubt es ja nicht, habe ich hernach gelegentlich auf dieses Lifestyleschuhwerk zurückgegriffen (ich habe nur dieses eine Paar). Erst etwas verschämt, aber dann fiel mir auf, dass das keinem auffiel: Alle tragen diese Dinger. Sogar im amtlichen Kontext. Ich war also unversehens – etwas dinosaurierhaft – so etwas wie der letzte Vertreter lederner Fußbekleidung geworden. Dazu wurde mir außerdem deutlich, dass in der einstmals sehr standardisierten Welt der Büros, Behörden und Leitungseliten seit dem legendären Auftritt von Daimler-Chef Dieter Zetsche ohne Krawatte und mit Sneakers eine Lässigkeit eingezogen ist, die alle eisernen Verhaltensrepertoires nach und nach erweicht, ja schon abgelöst hat. Es wird überall lean, schlank, flach und individuell.  

In diesem Lässigkeitsparadies lebt allerdings eine Schlange: Die humorlose Taktung des PC und seiner Routinen: Was an Leichtigkeit am Leib gewonnen ist, geht in der gnadenlosen Uniformierung der digitalen Welt im gleichen Umfang im Geist wieder verloren.


Helmut Aßmann

 


Verordnung Nr. 15

26. mai 2021

 

Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) berichtet, dass das Nationale Amt für religiöse Angelegenheiten die sogenannte „Verordnung Nr. 15″ als „Maßnahme für die Verwaltung der religiösen Institutionen“ im Januar 2021 auf den Weg gebracht hat. Diese Verordnung soll die Vertreter der religiösen Gemeinschaften veranlassen, die „Liebe zur Kommunistischen Partei“ in das gemeinsame Leben einzupflegen und verbindlich zu machen. Die Geistlichen werden damit in die Pflicht genommen, „die nationale Einheit, die ethnische Einheit, die religiöse Harmonie und die soziale Stabilität aufrecht zu erhalten”. Zugleich haben sie dazu beizutragen, nicht „die nationale Sicherheit zu gefährden”, „die nationale Einheit zu untergraben” oder „das Land zu spalten”. Abgezirkelt ist diese ebenso pomadige wie brutale Ankündigung  auf die religiösen Gemeinschaften in Tibet und Xinjiang, also tibetische Buddhisten und uigurische Muslime, sie gilt aber – natürlich – für alle Religionen. Zur Durchsetzung sieht die chinesische Regierung drastische Kontrollmaßnahmen vor. Dazu zählt, so berichtet die IGFM, unter anderem die Zuweisung eines personalisierten 12-stelligen Zahlencodes, der Teil eines Bewertungssystems ist. Das System verlangt von den Geistlichen, für „religiöse“ Aktivitäten, was immer damit im Einzelnen gemeint ist, im Voraus eine Erlaubnis einzuholen. Bei Nichteinhaltung können sie ihre Legitimation verlieren und müssen mit Strafmaßnahmen rechnen. Das soziale Benotungs- und Kontrollsystem ist bereits seit einigen Jahren ordentlicher Teil der chinesischen Sozialpolitik.
Das alles geschieht mehr oder minder öffentlich, vor den Augen der westlichen Welt und mit dem Pathos staatlicher Souveränität. Ein Blick auf die entsprechenden Informationsseiten der IGFM gibt wünschenswerten weiteren Aufschluss. Diese Denke wird gerade weltweit exportiert. Heißen die Projekte nun „Neue Seidenstraße“ oder „Hongkong“ oder Infrastrukturinvestitionen in Afrika (Straßen) oder Südamerika (Wasser) oder wie auch immer: Es ist eine brutale Niederwerfungsmaschine, gegen die der IS wie ein Haufen von lächerlichen Desperados aussieht. Es ist durchaus an der Zeit und angebracht, gegen diese schleichende Eroberung der Welt anzubeten und anzugehen. 


Helmut Aßmann

 

Sex haben

17. mai 2021

 

„Alles geht, nichts läuft“ – unter diesem Titel beschreibt die SZ am 30.4.2021 den merkwürdigen Befund, dass der Umgang mit sexuellen Themen in der medialen oder literarischen Welt zwar alle Hemmungen und Tabus abgestreift hat, die sexuelle Aktivität der nachwachsenden Generationen aber eher ab- als zunimmt. Statt sexuell-erotischen Virtuosentums macht sich eher eine Neigung zur praktizierten Asexualität breit. All die sagenhaften Sexualitätsformate von queerem Sex, Polyamorie, Autosexualität usw. und ihre öffentliche Befeierung suggerieren eine Blüte sexueller Aktivität, die vom statistischen Befund gar nicht gedeckt zu werden scheint.
Sei dem wie es wolle. Interessant ist in all diesen Diskussionen die Formulierung, die den sexuellen Vollzug beschreiben soll: Sex haben. Also nicht: Sex machen, Sex erleben, Sex bekommen oder derlei. Auch keins der handelsüblichen Verben, weder die unanständigen wie vögeln, ficken oder schnackseln noch die salonfähigen wie ins Bett gehen oder miteinander schlafen oder die ganz abstrusen wie kopulieren. Nein, es ist die schlichte grammatische Konstruktion Verb + Objekt: Sex haben. So wie man Kopfschmerzen hat oder ein neues Auto. Was bedeutet es, Sex zu haben? Besitzt man ihn dann? (Überhaupt: der Sex, aber die Sexualität- eine verräterische Verschiebung im grammatischen Genus.) Aber Sex wird nun einmal nicht besessen, sondern erlebt. So wie Angst? Die hat man auch, in dem man sie erlebt. Allerdings handelt es sich beim Sex ja um eine leibliche Erregung, die sich auch psychisch niederschlägt, während es bei der Angst umgekehrt zu sein scheint. Andererseits: Was ist, wenn jemand sexuellen Phantasien nachhängt: Hat er dann Sex oder hat die Sexualität ihn? Auch so eine kaum beantwortbare Frage. Mir scheint, die Formulierung mit dem „Haben“ von Sex sitzt, naja, eher: liegt einem ganz verdrehten Verständnis des Menschen auf. Als ginge es dabei um eine Art Dienstleistung, der man sich versichert oder auf die man Anspruch zu haben meint. Ist ein bisschen wenig, finde ich. Ich bevorzuge dagegen die Vorstellung, ein Mensch sei ein sexuelles Wesen, das seine leibeigene Sexualität in den verschiedensten Gestalten vollzieht, und zwar von morgens bis abends. Wer nur Sex haben will, ist da eher ein armer Tropf.


Helmut Aßmann

 


Auserzählt?

03. mai 2021

 

Im Neuen Testament endet die Geschichte Jesu mit seiner Himmelfahrt. Jedenfalls endet sie so bei Lukas. Die anderen Evangelisten und Paulus sind da eher vorsichtig oder gar uninteressiert, was den Fortgang der Erzählung nach der Auferstehung anlangt. Danach folgen Jahrhunderte intensiver Debatte in der Kirche, was diese Geschichte bedeuten könne. Auf diesem Weg gerinnt die Erzählung zum Begriff und am Ende zum Dogma. Bis zur in Aussicht gestellten Wiederkunft Christi bleibt uns im Grunde nur eine „adventliche Existenz“, also Leben in einer Art Warteraum, bis sich die Tore des Himmels oder der Hölle öffnen und das eintritt, was die biblischen Prophezeiungen in bisweilen bestürzenden, bisweilen tröstenden Bildern beschrieben haben. So sieht es bisweilen aus. Oder es hört sich so an. Oder, auch eine Möglichkeit, so wird es einfach behauptet. Sowohl von denen, die besonders fromm sind, als auch von denen, die es gerade eben nicht sind.
Deswegen hier die simple Frage: Geht die Ursprungsgeschichte eigentlich weiter, also die Sache Jesu Christi nach der Himmelfahrt? Gibt es eine Fortsetzung? Hat der Auferstandene und in den Himmel Aufgefahrene noch etwas vor oder sitzt er auf seinem Thron zur Rechten der Majestät und wartet, was so auf der Welt passiert? Anders gefragt: Gibt es nur noch die Möglichkeit, etwas zu begreifen, oder kann man auch irgendeinem Fortgang von Ereignissen folgen? Eines ist jedenfalls sicher: Jesus selbst war seinerzeit der Meinung, dass mit den bis dahin vorhandenen Geschichten über den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs noch nicht alles über Gott gesagt worden war. Und setzte eine Reihe wichtiger Akzente hinzu. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es im Sinne Jesu wäre, wenn seine Geschichte mit Gott und unsere Geschichte mit ihm von irgendjemandem als abgeschlossen erklärt würden. Neben die Frage, was wir nun im Sinne Jesu tun sollen, tritt die ebenso wichtige Frage, um welche Geschichte es eigentlich geht, die wir als Menschen fortschreiben.


Helmut Aßmann

 


Probelauf

26. april 2021

 

Die Tochter eines Berufskollegen, Mitte zwanzig, hat mir berichtet, dass sie sich zusammen mit ihrem Freund einen Hund zugelegt hätte. Keinen großen, aber einen echten, also einen Charakterhund, was immer das genau bedeutet. Ich bin in dieser Hinsicht in keinster Weise einschlägig informiert. Auf meine Frage, warum sie sich denn ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt, in diesem Alter, unter diesen Umständen (sie hat gerade ihren Bachelor gebaut) einen Hund ins Haus geholt hätte, mit all den zugehörigen Verpflichtungen und Aufwendungen, meinte sie, dass es nicht nur um den Hund ginge. Es handele sich, so ergänzte sie, auch um einen Probelauf. Einen Probelauf für ein Kind, fügte sie wegen meiner verstört fragenden Miene hinzu. Immerhin wäre dieser Hund ja auch ein lebendiges Wesen, habe regelmäßige Bedürfnisse und bräuchte Zuwendung, so wie ein Kind, nur nicht so letztverbindlich, endgültig und irreversibel. „Irreversibel“ ist meine Wortwahl, aber irgendsoetwas meinte sie wohl. Mit dem Hund könnte man bereits einiges austesten und in Erfahrung bringen, was dann später dem Kind auch zugute kommen könnte. Daraufhin erschloss sich mir ein schon seit längerem beobachtetes Phänomen: Die vielen jungen Pärchen mit erstaunlich, manchmal lächerlich kleinen Hündchen. Es sind demnach gar keine Hunde, es sind vielmehr Nullserien für die zukünftige Kinderproduktion. Gut, das ist jetzt etwas grob zugespitzt, aber nicht zynisch gemeint. Die Sorge, mit einem Kind überfordert zu sein, etwas falsch zu machen, den damit verbundenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden, leitet offenbar über zu einem Probeexperiment, einem Laborversuch an einem anderen Lebewesen. Das spricht für das Verantwortungsbewusstsein der jungen Leute. Sagt aber auch viel über ihre Angst. Und sitzt einem allerdings grandiosen Irrtum auf: Dass Menschen so etwas wie kompliziertere Hunde seien. Das ist zwar zweifellos sachlich richtig, aber dass die Domestizierung eines Hundes als eine Anleitung zur Erziehung eines Kindes hochgewertet werden könnte, davor bewahre uns der Himmel, sowohl der für die Menschen als auch der für die Hunde.


Helmut Aßmann

 


Argumente-Blues

19. april 2021

 

Eine der Säulen der Aufklärung ist gerade dabei, ihre Tragkraft zu verlieren: Das Argument. Seine Solidität verdankt das Argument im besten Fall seiner logischen Stimmigkeit und seiner (möglichst wissenschaftlich begründeten) Realitätssättigung. Wer in einer Auseinandersetzung nichtmilitärischer Natur das bessere Argument vorzutragen versteht, hat am Ende die Zuhörer oder Mitdiskutanten auf seiner Seite. So war jedenfalls die neuzeitliche Theorie der Verständigung aufgestellt. Es geht dabei noch nicht um Wahrheit oder ähnliche ewigkeitliche, feierliche Dinge, sondern um Plausibilität und möglichst wirklichkeitsnahe Überlegungen. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, wer das Argument vorträgt, wieviel Uhr es ist oder welche Bücher vorher gelesen worden sind. Es sollte nachvollziehbar, einleuchtend und verständlich sein. Mehr nicht. Nun stellt sich aber allmählich heraus, dass es so einfach nicht ist. Argumente sind nicht einfach wertneutral. Logiken nicht von jedem Interesse frei. Jeder Bezug auf eine geschichtliche oder literarische Größe  folgt auch einem tendenziösen Impuls. Schon in den 60er und 70er Jahren hatte das Stichwort vom „erkenntnisleitenden Interesse“ in diese Richtung gewiesen. Aber jetzt und dieser Tage kommt’s eben dicke. Ein „alter weißer Mann“ kann – so ist bisweilen in einschlägigen Foren zu lesen – grundsätzlich nicht Recht haben, ganz unabhängig von der Struktur oder Plausibilität seiner Argumente. Weil es eben seine Argumente sind, sind auch seine Argumente alt und weiß. Sie sind mehr alt und weiß als plausibel, nachvollziehbar und einleuchtend. Noch kürzer: Derjenige, der sie vorträgt, bestimmt auch die Qualität seiner Argumente…

Als alter weißer Mann möchte man den Kopf schütteln über soviel kommunikativen Unsinn. Auch das wird vielseitig in anderen einschlägigen Foren praktiziert. Aber so schnell kommt man nicht davon. Denn jeder hat bei seinem Argument noch andere Gründe. Solange man sich über die nicht verständigt, hat man den Blues. Auf allen beteiligten Seiten.


Helmut Aßmann

 


Aktivisten

12. april 2021

 

Greta Thunberg. Luisa Neubauer, Malala Yousafzai, Felix Finkbeiner, Boyan Slat – in ihren Steckbriefen kann man lesen, all diese jungen Leute seien „Aktivisten“, als handele es sich um einen Beruf. Sie eint ihr Einsatz für die Umwelt, Klimaschutz und Menschenrechte. Es gibt natürlich auch böse Aktivisten, Attila Hildmann z. B., der sich als Ikone der Querdenkerbewegung einen zweifelhaften Ruf erworben hat. Aktivisten sind – so oder so – Menschen, die „was machen“, mit Grund. Sie bringen Dynamik in festgefahrene Systeme, brechen sklerotisierte Zusammenhänge auf und kämpfen gegen ineffektiv arbeitende Routinen und Methoden. Es sind keine Unternehmer, die sich zum Ziel gesetzt haben, ein Produkt zu kreieren, mit dem der Welt oder der Menschheit – hoffentlich – gedient wäre, also keine Typen vom Schlage Bill Gates‘, Jeff Bezos‘ oder Elon Musk (es ist bemerkenswert, dass in all den hypererfolgreichen Unternehmen globalen Zuschnitts weibliche Leitungsfiguren so gut wie nicht auftauchen, während sie in der Aktivistenszene umso zahlreicher vertreten sind). Profit ist nicht ihr Antrieb, auch nicht Erfindungsgeist, sondern Weltveränderung durch strukturelle Maßnahmen, durch Mentalitätswandel und Überzeugungsarbeit. Dass es sich im Falle der Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten vor allem um junge Menschen handelt, ist nicht verwunderlich: Sie setzen sich für ihre eigene – lange – Zukunft ein, während die Regierungen an den Schalthebeln der Macht in den meisten ihrer Vertreter meistens gute zwei Drittel ihres Lebens hinter sich haben. Der Beruf der Aktivisten ist nicht wichtig. Finkbeiner studiert Umweltwissenschaften, Luisa Neubauer Geographie. Es könnte auch Soziologie, Psychologie oder Orgelbau sein. Ihre Wirkungskraft entfalten sie nicht durch berufliche Kompetenz oder Karriere, sondern durch Hingabe an eine Idee. Das wohlfeile Naserümpfen ihrer Kritiker, verbunden mit dem Hinweis, sie sollten erst einmal etwas lernen, sich ihre Sporen verdienen und derlei, übersieht den Epochenwechsel, der sich mit ihnen anzeigt: Der Planet ist zu klein und das Weltverbrauchstempo ist zu hoch, als dass wir auf karrieristische Begründungsprozesse warten könnten.


Helmut Aßmann

 


Zielvereinbarungen

06. april 2021

 

Ein wichtiges Instrument der Personalführung. Der Vorgesetzte und der Arbeitnehmer setzen sich zusammen und formulieren die Ziele für das kommende Jahr oder Quartal, je nachdem, wie eng die Taktung solcher Gespräche ist. Die Erreichung dieser Ziele wird überprüft. Im Falle der Nichterreichung wird gefragt, woran das gelegen haben könnte. Krankheit, Fehleinschätzung des Arbeitsumfangs oder einfach schwächelnde äußere Faktoren – für den Fall, dass es an der Schlechtleistung des Arbeitnehmenden (um die genderpolitisch korrekte Form zu nehmen) liegt, muss dann nachgesteuert, fortgebildet und unterstützt werden, damit das möglichst nicht noch einmal passiert. Da es sich um eine Vereinbarung handelt, geht es um ein Geschäft zu beiderseitigem Nutzen und eine einvernehmlich ausgehandelte Abmachung. Wenn man mit solchen Verfahren nicht einverstanden ist, dann kann man (als Arbeitnehmerin) ja einen anderen Arbeitsplatz auswählen. So wird die gegenseitige Freiheit gewahrt.
Der in diesen Sätzen lauernde gallige Unterton betrifft nicht den Umstand, dass man solche Zielvereinbarungen natürlich missbrauchen und zu Lasten der Arbeitnehmer ausnutzen kann. Das geht bekanntlich mit allen Verfahren. Auf die Sünde ist auch in dieser Hinsicht unbedingt Verlass. Nein, sie zielt auf das „Zielige“ als solches. Die Vereinbarung von Zielen ist unvermeidlicherweise die wenigstens intentionale Abschaltung oder Drosselung von Abwegen, Nebengeleisen und Zufallstreffern. Das produktive Chaos soll funktionalisiert und auf Effektivität getrimmt werden. Wenn mir am Anfang des Jahres angesagt wird, wo ich am Ende herauszukommen habe, ist das, was dazwischen liegt, schon bestimmt: Passend oder unpassend, hilfreich oder abwegig.

Ehrlich gesagt: Ich mag diese Bewertungen nicht. Es ist ja alles Leben, mein Leben. Das Unpassende, Abwegige, Blödsinnige und Abartige. Ja, sogar das.
Kurzum: Ich mag keine Zielvereinbarungen. Das war zu erwarten, nicht wahr?


Helmut Aßmann

 


Maskenball

29. märz 2021

 

Covid 19 ist ein Geschäft. Man übersieht das leicht, wenn man auf die medizinischen und virologischen Umstände fokussiert. Es wird viel Geld damit verdient. Sehr viel Geld. Das ist keine Überraschung. Die Gewinner der pandemischen Verhältnisse sind leicht auszumachen. Wer Impfstoffe, Beatmungsgeräte, Schutzanzüge, Toilettenpapier oder derlei herstellt oder vertreibt, konnte sich in den vergangenen 12 Monaten einen ordentlichen Umsatz- und meistens auch Bilanzgewinn erarbeiten. Von den Logistikunternehmen ganz zu schweigen. Die Maskenproduktion aber scheint die umtriebigsten Interessenten auf den Markt gerufen zu haben, und zwar insbesondere in der politischen Klasse. Die Namen wurden auf allen öffentlichen Foren hinreichend durchgeknetet: Die Herren Nüßlein und Löbel stellvertretend für alle jene, die den Maskenbedarf als Geschäftsidee identifiziert und über Verbindungen verfügt haben, die daraus einen eigenen Nutzen zu ziehen vermochten. Dass es – neben den anderen dubiosen Geldverwicklungen, die dieser Tage in Rede standen – allesamt CDU- und CSU – Politiker waren (und nicht nur Männer…), die sich ins Zwielicht setzten, macht einen nachdenklich, aber nicht parteiisch. Inzwischen rumort es auch im Umfeld des Bundesgesundheitsministers, aber das mag auch investigativer Übereifer sein – man wird es sehen. Dass es ausgerechnet die Masken sind, die als obskures Objekt der Begierde zu stehen kommen, hat etwas ungewollt Theatrales an sich: Da verbergen sich die wahren Gesichter hinter den Textilien, in die sich einer hüllt. Und was nach außen aussieht wie ein Schutz, ist nach innen ein Beschiss. Es ist ja nicht, dass man derlei nicht erwartet hätte. So ist die Welt. Wo das Geschäft brummt, sammelt sich nicht nur die feine Gesellschaft. Aber die Masken sind so herrlich symbolisch, dass man hofft, es mögen derlei Fehlleistungen nicht auch woanders fröhliche Urständ feiern: Bei Särgen etwa.

Helmut Aßmann

 


Losverfahren

23. märz 2021

 

Nachdem Judas aus dem Kreis der Jünger ausgeschieden war (über sein Ableben präsentieren die Evangelisten durchaus verschiedene Lesarten), wurde er gewissermaßen ersetzt durch einen Mann namens Matthias. Das hat der Attraktivität dieses Namens natürlich einen erheblichen Zuwachs beschert, bis heute. Von Matti bis Matthew ist alles dabei, nicht nur in deutscher Zunge. Aber das nur nebenbei. Das dabei verwendete Verfahren ist bemerkenswert. Er wurde ausgelost. Wie genau, ist nicht berichtet, aber ob am Ende nun mit Streichholzlängen oder Würfeln, ist nicht entscheidend. Josef Justus, sein Konkurrent, hatte das Nachsehen. So erzählt es die Apostelgeschichte des Evangelisten Lukas. Das Schöne an dem Verfahren ist, dass es offenbar weder auf die Tagesform der Kandidaten noch auf die Zusammensetzung der Auswahljury noch das vorlaufende Coaching im Bewerbungsprozess angekommen zu sein scheint. Man hat, um es fromm auszudrücken, Gott selbst wählen lassen, der musste es ja schließlich wissen. Säkulare Menschen mögen darauf hinweisen, dass es dann ja nur der Zufall gewesen sei und keinerlei Eingriff von „oben“. Nun, das ist eine Frage der Weltsicht. Das Losverfahren jedenfalls macht gar keinen Hehl daraus, dass es bei jeder wirklich wichtigen Entscheidung ein Ende der Argumente, Prioritäten, Erkundungen und Plausibilitäten gibt, die einem die Gewissheit geben sollen, das Richtige zu tun oder zu lassen. Die gruppendynamischen Protuberanzen, die in demokratischen Wahlprozessen ablaufen, sind – ehrlicherweise – nicht einen Deut weniger zufällig als das Los. Niemand weiß, ob eine Entscheidung das hervorbringt, was man sich von ihr erhofft. Die Welt oder das Leben sind zu komplex für solche Milchmädchenrechnungen. Der Kern einer Entscheidung ist eben nicht die Gewissheit, sondern die Hoffnung. Hoffnung aber, als Verfahren angesetzt, mündet in den Losentscheid. Wenn man alles vorbereitet, bedacht, geplant und besprochen hat, soll das Los entscheiden – dann ist hinterher niemand für das Misslingen verantwortlich zu machen. Und, was mindestens ebenso wichtig ist, es kann niemand den Erfolg der Sache als Ergebnis seiner tiefen Einsichten verkaufen. Losentscheide vermitteln dem Menschen einen realistischen Blick auf die Wirklichkeit und geben, in einer von Algorithmen und Statistiken schier betrunken gemachten Welt, einen angenehm demütigen Platz darin zurück.

Helmut Aßmann

Kolumen-Sammlung


Gleichmut

15. märz 2021

 

Da geht eine Familie hinter einem Sarg her und begleitet einen Angehörigen auf seinem letzten Weg. Nach der eher gedrückten Stimmung in der Friedhofskapelle lockert sich durch das Gehen und die frische Luft der Geist und die Stimmung. Die ersten beginnen zu reden. Ein wenig abseits davon zupft eine ältere Dame auf einem Grab das Unkraut von den Erdflächen. Zwei Männer unterhalten sich mit gedämpftem Ton, sie scheinen sich seit längerem zu kennen. Der Friedhof ist ein bekanntes und oft besuchtes Geläuf für sie. Über den Himmel streichen Flugzeuge, in ihnen sitzen Menschen, die in ferne Länder reisen, um Urlaub zu machen, Geschäfte abzuschließen oder sich aus einem verfolgten Land abzusetzen. Der nächste Bestatter steht mit seinem großen Auto bereits vor der Friedhofskapelle und wartet auf das Abräumen der Kränze, Kerzen und Bilder von der laufenden Bestattung. Die Trauer der Versammlung ist nur ein Element der Fülle dieses späten Vormittags. Überall gehen Menschen ihren Aufgabe und Geschäften nach. Es ist eher ein Zufall, dass der eine im Flugzeug sitzt und der andere in der Trauerkapelle. Es hätte auch anders herum sein können. Die Zeit geht in allen Fällen einfach über den Stand der Dinge hinweg, beschleunigt nicht, zögert nicht. Es hat bisweilen etwas Beleidigendes an sich, dass nicht einmal für den einen Moment der Trauer der Fluss des Lebens innehält. Aber auch der Trost ist zu spüren, dass man aus diesem Fluss nicht herausgenommen wird. Gleichmütig fließt er über Lust und Last, Freude und Leid, Gelingen und Misslingen hinweg und hindurch. Wir müssen den Sinn nicht machen, nicht einmal finden, wir können darauf vertrauen, dass er uns hält.

Helmut Aßmann

 


Tipico

08. märz 2021

 

Olli Kahn, der Titan unter den Torwarten, der Elfmeterfresser, das Ungeheuer zwischen den Pfosten, eine Ausnahmeerscheinung unter den Fußballgranden. Manche Stürmer brachten den Ball schon deswegen nicht im Münchner Tor unter, weil der bloße Anblick dieses breitmundigen Eisenkinns nicht nur Angriffslust aus der Seele, sondern auch Schussstärke aus dem Fußballschuh zu nehmen schien. Seit 2012 war Kahn „Markenbotschafter“ von Tipico, einem dieser Sportwettenketten, die analog oder digital jede irgendwie messbare Sportbewegung in einen geldwerten Wettvorgang uminterpretieren können. „Tipico ist ein international tätiger Anbieter von Sportwetten, Casinospielen und einem Games-Angebot mit Sitz im maltesischen San Ġiljan“, gibt „Wikipedia“ zu Kund und Wissen. Sein Slogan: „Ihre Wette in sicheren Händen“. Malta: Echte Edeladresse für windige Geschäfte. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man lachen. Wetten in sicheren Händen: Wo gibt’s das denn? Nun gut, Kahn hat sein Markenbotschafterengagement 2020 beendet, vermutlich ist jetzt auch genug erwettet. Seine kongeniale Nachfolge hat kein Geringerer als der Dauerläufer und Mentalherkules der deutschen Fußballnationalmannschaft, die Martyriumsgestalt von 2014, Bastian Schweinsteiger, angetreten (auch Bayern München, ich kann es mir nicht verkneifen). Für die „Deutsche Automatenwirtschaft“ ist er als „Botschafter“ auf Plakaten in allen deutschen Großstädten unterwegs, mit dem Motto: „Wir spielen fair“. Aha. Aber zur Klarstellung noch einmal genauer: Daddelautomaten, um die geht es in der Sache, inwiefern sind die „fair“? Ich versteh’s nicht. Und wie kommt man darauf, als Vorbild und Idol von Hunderttausenden kleiner Jungens und Mädels ausgerechnet für nachweislich verderbliche Freizeit- und Finanzgestaltung Werbung zu machen? Irgendeinen Zusammenhang muss es da geben. Auf eine vertrackte Weise verdirbt das Geld doch die Sitten, egal wie gut man Fußball spielt …

Helmut Aßmann

 


Differenzierung

01. märz 2021

 

Wer unterscheidet, sieht mehr von der Welt, versteht mehr vom Leben und hat mehr zu erzählen. Obst ist gut. Äpfel und Birnen zu unterscheiden ist besser. Granny Smith und Boskop zu erkennen, fast schon fachmännisch. Wenn etwas lediglich „cool“ ist, dann hat man zwar eine Richtung der Aussage, positiv in aller Regel, aber ob damit „schön“, „bewegend“, „verstörend“ oder „unterhaltsam“ gemeint ist, wäre noch besser zu wissen. Was macht man auf dem Hintergrund einer solchen Fragestellung nun mit LGBTQIA+ oder mit, wie in Facebook zu lesen ist, zig verschiedenen Geschlechtern, nachdem man sich überall auf der Welt mit der Unterscheidung von Mann und Frau seit Jahrtausenden begnügt hat? Der Differenzierungsgrad jeder Sache und jedes Themas ist beliebig steigerbar – es gibt niemals und von nichts so etwas wie ein Vollverständnis oder Kompletterfassung. Solange es um wissenschaftliche Beschreibungen geht, bleibt das zunächst einmal als unerschöpflicher Forschungsgegenstand reizvoll und ist zur angelegentlichen Kenntnis zu nehmen. Sofern daraus ein gesellschaftspolitisch zu ordnendes Thema entsteht, wird die Sache unangenehmerweise schier unlösbar. Was in Gedanken in beliebiger Vielfalt bedacht untersucht und differenziert werden kann, wird in Verwaltung und Alltagsmanagement zu einem ernsthaften Problem. Man kann keine 40 Anredevarianten auf einem Formular unterbringen. Die Binnendifferenzierung des Schüler-Leistungsspektrums in einer Schulklasse muss in Lehrkräften und Raumangeboten abgebildet werden. Das hat finanzielle, pädagogische und architektonische Grenzen. Zwischen dem berechtigten Anspruch auf Unterscheidung und der Nötigung, die Detailtiefe eines Vorgangs nicht ins Unendliche laufen zu lassen, gibt es stets einen schmalen Korridor. Er wird definiert durch die Toleranzbreite der Beteiligten und die anspruchsvolle Kunstfertigkeit des Kompromisses. Wer mehr haben will, bekommt erst Krach und am Ende meistens weniger.

Helmut Aßmann

 


Ende des Tages

22. februar 2021

 

„Am Ende des Tages“ wird man sehen, worum es geht. Oder was herausgekommen ist. Oder wer den Sieg davongetragen hat. Seit einigen Jahren hat sich diese Redewendung eingebürgert. Nicht einfach „am Ende“ oder „zum Schluss“ oder „schlussendlich“ wie früher, sondern bestimmter, präziser, zeitlich genauer kommt sie daher. Wenn der Tag vorüber ist, wird Bilanz gezogen, Kassensturz gemacht oder das Ergebnis formuliert. Man könnte denken, hier habe ein frommes Unterbewusstsein die Fäden gezogen, denn der biblische „Tag des Herrn“ ist in der Tat ein Termin der Abrechnung, des Gerichts und der unwiderruflichen Urteile über Gut und Böse. Aber das wäre der geistlichen Hoffnung vermutlich zu viel. Eher das Gegenteil ist der Fall. Weil das Ende eines Vorgangs oder einer Entwicklung meistens eher schwer anzugeben oder einzuschätzen ist und in einer Welt, in der Warten, Hoffen, Geduld und Gelassenheit nach und nach ihre Plausibilität und Vollzugsberechtigung verlieren, sollte im Sinne der Roadmaps und Milestones, mit denen termingeschüttelte und erfolgsverdammte Projektleiter ihr Dasein strukturieren, wenigstens sprachlich so getan werden, als wäre am „Ende des Tages“ das Ergebnis desselben zu sehen. Tatsächlich geht das natürlich kaum je auf. Die Welt ist komplizierter als unsere Pläne, und die Menschen unberechenbarer als die Algorithmen, mit denen wir ihr Handeln voraussagen, und, am Ende des Tages muss auch das eingerechnet werden, gilt der gute alte und fromme Satz: „Der Mensch denkt, und Gott lenkt“. Was immer am Ende des Tages zu sehen sein wird – das Ende der Dinge ist es nicht. Und der Tag des Herrn ist zum Glück so weit im Voraus terminiert, dass wir uns über das Ende dieses sehr speziellen Tages keine Gedanken machen müssen. Aus diesem Grund gibt es seit Jahrhunderten in unserem Kulturraum eine relativ einfache Beschreibung für das, was am Ende des Tages geschieht: Feierabend.

Helmut Aßmann

 


Ungleichzeitigkeit

15. februar 2021

 

Ein Mensch hat üblicherweise drei Kraftzentren zur Verfügung. Den Kopf als das mentale, das Herz als das emotionale und das Geschlecht als das vitale Kraftzentrum. Man möge das bitte nicht pressen, es geht eher um symbolische Orte (darum geht es ja (fast) immer …). Interessanterweise stehen diese Kraftzentren zwar einigermaßen zuverlässig zur Verfügung, aber keineswegs in einem vergleichbaren oder stets abrufbaren Bereitschaftsgrad. Wenn die sexuelle Leistungskraft am höchsten und explosivsten entwickelt ist, sind Herz und Kopf noch dabei, sich zu sortieren. Das kann erfahrungsgemäß lange dauern. Wenn das aber endlich erreicht oder auf ein betriebsfähiges Niveau gelangt ist, geht die vitale Kraft schon wieder zurück. Am längsten braucht in der Regel das Herz. Das hat seine volle Dimension von Weite, Milde und Tiefe dann erreicht, wenn auch die mentale Kraft schon wieder auf dem absteigenden Ast sitzt. Den Zeitpunkt, an dem man aus allen drei Zentren ein Maximum an Kraft und Wirkungstiefe gewinnen kann, gibt es nicht. Naja, sagen wir: höchst selten, und dann kurz. Und die Menschen, bei denen diese Zentren gut aufeinander abgestimmt, gewissermaßen zu einer konzertierten Kooperation in der Lage sind, kann man zählen. Es handelt sich eher um Ausnahmefälle. Man kann das beklagen. Was könnte alles geleistet und erreicht werden, wenn es sich anders verhielte! Wieviel weiter wäre die Menschheit, wenn zur Weisheit auch noch die Kraft käme! Wie oft muss man feststellen, dass die Erkenntnis da, aber das Vermögen abhanden gekommen ist; oder der Antrieb groß auftrumpft, es aber um die Vernunft schwach bestellt ist; oder das Herz den Sinn fühlt, aber gegen die Logik des Verstandes nicht ankommt. Andererseits ist zu bedenken: Leute, die zugleich voller mentaler, emotionaler und vitaler Energie stecken, sind kaum auszuhalten. Es ist womöglich ein Akt göttlicher Barmherzigkeit, die drei Zentren weitgehend asynchron laufen zu lassen, damit im normalen Leben die einen nicht größenwahnsinnig und die anderen nicht rammdösig werden.

Helmut Aßmann

 


Bayern München

09. februar 2021

 

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin aus geburtspatriotischen Gründen Anhänger des Hamburger Sportvereins, kurz: HSV. Der hat nach schier nicht endenwollenden K(r)ämpfen seinen Platz in der 2 Bundesliga gefunden. Das war auch gut so, damit er mit ordentlichem Anlauf wieder dahinkommt, wo er schon wegen der Größe der namensgebenden Stadt hingehört: in die 1. Liga. Allein aus diesen schlichten Gründen ist Bayern München ein Nogo in meinem überschaubaren fußballerischen Universum. Mit anderen Worten: Diese Zeilen sind ganz und gar objektiv. Seit gefühlten 30 Jahren beherrscht der Lederhosenverein aus der Isar-Metropole unser Kickerdeutschland und derzeit wie der olympische Jupiter irgendwie die ganze Welt. Die anderen Vereine, die mit Herz und Nervosität, enthusiatischem Einsatz und herrlichem Fußball für gute Unterhaltung sorgen, gehen ebenso zuverlässig wie regelmäßig unter, wenn es auf die entscheidenden big points ankommt, die man nun mal für die erfolgreiche Thronbesteigung machen muss. Dortmund vorneweg, aber auch Leverkusen, Leipzig, und wie sie alle heißen: Im entscheidenden Spiel werden Elfmeter verschossen, Eigentore fabriziert und Fitness-Tiefs angesteuert. Und am Ende haben wieder Müller, Neuer & Co. die Hand an der Schale, ganz egal wie der Trainer heißt. Man möchte schier die Sportart wechseln und stattdessen Biathlon oder etwas ähnlich Unsensationelles anschauen. Da gibt es immer mal wieder ein wenig Abwechslung im Siegerpersonal. Die Tristesse der bayerischen Dauerdominanz im Fußball aber wird nur durch die zugegebenermaßen originellen Einlassungen von Thomas Müller kommunikativ etwas abgefedert. Ansonsten gehört es für jeden frommen deutschen Fußballanhänger zum festen Bestandteil des Nachtgebetes, dass dieser Verein endlich mindestens 6 Mal hintereinander verlieren und außerdem einen anderen Vorstandsvorsitzenden mit weniger rechthaberischen Allüren bekommen möge. Bayern München in der deutschen Bundesliga ist so etwas wie die Inkarnation der Langeweile. 

Aber dafür schaut man doch kein Fußball, oder?

Helmut Aßmann

 


Themenfindung

01. februar 2021

 

Es gab Zeiten, da wechselten sich die Themen des Tages ab. Nicht immer besonders sinnvolle Themen, gewiss. Die neueste Entgleisung von Donald Trump, irgendeine Fehlleistung von Peter Altmaier, Wirecard - Ungeheuerlichkeiten oder der 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven. Aber Abwechslung gab es, das ist schon ein Wert. Ebenso im Privaten. Die Erneuerung des Garagenanstrichs, Tante Luises 80. Geburtstag und die Gartenparty beim Nachbarn, immer hübsch hintereinander, durcheinander, abwechslungsreich. Nun gehen uns die Themen aus. Corona im Großen, Corona im Kleinen. In der Bahn, im Büro, am Band und im Bett. Scheißlangweilig. Das morgendliche Studium der Inzidenzzahlen hat etwas von Alkoholismus an sich: Man weiß, dass es einem nicht gut tut, aber man studiert sie trotzdem. Der Effekt ist voraussehbar immer derselbe: Angst, Sorge, Ärger – all die Depressions-Beschleuniger,  die einem Tag schon vor dem ersten Schluck Kaffee sauer machen. Und wenn man dann außergewöhnlicherweise jemanden trifft, der nicht zum Routinebestand des Tagesablaufs gehört, dann fallen einem wieder nur Corona-Themen ein.  Wer ist infiziert, wie vermeidet man beschlagene Brillen, warum ist der Impfstoff durchsichtig und nicht grün, usw. Ist ja sonst auch nichts los. Man merkt daran, wie stark unsere Themenzufuhr von den äußeren Umständen lebt und wie mühselig es ist, eigene Themen zu setzen. Das ist keine neue Erkenntnis. Um dieser Mühe zu entgehen, hat sich die Menschheit stets variable Möglichkeiten der Themenfindung durch Zeitvertreib einfallen lassen, vom Würfelspiel über den Kaffeklatsch bis zum Instagram-Account. Der Bedarf daran wächst in dem Maße, in dem weniger Arbeitszeit zur Lebenssicherung anfällt. Wenn nun zwangsweise viel Zeit und wenig Möglichkeit zum Zeitvertreib zusammenkommen, schrumpft der Themenraum. Kein Besuch, die Serien sind durchgeschaut, die Spiele sattgedroschen, da wird es langweilig und verdrießlich. Es sei denn, man entdeckt, dass in einem selbst mehr Leben steckt als der Tag zu fassen imstande ist. Und dass jeder Augenblick eine unendliche Tiefe hat, wenn man sich nur in ihn hineinbegeben versteht. Das geht, wirklich.

Helmut Aßmann

 


Impfalarm

25. januar 2021

 

Wir halten fest: Es sind offenbar ganz zuverlässige Impfstoffe entwickelt worden. Gleich in verschiedenen Firmen, so dass die Welt nicht nur von einem Präparat abhängig sein wird. Die Impfungen haben begonnen. Die Bestellungen sind abgeliefert, die Firmen produzieren. Die ortsfesten und die ambulanten Impfzentren haben ihre Arbeit aufgenommen. Klappt natürlich nicht alles auf Anhieb. Mal sind die Verteilerlisten nicht ganz zuverlässig, mal kommt der Stoff verspätet, mal hat ein Krankenwagen einen Platten, und ein andermal ist wegen Corona irgendeine Lieferkette unterbrochen. Also ähnlich wie bei einer Hochzeit mit 100 Gästen: Irgendetwas geht immer schief. Vom geplatzten Hochzeitskleid bis zu den vergessenen Tischrosen und falschen Einladungskarten – alles im grünen Bereich. Bei der Impferei geht es allerdings um etwa 60 Millionen Menschen, die so rasch als möglich bedient werden sollen, nicht um eine Hochzeitsgesellschaft, die eine Halbtagsfeier unfallfrei über die Bühne bekommen will. Und da lese ich nun in großen Aufmachern vom desaströsen Stotterstart der Anti-Corona-Kampagne. Ich fasse es nicht. Wer da alles versagt haben soll! Der Oberimpfminister vorneweg, das ohnehin ja landesweit bekannte Beschaffungsunwesen unter der Leitung von Ursula von der Leyen, diesmal auf europäischer Ebene, natürlich die Gesundheitsämter und überhaupt die staatliche Bürokratie. Ach ja, und allergische Reaktionen oder etwas Vergleichbares hat es natürlich auch schon gegeben – womöglich ist in diesem Fall der Impfstoff wegen der zeitlichen Versäumnisse schon verschimmelt gewesen…

Dabei muss die Sache genau andersherum gelesen werden: Wenn es keinerlei Holprigkeiten gegeben hätte, hätte ich auf eine Placebo-Nummer getippt, mit Kochsalzlösung. Nur in Filmen und bei Fakes läuft alles reibungslos. Eine perfekte Welt hat selbst der Schöpfer nicht gewollt.

Helmut Aßmann

 


Kapitol

18. januar 2021

 

Nun hat es ihn tatsächlich gegeben, den Sturm auf das Kapitol in Washington. Ausgerechnet am Epiphaniastag, dem Fest der Erscheinung des Herrn. Der amtierende amerikanische Präsident hat seine Anhänger über lange Zeit für diesen Entschluss vorbereitet, in immer neuen Tiraden gegen das politische Establishment, die abgehobenen Eierköpfe im Parlament, die Sesselfurzer, die das Leid der armen Leute nicht sehen (wollen). Aus heiterem Himmel kam es alles also nicht. Vorzeichen gab es in Hülle und Fülle. So wenig wie das dagegen eher kümmerliche Stürmchen auf den Berliner Reichstag im Juni letzten Jahres. So wenig auch wie die Entmachtung des Parlaments der Weimarer Republik durch die Nazis. So wenig wie den Sturm auf die Bastille. Es kommt nie aus heiterem Himmel. Überraschend ist es am Ende trotzdem, weil sich kaum jemand vorstellen kann, dass ein Mensch damit Ernst macht. Der Glaube an die Vernunft, die am Ende obsiegen wird, an das Gute, gegen das doch kein Mensch ernsthaft etwas haben kann, an das gute Ende, das irgendjemand schließlich doch herbeizuführen vermag, oder an das Wunder, das ein Gott vom Himmel schickt – was auch immer, das Äußerste kommt immer unerwartet, weil der Glaube und die Gewöhnung stärker als der Realitätssinn sind. Und weil die Angst vor der rechtzeitigen, ernstgemeinten Auseinandersetzung mit gegebenen Übelständen stärker empfunden wird als die Verantwortung, selbst bei einer Veränderung Hand anzulegen. Dann verhindert eine Mesalliance von Trägheit, Vertrauen und Wirklichkeitsverweigerung, dass die Zeichen der Zeit erkannt, gewürdigt und in angemessene Handlungen umgesetzt werden. 

Dann liegt das Kind im Brunnen, obwohl jeder wusste, wo der Brunnen, wie alt das Kind und wie niedrig der Zaun um den Brunnen war.

Helmut Aßmann

 


Ungleichzeitigkeit

11. januar 2021

 

Ein Mensch hat üblicherweise drei Kraftzentren zur Verfügung. Den Kopf als das mentale, das Herz als das emotionale und das Geschlecht als das vitale Kraftzentrum. Man möge das bitte nicht pressen, es geht eher um symbolische Orte (darum geht es ja [fast] immer …). Interessanterweise stehen diese Kraftzentrum zwar einigermaßen zuverlässig zur Verfügung, aber keineswegs in einem vergleichbaren oder stets abrufbaren Bereitschaftsgrad. Wenn die sexuelle Leistungskraft am höchsten und explosivsten entwickelt ist, sind Herz und Kopf noch dabei, sich zu sortieren. Das kann erfahrungsgemäß lange dauern. Wenn das aber endlich erreicht oder auf ein betriebsfähiges Niveau gelangt ist, geht die vitale Kraft schon wieder zurück. Am längsten braucht in der Regel das Herz. Das hat seine volle Dimension von Weite, Milde und Tiefe dann erreicht, wenn auch die mentale Kraft schon wieder auf dem absteigenden Ast sitzt. Den Zeitpunkt, an dem man aus allen drei Zentren ein Maximum an Kraft und Wirkungstiefe gewinnen kann, gibt es nicht. Naja, sagen wir: höchst selten, und dann kurz. Und die Menschen, bei denen diese Zentren gut aufeinander abgestimmt, gewissermaßen zu einer konzertierten Kooperation in der Lage sind, kann man zählen. Es handelt sich eher um Ausnahmefälle. Man kann das beklagen. Was könnte alles geleistet und erreicht werden, wenn es sich anders verhielte! Wieviel weiter wäre die Menschheit, wenn zur Weisheit auch noch die Kraft käme! Wie oft muss man feststellen, dass die Erkenntnis da, aber das Vermögen abhanden gekommen ist; oder der Antrieb groß auftrumpft, es aber um die Vernunft schwach bestellt ist; oder das Herz den Sinn fühlt, aber gegen die Logik des Verstandes nicht ankommt. Andererseits ist zu bedenken: Leute, die zugleich voller mentaler, emotionaler und vitaler Energie stecken, sind kaum auszuhalten. Es ist womöglich ein Akt göttlicher Barmherzigkeit, die drei Zentren weitgehend asynchron laufen zu lassen, damit im normalen Leben die einen nicht größenwahnsinnig und die anderen nicht rammdösig werden.

Helmut Aßmann

 


Blinder Fleck

04. januar 2021

 

Menschen sind visuelle Wesen. Im Laufe der Evolution sind die Augen nach vorne gewandert, haben auf diese Weise das räumliche Sehen ausgebildet (vielleicht war es auch anders herum) und damit den Gesichtssinn zum prägenden Wahrnehmungsformat menschlicher Wirklichkeitserfassung werden lassen. Die Allgegenwart der Bilder, mit denen wir uns umgeben und von denen wir uns beeinflussen lassen, legen beredtes Zeugnis von dieser Entwicklung seit Jahrtausenden ab. Nur eines sieht man nie: Die eigenen Augen. Was man sehen kann, sind die Umrandungen oder Zusätze: Brillen, Wimpern und dergleichen. Das, womit man sieht, sieht man nicht. Dabei ist klar, dass die Verfassung des Auges und seine Sehkraft und seine Funktionalität alles bestimmt, was wir sehen. Wir sehen natürlich nur, was und wie unsere Augen etwas erfassen. Alles andere bleibt unsichtbar. Das ist viel mehr und gravierender als ein blinder Fleck. Der lässt sich schon durch das Stereo – Sehen weitgehend kompensieren. Aber unsere Augen können sich selbst nicht sehen. Die bleiben grundsätzlich verborgen. Man sieht das nicht, womit man sieht, denkt nicht das, womit man denkt, erkennt nicht das, womit man erkennt. Darum kann kein Mensch sagen, wer er oder sie ist – denn niemand kann auf Distanz zu sich gehen, was den Kern seines Bewusstseins angeht. Alles andere kann man natürlich wahrnehmen und zum Gegenstand des Nachdenkens oder Handelns machen – aber das, womit man sich erfasst, eben nicht. Der Mensch als das Wesen, das sich selbst wahrnimmt, aber nicht seine Wahrnehmung wahrnehmen kann – was für eine merkwürdige Existenz. Man kann die Menschwerdung Gottes ja auch einmal so betrachten: Gott wollte einmal sehen, wie es ist, wenn man als Mensch sich selbst ein Rätsel ist. Eine zwiespältige Erfahrung ist das wohl auch für ihn.

Helmut Aßmann

 


Kinder des Lichts

30. dezember 2020

 

Im Lukasevangelium (Kap.16) gibt es einen bemerkenswerten Ausspruch Jesu über die von ihm so genannten „Kinder des Lichts“. Das sind die Leute, die ihm folgen. Etwas drastisch ausgedrückt, lautet der Satz: Die Kinder des Lichts sind stets dümmer als die normalen Menschen. Noch etwas zugespitzt: Glaubensvertreter haben stets etwas Einfältiges an sich. Mit den Tricks und Kniffen der realen Welt sind sie eben nicht so vertraut wie ihre glaubensfreien Zeitgenossen. Das hört natürlich kein glaubender Mensch gern. Schon gar nicht die deutschen protestantischen Vertreter des Glaubens, die auf die akademische Ausbildung ihres Pfarrstandes und die bildungsbürgerliche Durchformung ihrer haupt- und ehrenamtlichen Vertreter besonders viel Wert legen. Man muss schon Bach mögen, na, wenigstens kennen, und sagen wir mal den „Kleinen Prinzen“ von St. Exupery gelesen haben, um sich im lutherischen Kirchenschiff wohlzufühlen. Neuerdings tut eine Prise grün-roter Politik und genderpolitische Aufgeschlossenheit der Zugehörigkeit auch ganz gut. Aber doof, nein, doof möchte keiner sein. Mündigkeit, Autonomie, Freiheit und Selbstbewusstsein sind die Kriterien, auf die etwas zu geben ist. Dabei ist die Sache seit der Bergpredigt ziemlich klar, und zwar ganz im anderslautenden Sinn: die geistlich Armen, die Friedfertigen, die Sanftmütigen, die reinen Herzens sind – das sind eben nicht die Highflyer auf dem gesellschaftlichen Parkett, und Paulus’ Hinweis aus 1.Kor.1 ist nicht anders gestimmt: Nicht viel Weise oder Kluge, sondern eher das Unterdurchschnittliche kommt vor den Augen Gottes gut zu stehen. Aber, ehrlich nachgefragt, sind Menschen, die allen Ernstes an die Liebe als höchste und mächtigste Kraft dieser Welt glauben, nicht tatsächlich ein bisschen gaga? Sind Leute, die in einer darwinistischen Welt auf Vertrauen setzen, nicht stets gefährdeter als andere, über den Tisch gezogen zu werden? Ja, und ist nicht der Glaube an eine Welt jenseits dieser Welt schon die Voraussetzung, nicht wirklich ernst genommen zu werden? Es braucht seine Zeit, um zu verstehen, dass die Nicht – Klugheit der Kinder des Lichts zwar ein taktischer Nachteil in einer als Überlebenskampf verstandenen Daseinsform, aber eine strategische Maßnahme des Himmels zugunsten aller anderen ist.

Helmut Aßmann

 


Ordnungsverlust

20. dezember 2020

 

Bei meinen Führungen in der Michaeliskirche zu Hildesheim habe ich stets das Vergnügen, auf das Lebensgefühl und Weltbild der mittelalterlichen Menschen hinzuweisen, die diese Welterbekirche 1010 begonnen haben. Ottonischer Baustil – Romanik in wundervoller Klarheit. Er repräsentiert eine Welt in vollkommener Ordnung: Die Erde im Mittelpunkt der Welt, die Gestirne auf den konzentrischen Kugelschalen um sie herum geordnet. Jenseits der translunaren Sphäre der Himmel Gottes. Im Himmel selbst Scharen von Engeln, sorgsam in 9 sogenannten Chören geordnet, von den gemeinen Schutzengeln bis hinauf zu den Cheruben und Seraphen vor dem Thron des Höchsten. Auf der Erde in wohlgeordneter Abstufung der Seinsqualitäten die Tiere, Pflanzen bis hinab zu den Mineralien. Aufgebaut aus den vier Elementen Wasser, Feuer, Luft und Erde. In der Mitte der Mensch, dessen fragile Position durch die kirchlichen Sakramente und göttlichen Gnadenerweise stabil gehalten wurde, damit nicht der Kosmos als geordnetes Weltganzes durch menschliche Fehlbarkeit aus seinem von Ewigkeit her geplanten Gefüge gerät. Da gab es einen Sinn für alles und in allem. Da gibt es nicht, was da nicht hingehört. – Eine ferne Welt. Nichts davon ist geblieben. Die Erde – ein x-beliebiger Sonnentrabant am Rande der Milchstraße. Die sphärischen Schalen – verschwunden in der leeren Wüste des Alls. Der Himmel – leer. Der Mensch – ein Zufallsprodukt biochemischer Prozesse. Das Leben – eine Strukturqualität von kohlenstoffbasierten Molekülketten. Die Elemente – Verdichtung eines unübersichtlichen Teilchenzoos. Mann und Frau – variable Rollenzuschreibungen einer vormodernen Gesellschaft. Die Kirche – ein historischer Dauerläufer, dem allmählich doch der institutionelle und thematische Atem ausgeht.
So gesehen kann man die Neuzeit seit Kopernikus als eine Geschichte unentwegten Ordnungsverlustes lesen. Bis wir am Anfang des dritten nachchristlichen Jahrtausends feststellen, dass uns die Wissenschaft keine Antwort auf die Frage zu geben vermag, wer wir sind und wohin wir gehören. Nach wie vor glauben. Lieben, hoffen wir. Aber die Gegenstände sind fraglich. Vorschlag: Solange es nichts Besseres gibt, tun wir so, als ob es noch beim Alten wäre, beim Lieben, Glauben und Hoffen. Mal sehen, was dabei herauskommt.

Helmut Aßmann

 


Stellschrauben

14. dezember 2020

 

Der Prophet Jeremia war ein Zeitgenosse der Eroberung und Zerstörung Jerusalems im ersten vorchristlichen Jahrtausend. Er musste zusehen, wie die gesellschaftlichen Eliten nach Babylon, der damaligen Großmacht an Euphrat und Tigris, verschleppt und fernab ihrer Heimat zwangsangesiedelt wurden. Berühmt geworden ist er durch einen Brief, den er den Exulanten schrieb. Statt zum Durchhalten aufzufordern und die Hoffnung zu nähren, dass es bald ein Ende mit dieser Situation haben werde, empfiehlt er darin, sich in der Situation einzurichten, Häuser zu bauen, Kinder zu zeugen und sogar für die Stadt Babylon zu beten: „Sucht der Stadt Bestes“ – so das berühmte Zitat. Ein bemerkenswerter Vorschlag. Auf Neudeutsch könnte man vielleicht so zusammenfassen: „Jammert jetzt nicht herum und versucht die Augen vor der Realität zu verschließen, sondern: Macht was draus!“ Weiter paraphrasiert: „Sucht nach Räumen, die ihr füllen könnt, und seien es auch nur kleine Winkel. Fragt nach Optionen, die euch offenstehen. Nach Möglichkeiten, eigene Akzente zu setzen. Glaubt nicht und niemals, dass nichts mehr geht. Irgendeine Bewegungsvariante zeichnet sich immer ab. Ihr könnt euch immer verhalten. Das Schicksal ist kein Betonpfeiler“. Kein Geringerer als Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, hat diese Situation sogar im KZ durchgemacht und von der Widerstandsmacht gesprochen, die dem Menschen auch in den sackgassigsten Umgebungen zur Verfügung steht. Es gibt immer Stellschrauben an der Wirklichkeit, weiche Flächen und nachgiebige Ordnungen. Das liegt an der Gegenwart Gottes in allen Dingen. Die Dinge sind immer nicht nur das, als das sie erscheinen. Selbst im Tod, wenn wir keine Stellschrauben mehr bedienen können – im Gegenteil, da fängt Gott selbst an, an ihnen zu drehen …

Helmut Aßmann

 


Lebensrisiko

07. dezember 2020

 

„Wird’s besser? Wird’s schlimmer?
fragt man alljährlich.
Seien wir ehrlich: Leben ist immer
lebensgefährlich.“

So Erich Kästner. Mir fällt dieser Vers bei den zahlreichen sogenannten Schutzkonzepten ein, die neuerdings unter diesem Label dafür sorgen sollen, dass einem nichts passiert bzw., wenn etwas passiert, dass man dann weiß, wer zur Rechenschaft zu ziehen ist. Arbeitsschutzkonzepte, Diskriminierungsschutzkonzepte, Corona – Schutzkonzepte, Missbrauchs – Schutzkonzepte usw. Sie entstehen aus der berechtigten Sorge, dass böse Dinge vor allem dann geschehen, wenn wir unachtsam, unordentlich und unsortiert miteinander umgehen. Und, seien wir ehrlich, der Sicherheitsgurt hat Hunderttausende Menschen vor dem Unfalltod bewahrt, Fluoridtabletten haben Millionen von Kindern gegen Karies gewappnet, und die Abschaffung von Paternostern hat eine Unzahl von Brüchen und Quetschungen verhindert. Das Elend bei den Schutzkonzepten ist genau die Rückseite des Gewinns. Wenn einem keiner Böses tun kann, können einem andere auch wenig Gutes tun. Gut und Böse kommen in ihrer Intensivform ja beide aus menschlicher Hand und menschlichem Herz. Es bleibt stets und immer ein Lebensrisiko bestehen. Vor allem dann, wenn man sich auf andere Menschen einlässt. Was man ja wiederum tun muss, um menschlich zu werden. Es gibt, so leidvoll das ist, kein natürliches Recht auf Unversehrtheit, Gesundheit oder lebensförderliche Umgebungen. Das Lebensrisiko tragen wir, niemand sonst. Es ist, zugegeben, eine Bürde. Aber auch die hat wiederum eine interessante Rückseite: Das ist die Würde, sie als Mensch zu tragen.

Helmut Aßmann

 


Zeitgewinn

30. November 2020

 

Dass wir in einem Zeitalter der Beschleunigung leben, haben schon viele bedeutende Köpfe festgestellt. Belletristische und philosophische Versuche darüber gibt es zuhauf. Die Statistiken lassen keinen Zweifel daran. Die Entwicklungszyklen von Kraftfahrzeugen, Computern und Funktionstextilien sorgen für immer kürzere Abstände zwischen den Updates von Alltagsaccessoires, die wir als moderne Menschen zu benötigen haben sollten. Wir gewinnen Zeit auf diese Weise. Wir sparen sie durch schnellere Transportmittel, flexiblere Lieferketten oder dynamischer ausgelegte social media, neuerdings durch Homeoffice, vpn – Tunnel und cloud-management. Das verkürzt außerdem berufliche Arbeitszeit und gibt mehr Luft, Raum und Gelegenheit für das, was man zur Pflege des eigenen Menschseins betreiben und beachten sollte. Genau hier erhebt sich eine unangenehme Frage: Was soll das inhaltlich sein? Was hilft dem zivilisatorischen oder humanen Prozess auf ein höheres Niveau? Was ist es, das jenseits der Arbeitszeit und in der durch beschleunigte Produktions- und Vertriebsverfahren verminderten gewonnenen Mußezeit stattfinden kann, oder: soll? Fernsehen? Das war eher früher. Heute sind andere mediale Formate en vogue. Singen oder Bücherlesen, Hausmusik oder Gesellschaftsspiele, Vereinssport und Freiwillige Feuerwehr – das ist alles, soweit es die einschlägigen Umfragen nahelegen, eher im Rückgang. Computerspiele, Serien im Pay-TV, Chatten, Chillen, Craftsbeer trinken, die 0.3 Liter Flasche zu mindestens 2,50 €, Party machen - ist es das? Die gewonnene Zeit will ja gefüllt und nicht schon wieder vertrieben sein. Warum sonst sollten wir solchen zivilisatorischen Aufwand getrieben haben, um sie aus dem Gleichlauf der Dinge herauszupressen? Hans Blumenberg hat es einmal pointiert auf die spitze Formulierung gebracht: „Zeitgewinn für Zeitvertreib, das scheint mir die Grundstruktur in der ganzen Neuzeit zu sein“. Wär doch wunderbar, wenn er nicht Recht hätte …

Helmut Aßmann

 


Positiv

23. November 2020

 

Nun also: Meine Frau ist positiv getestet. Auf Corona natürlich, dieses elende Virus, das derzeit Weltgeschichte schreibt. Symptome: Wie bei einer Erkältung, ärgerlich und mühselig, zuzüglich Geruchs- und Geschmacksverlust, aber das ist es dann auch zum Glück. Sie ist keine Risikopatientin, raucht nicht, ernährt sich gesund, macht altersgemäßen Sport. Als Folge hockt nun der ganze Hausstand in Quarantäne für etwa 10 Tage oder so. Ganz genau weiß ich das nicht, weil es von meinem eigenen Testergebnis abhängt. Das bekomme ich heute Abend per Corona – Alarm – App. Wir arrangieren uns im Haus, gehen auf Distanz miteinander um, schlafen nicht im selben Bett und essen nicht gemeinsam. Stundenlang Bildschirmkonferenzen, Zoom, lesen, umeinander herumtigern, telefonieren. Immerhin, wir haben einen Garten – das ist schon eine Menge Auslauf für einen, der bei Androhung von satten Bußgeldern nicht aus der Tür darf. Kaum ist die Nachricht an den Arbeitgeber weitergegeben, laufen die Beileidsbekundungen ein – noch nicht zum Ableben, aber doch zur alsbaldigen Genesung und aktueller Bestandsgarantie. Um einen herum breitet sich ein Taburaum aus, in den man nur mit Lebensgefahr oder als Schicksalsgemeinschaft eintreten darf. Ich habe keine Symptome. Gott sei Dank nicht. Aber ich fühle sie kommen, wenn ich genau in mich hineinhöre und –fühle. Die Stimme ist irgendwie ein wenig angekratzt, denke ich, und irgendwie habe ich einen komischen Geschmack im Mund (oder gar keinen?), ein wenig Druck auf der Lunge ist ebenfalls spürbar, und leichter Kopfschmerz gesellt sich auch hinzu. Ich denke an Thomas Manns „Zauberberg“ und Hans Castorp, der ist am Ende vor lauter Krankheitsvermutungen gestorben, obwohl er kerngesund ins Sanatorium lediglich zu einem Besuch vorbei kam. Das ist Literatur, aber hier ist das Leben. Oder war es anders herum? Man weiß es manchmal nicht so genau. 

Corona ist wahrscheinlich in erster Linie gar kein Virus, sondern vor allem ein Geist, der sich in die Häuser schleicht und die Leute wuschig macht. Wenn man empfindlich genug ist, dann kann man es bei der Arbeit wahrnehmen – es macht die Leute immer ängstlicher. Das ist leichter als sie zu töten.

Helmut Aßmann

 


Wissenschaftsglaube

16. November 2020

 

Das Elende an der Wissenschaft ist, dass sie keine Geschichte erzählt, sondern Fakten präsentiert. Zwar versuchen sich ein paar begabte Wissenschaftsentertainer wie Harald Lesch oder Range Yogeshwar mit Erfolg darin, aus den mathematischen Formeln und physikalischen Gesetzen Geschichten herauszulesen, aber die haben mit uns, uns Menschen, immer nur am Rande zu tun. Das ist anders bei Märchen wie Rotkäppchen oder Peter Pan, beim Mythos von Prometheus oder den Geschichten von Abraham, auch wenn die alle keine historischen Begebenheiten darstellen, sondern anderen literarischen Gattungen zuzurechnen sind. Wissenschaft ist, genau genommen, nur mittelbar am Menschen interessiert. Wenn etwas Praktikables bei der Forschung herauskommt, ist das willkommen, aber nicht zwingend. Und wenn wirklich etwas Praktikables dabei herauskommt, muss man stets aufpassen, dass daraus nicht die nächste Waffe gebaut und ausprobiert wird. Dabei war die Wissenschaft einmal angetreten, uns die Welt erklärlich und durchsichtig, verständlicher und durchaus auch wohnlicher zu machen. Dabei herausgekommen ist unter der Hand und ohne bösen Willen, dass dabei jegliche Auskunft über den Menschen, seine Position im Weltgetriebe und seinen Sinn als bewusstes, lebendiges Wesen auf der Strecke bleibt. Wir haben die Welt weitgehend verstanden, so scheint es, aber keine Ahnung, wozu es uns darin eigentlich gibt. Man sollte der Wissenschaft deswegen viel Vertrauen schenken, was ihre Erkenntniskraft angeht. Aber, bitte, Vorsicht, wenn daraus Schlüsse auf den Menschen gezogen werden. Dann lieber Rotkäppchen, Peter Pan, Prometheus oder, am liebsten, Abraham.

Helmut Aßmann

 


Prepper

09. November 2020

 

Seit Jahren schon gibt es sie, angesichts der drängenden zivilisatorischen Probleme durch das Corona-Virus werden sie eine beachtenswerte Gruppe im bunten gesellschaftlichen Kaleidoskop: Prepper. Der Name kommt von „Preparation“ bzw. „to prepare“ – Vorbereitung bzw. vorbereiten. Prepper sind Leute, die sich vorbereiten auf eine Situation, in der sie ganz auf sich allein gestellt sind. In Zeitschriften wie dem „Prepper Magazin“ oder dem „Desaster Magazine“ wird erläutert, wie man sich am besten mit Nahrungsmitteln, Schutzbehausungen, Waffen oder survival tools für den Fall versorgt, dass Naturkatastrophen, feindliche Armeen, Aliens oder irgendetwas anderes apokalyptisch Anmutendes um die Ecke kommen. Seit den 70er Jahren entwickelt sich die Szene, die – natürlich – aus den USA stammt, wo erfahrungsgemäß planetare Untergangsängste den fruchtbarsten seelischen Nährboden finden. Dass die Welt mit Feuer und Brand untergehen wird – und das auch mit Fug und Recht verdient hat, prophezeit immerhin schon die Offenbarung des Johannes, und Jesus selbst empfiehlt in seinen Gerichtsreden im Matthäusevangelium, man solle im Akutfall der Katastrophe auf die Berge fliehen, also so etwas wie Vorsichtsmaßnahmen treffen. Insofern gibt es vermeintlich sogar so etwas wie eine biblische Begründung für die Prepper - Aktivitäten. Es steckt allerdings auch ein fundamentales Missverständnis in der Sache, und die betrifft die Haltung gegenüber der Katastrophe. Die biblischen Texte sind Trostworte, keine Kampfmittel. Sie setzen ihre Hoffnung auf den in allem undurchschaubaren Weltgeschiebe immer noch gegenwärtigen Gott und nicht auf die Konservenbüchsen, die ein unterirdisches Weiterleben für die nächsten 20 Jahre garantieren. Noch kritischer: Der Seher Johannes und seine Gemeinde warten auf eine neue Welt für alle und sorgen nicht bis an die Zähne bewaffnet für die Bewahrung der eigenen kleinen Welt. 

Helmut Aßmann

 


Hamstern

02. November 2020

 

Nun hamstern sie wieder. Die zweite Corona - Welle rollt durchs Land. Die Regale mit Toilettenpapier, Mehl und Nudeln in den Super- und Drogeriemärkten sind nach einem halben Jahr wieder einmal leer. Der Verkauf solcher Hamsterware wird limitiert. Es gibt gelegentlich lautstarken Streit darüber, wer die letzte Packung aus dem Regal nehmen darf. Derweil betonen alle einschlägig zuständigen Politiker, dass es kein Problem in den „Lieferketten“ gibt (was immer eine Lieferkette genau in Sachen Toilettenpapier ist), will sagen, es ist genug für alle da. Trotzdem verhalten sich manche Haushalte so, als müssten sie Vorräte für 20 Jahre Dauerdurchfall bunkern. Diese Hamsterei produziert ganz offenkundig genau das Problem, gegenüber dem mit dem Hamstern vorgesorgt werden soll. Das ist eine merkwürdige Sache. Es ist ja nicht wirklich davon auszugehen, dass die ganze deutsche Gesellschaft auf einmal an Diarrhoe erkrankt, also dürfte bei regulärem Stoffwechsel ein Engpass nicht zu erwarten sein. Aber die Mangelbefürchtung schlägt jedes vernünftige Argument. Gegen die bloße Möglichkeit, dass man irgendwann von irgendetwas nicht mehr genug haben könnte, wird eine entfesselte Beschaffungswut aufgeboten, deren Maß allein von der Sorge, nicht aber von den realen Bedürfnissen gesteuert wird. Nehmen wir es als ein Lehrstück über die beschränkte Kraft der Vernunft und der rationalen Einsicht, auf die demokratisches Regierungshandeln so schicksalshaft angewiesen ist. Die Sorge macht Politik, nicht die Fakten. Deswegen lässt sich die Reichweite des Jesuswortes nur unterschätzen: “Sorget nicht …“

Helmut Aßmann

 


Fromm und dumm?

26. oktober 2020

 

Letzthin war zu lesen, dass 80% der Evangelikalen in den USA Donald Trump bei der letzten Wahl die Stimme gegeben haben und dies aller Voraussicht nach auch zu großen Teilen wieder tun würden. Der nordamerikanische „bible belt“ also – eine zuverlässige Basis für die republikanische Partei. Nun wird man auch bei gutwiligster Auslegung des Wortes nicht sagen können, dass Donald Trump ein „gottgefälliges“ Leben führen würde, in dem die Beachtung der Heiligen Schrift eine nennenswerte Bedeutung hat... Die russisch-orthodoxe Kirche und Wladimir Putin verstehen sich seit einiger Zeit auch ganz prächtig und können sich dem Vernehmen nach ziemlich gut aufeinander verlassen. Putin, das wird selbst bei freundlicher Bewertung nicht anders bewertet werden können, hat sich in seiner Existenzgestaltung nicht sehr intensiv evangelischer oder biblischer Vorgaben bedient. Er steht nicht gerade im Verdacht, demnächst in den christlichen Heiligenkalender aufgenommen zu werden. Aber er hat in seinen gläubigen Untertanen ein gutes Fundament für seine anscheinend ewige Präsidentschaft... Um jetzt nicht nur christliche Staatsoberhäupter unter die Lupe zu nehmen: Präsident Erdogan stellt sich gern als frommer Muslim einfachen Zuschnitts dar, mit frommer Koran-Lektüre und regelmäßigem Gebet. Wenn’s geht, auch in einer umgewidmeten christlichen Kirche. Dass seine bombastische Großmannssucht in irgendeiner Form dem Propheten gefallen oder vor Allahs Augen Gnade finden würde, ist mit Fug und Recht zu bezweifeln. Das ändert am Zuspruch der konservativen islamischen Gemeinde interessanterweise gar nichts… Von brasilianischen Verhältnissen einmal ganz zu schweigen... Es ist jedenfalls augenfällig, wie hingebungsvoll sich besonders fromme Vertreter einer Religion vor den Karren autokratischer und despotischer Machthaber spannen lassen. Als würde das gottähnliche Verhalten der Herrscher das Auge dafür trüben, dass Gottes Gebot nicht abhängig ist von der Protokollhöhe der Gläubigen. Der Prophet Nathan hat den ebenfalls zu übersteigertem Selbstbewusstsein neigenden König David zu alttestamentlicher Zeit deswegen einmal mit schneidender Schärfe zur Umkehr gerufen. Er war der Macht nicht auf dem Leim gegangen. Und: David hat darauf gehört. Das ist keine Selbstverständlichkeit, bis heute nicht.

Helmut Aßmann

 


Zaubertrank

19. oktober 2020

 

Miraculix konnte den unbeugsamen Galliern einen Trank brauen, der sie schier unverwundbar, auf jeden Fall aber unüberwindbar machte, vor allem gegenüber den Römern. Mit dem Zaubertrank im Magen konnte man nach Belieben die Feinde verdreschen, sich benehmen wie die Axt im Wald, den alten Ungezogenheiten frönen und sich wie Gott in Frankreich fühlen. Der Zaubertrank, die geheime Mitte des gallischen, nein, des europäischen Widerstandsuniversums.
Die Miraculixe unserer Tage arbeiten dem Vernehmen nach wie verrückt an einem ähnlichen Gebräu, das uns wieder ein normales Leben führen lassen wird, so dass auch wir uns wieder benehmen können wie die Axt im Wald, zu den alten Ungezogenheiten zurückkehren und wie Gott in Deutschland fühlen. Bis dahin müssen wir echten oder Pseudo-Gallier in Hab-Acht-Stellung bleiben, können nicht leben, wie wir wollen, und müssen uns mit fremdherrschaftlichen Rahmenbedingungen abfinden, die einfach keinen Spaß machen. Können keine Römer verdreschen, britische Wildschweine jagen und anderen Leuten Hinkelsteine in den Garten stellen. Möglicherweise fällt uns, wenn es so weitergeht, sogar der politische Himmel auf den Kopf, wie manche lautstark vermuten und mit gewichtigen Argumenten versichern. Deswegen und überhaupt muss man den Miraculixen Dampf machen, Geld geben, sie verführen, so tun, als gäbe es schon etwas oder sie einfach korrumpieren, sonst geht unser Leben dahin, ohne von uns gelebt worden zu sein. Immerhin sind rund 190 Druidengemeinschaften am Start, um endlich den Zaubertrank unserer Tage präsentieren zu können. Da muss doch irgendwas dabei sein! Wozu leisten wir uns schließlich alle diesen Druidenstand, wenn sie uns nicht das liefern, was wir brauchen? Wir warten auf den Zaubertrank wie der Wächter auf den Morgen, wie Wladimir und Estragon auf Godot …

Derweil das Leben einfach weiterschreitet.

Helmut Aßmann

 


Empfangsbereitschaft

12. oktober 2020

 

Die regionalen Radiosender haben seit einigen Jahren ein schönes Sende- bzw. Dialog-Format in den Äther gebracht. Sie bieten an, Rechnungen zu bezahlen oder Wünsche zu erfüllen oder einfach Bargeld unter die Leute zu streuen, wenn die Hörerinnen und Hörer auf ein Stichwort hin oder zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Redaktion des Senders anrufen. Oder nur ihre Rechnungen einscannen und per eMail ins Studio schicken. Tolle Sache. Mancher bekommt auf diesem Wege durchaus beträchtliche Erleichterungen seines finanziellen Alltags beschert. Es gibt ja nur eine einzige Bedingung: Man muss zuhören bzw. auf ein bestimmtes Signal warten. Mehr nicht. Na gut, und anschließend anrufen natürlich und sich dann wie ein ausgeflippter Backfisch deutlich hörbar über die unerwartete und durchaus unverdiente Zuwendung freuen. Der Sender versichert sich so seiner Zuhörerschaft und kneift seine Kunden fühlbar an die weichste und empfindlichste Stelle – den Geldbeutel. So wird eine zuverlässige Kundenbindung hergestellt und die wichtigste Energieressource der high-speed – Gesellschaft, die Aufmerksamkeit, eingesammelt. Man muss nur Radio ffn oder Antenne Niedersachsen bzw. deren regionale Geschwister am besten den ganzen Tag angeschaltet lassen. Wer das tatsächlich macht, ist natürlich hinterher um den Verstand gebracht, aber wenn das der Preis für ein paar hundert oder gar tausend Euro ist: Ist das denn zuviel bezahlt? Die Frage ist bekanntlich nicht ohne weiteres mit „ja“ zu beantworten.
Die Idee einer solchen auf Dauer gestellten Empfangsbereitschaft ist nicht neu. Alle Gleichschaltungsorganisationen der Geschichte haben darauf Wert gelegt, dass die Leute nicht auf eigene Gedanken kommen. Aber nie waren diese Überlegungen so erfolgreich realisierbar wie mit den heutigen technischen Mitteln. Der simple Satz aus Gottes Mund: „Dies ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören“ bei der Verklärung Jesu in Mk.9,7 bekommt unter diesen Vorzeichen durchaus eine beeindruckende kulturpolitische Bedeutung.

Helmut Aßmann


Follower

30. september 2020

 

Mit den social media sind die zivilisatorischen Umgangs- und Beziehungsformen um eine ganze Reihe von Formaten erweitert worden. Jeder, der einen Account auf Facebook, Tiktok, Twitter oder derlei bedient, kann einen Kranz von Interessenten sein Eigen nennen, die das, was er bzw. sie gerade postet, für ansehens- oder wenigstens bemerkenswert halten oder so tun, als ob sie das täten. Diese Menschen nennt man gemeinhin Follower. Mit dem zahlenmäßigen Umfang der Follower lässt sich rein quantitativ so etwas wie die soziale Potenz eines Menschen feststellen. Sein digitales Gesellschaftsgewicht, sozusagen. Der Index für den „social impact“, um es auf Neudeutsch zu sagen. Natürlich ist diese Angabe nicht sehr präzise. Was bedeutet es, wenn jemand 3 Millionen Follower hat? Warum jemand einem anderen folgt, kann schließlich sehr verschiedene Gründe haben. Von echtem Interesse bis hin zu sittenwidrigem Stalking kann bekanntermaßen alles dabei sein. Dem aufgerichteten Daumen im Display sieht man es nicht an. Auch wie lange dieses Followership anhält, ist eher von Temperament und Luftfeuchtigkeit abhängig als von belastbaren Kennzahlen. Alles sehr zerbrechlich und flüchtig. Aber gut, das gilt ja, langfristig betrachtet, für fast alle menschlichen Umgangsformen.
Interessant ist der Umstand, dass der Follower meistens nicht viel von sich preisgeben muss. Und er seinerseits informationell natürlich nur von dem lebt, was die Person, der er folgt, an Posts und Informationen in die digitale Öffentlichkeit gibt. So werden die galaktischen Zahlen an Followern, die manche Influencer vorweisen können, rasch verständlich. Es sind technisch formalisierte Verhältnisse, die da gezählt und ausgewertet werden, um es ganz vorsichtig auszudrücken. Für mehr hat man im Grunde auch gar keine Zeit. Beziehungen sind bekanntermaßen aufwendige Angelegenheiten.
Das ist vermutlich auch der schlichte Grund, warum es Jesus seinerseits nur auf 12 – allerdings mit Klarnamen bezeichnete – Follower gebracht hat. Mehr hätte selbst ihn überfordert. Hat aber, was sein Influencing angeht, echt gereicht.

Helmut Aßmann

 


Alles gut

22. september 2020

 

Unlängst war ich im Supermarkt einer anderen Person unbeabsichtigt auf die Hacken gefahren und sagte, wie es sich gehört: „Verzeihung“. Die prompte und gut gemeinte Antwort lautete „Alles gut“. Aha, wieder einmal „alles gut“. Ich weiß nicht, wann sich das in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeschlichen hat: „Alles gut“. Es ist eine stehende Redewendung geworden, ist mein Eindruck. „Alles gut“ - das beantwortet keine Frage, quittiert keine Bemerkung, äußert keine Befindlichkeit. Es ist Summenzug über die Wirklichkeit, der eigentlich, gemäß biblischer Überlieferung, nur Gott ansteht: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“. Okay, „sehr“ gut steht da, also noch eine Steigerung, aber im Aussagekern liegt das nahe beieinander.
Im Falle der Supermarktkarambolage hätte ich ein „macht nichts“ oder „ist in Ordnung“ oder „bitte sehr“, vielleicht auch „kann ja jedem passieren“ erwartet, aber dass „alles gut“ sei, war der inhaltlich am wenigsten zu erwartende Kommentar. Mag sein, dass mein freundlich-erschrockenes Gesicht die Person zu einer solch überschwenglichen Kommentierung veranlasst hat, oder vielleicht handelte es sich auch um einen allgemein friedlichen Charakter, für den sich die Welt ohnehin im Großen und Ganzen wie eine Blümchenwiese anfühlt – alles möglich, aber unwahrscheinlich. Dazu war es zu beiläufig, uninspiriert und hingeworfen im Ton. Das „alles gut“ hört sich zwar erst einmal gut an, hat aber einen merkwürdigen Unterton. Es überspielt irgendwie die konkrete Situation, es macht sich nicht die Mühe zum geschehenen oder in Rede stehenden Detail, und es verkleistert geradezu den Umstand, dass doch keineswegs alles gut ist, weder bei mir noch beim anderen noch sonstwo in der Welt, dass man auch nur in bestimmten, sehr seltenen Situationen solch eine Bemerkung erstlich meinen kann, ja, dass es eigentlich gar nicht um solche totalen Aussagen gehen sollte. Es geht mir nicht um grammatische Beckmesserei, sondern um die Liebe zur konkreten Wirklichkeit. Aus ihr ist alles Gespräch entsponnen, das kritische und das heitere. Dass etwas gerade „nicht gut“ ist, bringt uns doch zusammen.

Helmut Aßmann

 


Kampfradler

14. september 2020

 

Seit vielen Jahren fahre ich mehr oder weniger lange Touren mit meinem Trekking-Rad, wie das heute heißt. Also weder ein Downhill-Mountainbike, kein City-Rad, kein Rennrad, auch kein Randonneur, Fatbike oder Gravelbike. Einfach nur so ein Ding mit zwei Rädern, Pedalen und einem Lenker, mit dem man die Richtung bestimmt. Durch die Corona-Misshelligkeiten in Urlaubsfragen ist das Fahrrad als Saison-Shooter mit Verve in die Agenda kommunalpolitischer Hauptsachen geraten. Aber wie das immer bei uns Menschen ist. Zu bejubeln ist die klimaschützerische Geste, zu feiern ist die Einsicht der Bürger, zu begrüßen ist die neue Aufmerksamkeit, die der gute alte Drahtesel von ganz unerwarteten Seiten bekommt. Aber es gibt auch Anlass zur Sorge, um nicht zu sagen: zur Furcht. Denn mit dem Hype der Pedalisten stellt sich auch seine Zerrform ein: der Kampfradler. Er zeichnet sich aus durch ein vorzugsweise mattschwarzlackiertes Modell aus der Mountainbike-Abteilung, d. h. mit breitem Lenker, breiten Reifen und irgendwie auch breitem Image. Am besten angetrieben von einem sportiven Motor, der dem anstürmenden Radler den Ausdruck eines Gladiators im Angriffmodus verleiht. Bei höheren Geschwindigkeiten ist mit solchen Maschinen nicht gut Kirschen essen – im Konfliktfall ist einfach mehr Momentum drauf als bei einem Langweilerbike wie meinem. Diese hergerichteten Kampfräder sind der Opel Manta unter den Bike-Sortimenten, fehlt nur noch der Fuchsschwanz an der Satteltasche.
Es ist offenbar eine Art menschheitlicher Zwang, von jedem Hype auch ein Gewaltmodul herzustellen, eine Offensivvariante, die weniger praktischen als imponierenden Sinn hat. Selbst die Werbung für Männerrasuren hat gelegentlich den Anstrich von Kampfhandlungen, je teurer das Produkt, um so martialischer der Schwung, mit dem Haare aus dem Gesicht geschnitten werden. Kampfradler sind ein weiterer Beleg dafür, dass nicht die Dinge kompliziert sind, sondern wir.

Helmut Aßmann


Vollzugsrausch

07. september 2020

 

Noch immer stehen die Zeitungen und Journale deutscher Sprache ein wenig fassungslos vor dem Phänomen des amtierenden US-amerikanischen Präsidenten. Alle üblichen Konventionen politischer und diplomatischer Kunst werden ignoriert, Lug und Trug als gängiges Regierungsverfahren etabliert, die gesamte Nachkriegszeitarchitektur in die Tonne gehauen und ohne Rücksicht auf Verluste herumgefuhrwerkt, wenn es nur dem eigenen Interesse oder dem amerikanischen Volk oder wem auch immer dient. Buch um Buch erscheint, das die Fassungslosigkeit noch verstärkt, aber das alles ändert nichts. Ich kann mich inzwischen des Eindrucks nicht erwehren, dass hier nicht nur ein enthemmter Narzisst seine Luftballons in den Himmel steigen lässt, sondern eine weitaus gefährlichere Kraft am Werk ist. Ich nenne es einmal den Vollzugsrausch. Wenn jemand merkt, dass er Macht hat, ja, mehr noch, dass die Anwendung dieser Macht tatsächlich etwas bewirkt, was sonst nicht in Gang gekommen wäre, dann steigert diese Erfahrung die Vollzugslust um des damit verbundenen Machterweises willen. Ein bisschen konnte man das am Regierungshandeln zu Corona-Beginn studieren. Da gab es einen Überbietungswettbewerb in staatlichen und öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, der mit den hygienischen Erfordernissen allein nicht zu erklären war. Es machte einfach Spaß zu regieren, weil alles sich fügte. Im Namen der Gesundheit war man den Widerstandsnestern gegen die eigenen Positionen entkommen und konnte richtig durchregieren – ein demokratisch exzeptioneller und nur selten zu beobachtender Umstand. Die USA mit ihrem stark auf den Präsidenten zugeschnittenen Regierungssystem haben nun jemanden in Washington sitzen, der diese Mechanik mit Lust bedient. Das folgt möglicherweise gar keinem politischen Kalkül, sondern ist eher mit einem Zustand von Betrunkenheit zu vergleichen. Ein Rausch – und jeder weiß, was danach kommt: Der Kater.

Helmut Aßmann

 


Gute Frage

17. august 2020

 

„Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, woher das Sanfte und das Gute kommen, weiß es auch heute nicht und muss nun gehen“ – so schreibt Gottfried Benn. Ich habe das Zitat leider nur ohne Quellenangabe gefunden. Aber sei’s drum, die Frage ist einfach großartig. Bislang schlägt sich die theologische Zunft in dieser Sache mit anders gestimmten Fragen herum, nämlich: Woher kommt all das Böse, wenn es denn einen Gott gibt, der die Liebe ist und will? Im Fachjargon heißt das Theodizee, übersetzt: die Frage nach der Rechtfertigung Gottes. Man muss dann Gott verteidigen, das Evangelium rechtfertigen, die Liebe Gottes gegen die überwältigenden Inkarnationen des Bösen behaupten. Benn ist da einen Schritt weiter. Er rechnet gar nicht mit Gott. Dieser Zug ist für ihn längst abgefahren. Aber dafür stellt sich plötzlich eine ganze andere Frage: Wenn denn „die Krone der Schöpfung, der Mensch, das Schwein“ (Benn), ein solches Ungeheuer ist, wie das 20. Jahrhundert mit seinen Hekatomben auf der ganzen Welt nahelegt, woher kommt dann das Sanfte, das Gute, das Redliche, das Aufopferungsvolle, immer wieder? Wie kommen Menschen wie Rupert Neudeck oder Ruth Pfau zustande (um nur zwei Deutsche zu nennen), und wie kann es angehen, dass beim survival of the fittiest (Charles Darwin) solche Querschläger auftreten? Ich habe den Eindruck, die Bennsche Frage ist das eigentliche Gegenargument zur Theodizee, fast im jesuanischen Sinn: Ich erkläre dir, warum der Gott der Liebe trotz der Gewalttätigkeit der Welt plausibel ist, wenn du mir erläuterst, woher das Gute und das Sanfte in einer von Raffgier und Ichsucht beherrschten Menschheit kommen. Lassen wir in der Betrachtung der Welt Gott als Faktor außen vor, müssen wir uns damit herumschlagen, das Gute nicht verorten zu können. Nehmen wir Gottes Gegenwart ins Kalkül, lässt uns das allgegenwärtige Böse ratlos. Der moderne Mensch hat die Wahl, welcher Ratlosigkeit er sich stellt. Möglicherweise führen beide Wege in dasselbe Geheimnis.

Helmut Aßmann


Wirecard

10. august 2020

 

Ich verstehe nichts von den Vorkommnissen um die seit langer Zeit im Zwielicht stehenden Firma Wirecard. Jedenfalls nichts, was über die einfachen Benimmregeln im Umgang mit Geld hinausreicht. Ehrlich sein, maßvoll ausgeben, Schulden berechenbar halten – sowas. Ich weiß sehr wohl, dass das für das Verständnis von modernen Finanzprodukten nicht ausreicht. Und auch, dass mein Unverständnis nicht mit dem Verdacht einhergehen darf, dass damit schon Unredlichkeit am Werk sei. Aber nun, seit einigen Wochen steht ja fest, dass das Unverständnis und die Unredlichkeit in diesem Fall nun doch etwas miteinander zu tun haben. Wirecard hat ganz offensichtlich unredlich gewirtschaftet und die ganze Elite von Finanzexperten, Kontrollgremien und Wirtschaftszirkeln mit Bedacht und Vorsatz an der Nase herumgeführt. Das Hätschelkind des DAX, das die gute, alte Commerzbank aus dem Obergeschoss des Börsenturms hinausgeworfen hat. Dass nun noch mit Jan Marsalek und seinem Versteckspiel ein filmreifer Plot entstanden ist, macht die Sache fast wieder unterhaltsam. Der Mann wird weltweit gesucht und ebendort nicht gefunden. Ein findiger Drehbuchschreiber wird seine Arbeit sicherlich schon aufgenommen haben. In Aktien a lá Wirecard will uns die derzeitige europäische Finanz- und Niedrigzinspolitik hineintreiben. In den Dschungel von Finanzprodukten, die die Masse derjenigen, die darin investieren wollen, sollen oder müssen (in Ermangelung anderer Renditeformen), überfordert. Ihr Geld geht in Fonds verschiedenster Güteklassen, in Projekte, die irgendjemand aufgelegt hat (ein Versicherungsmakler wollte mir allen Ernstes einen Fonds andrehen, der Malls in Indien baut, deren Projektentwickler er nicht einmal kannte), in Bodenschatz -Ausbeutung, von der man nicht weiß, wer sie mit welchen Interessen betreibt. Natürlich, man kann sich auch dahinterklemmen und nach bestem Wissen und Gewissen erkundigen. Nur: Wer tut das, und wie valide sind die Ergebnisse der Recherchen? Kurzum: Dass bei derlei Aktiencrashs in großem Stil Vermögen vernichtet werden, für die am Ende stets der Steuerzahler aufkommt, macht die Sache sehr simpel. Wer den Schaden wissentlich macht, soll auch dafür aufkommen. So einfach.

Helmut Aßmann

 


Austrittswelle

03. august 2020

 

Keine Zeitung lässt sich die Schlagzeile entgehen. Die großen Kirchen verlieren im Jahr 2019 insgesamt rund eine halbe Million Mitglieder. Die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland hält sich nach wie vor solide über der 50% Marke, aber es ist zu spüren, dass in einiger Zeit, vielleicht sogar beschleunigt durch die Corona – Krise, diese Marke gerissen wird. Dann sind die Christen in der Minderheit. Nach weit über 1000 Jahren das erste Mal. Die allerorten im kulturellen Gedächtnis herumspukenden Erinnerungen an konfessionelle Auseinandersetzungen erhalten dann den Charakter von Vereinsstreitigkeiten, die ggf. in der Lokalpresse erscheinen. Bestenfalls strafrechtliche oder öffentlichkeitsempfindliche Angelegenheiten wie die unlängst publik gewordene Missbrauchsaffäre in der Nähe von Hamburg sorgen dann noch für größeres Interesse. Alles Meinungsbildungssachverständigen sagen einvernehmlich, dass dieser Trend nicht aufzuhalten sei. Die Gesellschaft mag keine Institutionen mehr. Sie liebt stattdessen Singularitäten, wie Andreas Reckwitz in seinem großartigen Buch schlüssig nachgewiesen hat. Sie glaubt nicht mehr an einen allzuständigen Gott, sondern sucht sich ihre Schuldigen selbst. Die „Infrastruktur“ der Kirche wird nicht mehr benötigt, wie mir ein junger Mann aus christlichem Hause erläuterte, nachdem er aus der Kirche ausgetreten war. Und nachdem sie ihn zwanzig Jahre eng begleitet hatte… Man muss nicht einmal ins Pfarramt gehen, um auszutreten. Ein kleiner Termin auf dem Bürgeramt ist ausreichend. Tut nicht weh. Es kommt keiner hinterher. Niemand ist persönlich böse. Auf den einzelnen kommt es schließlich auch nicht an. Ja, in der Tat. Epochale Veränderungen beginnen leise, aber sie finden statt. Schließlich hat es auch niemand für möglich gehalten, dass nach insgesamt 700 Jahren Rom tatsächlich im Jahr des Herrn 410 an die Goten fallen könnte. Aber es fand statt. Die entscheidende Frage ist weniger, wie, ob und mit welchen Mitteln ein kirchlicher Schwanengesang verhindert werden kann, sondern ob die, die diese Kirche darstellen, vollziehen und prägen, an der Schönheit, der Wahrheit und der Lebenstauglichkeit ihrer Botschaft festhalten. Nicht, weil sie wieder nach vorne kommen wollen, sondern weil der dreieinige Gott sein Wirklichkeitsprädikat wirklich verdient.

Helmut Aßmann

 


Box-Spring-Bett

30. juli 2020

 

Ein Fachgeschäft für Betten aus der Region verkündet eine neue Epoche von Lebensqualität: „Individualisiertes Schlaferlebnis auf höchstem Niveau!“ In der Sache geht es um Box-Spring-Betten, diese US-amerikanische Technik, ein Wasserbettfeeling durch ein mehrlagiges Matratzensediment zu simulieren. Aber die konkrete Bettenform, ob nun Futon, Isomatte oder Marterbett, ist für die weiteren Überlegungen unerheblich. Der Slogan selbst ist einfach großartig.
Zum einen ruft er in Erinnerung, dass Schlafen grundsätzlich etwas Begrüßenswertes im Tageslauf darstellt. Schlaf als solcher ist schon mal willkommen. Fein. Freilich, das dann doch, individualisiert sollte er schon sein. Jedem sei, sozusagen, sein eigener, individueller Schlaf nicht nur gegönnt, sondern geradezu anbefohlen. Ich unterstelle, die Werbetexter haben dabei nicht das individuelle Schnarchen im Blick gehabt, die persönliche Wälzfrequenz oder das ausgesuchte Dessin der Bettwäsche, sondern den Schlaf an sich. Genauer: Nicht den Schlaf an sich, sondern den Schlaf der je eigenen Person. Nicht nur stirbt jeder für sich allein, sondern jeder schläft auch für sich allein. Der Schlaf als des Todes kleiner Bruder ist ohnehin von sachlicher Nachbarschaft. Da lohnt die ausdrückliche Erinnerung, dass Schlaf auf keinen Fall nicht gleich Schlaf ist, sondern als Erlebnisform und Existenzvollzug als gewissermaßen unverwechselbar und einmalig wertzuschätzen ist.
Denn, das Wort Schlaf“erlebnis“ signalisiert es bereits, es geht nicht einfach nur ums Augenzumachen und Erholung einholen, sondern um eine besondere Erfahrung, um das in diesem Zusammenhang schwierige Wort Lustvorgang gerade noch zu vermeiden. Wer auf diesen Betten schläft, sollte nicht Erholung suchen, sondern für eine Sensation bereit sein. Es geht um nicht weniger als „das höchste Niveau“, das zu erreichen die Investition in dieses Bett helfen soll. Der Schlaf als Schlaf ist sozusagen das Grundmodul. Das gibt’s von der Natur gratis. Aber der wahre und aufmerksame Schläfer bleibt dabei nicht stehen bzw. liegen, sondern steigert den Vorgang zu einem individualisierten Akt auf zudem noch höchsten Niveau. Schlaf der Premiumqualität, auf Weltrekordniveau. Zwei Stunden Schlaf von dieser Güte reichen vermutlich für drei Monate Stress. Da ist so ein lächerlich teures Box-Spring-Bett wirklich nicht zu viel verlangt.

Morpheus, der Gott des Traums, hatte ja keine Ahnung, was beim Schlafen wirklich abgeht. Nun, auf dem Olymp gab’s eben auch keine Box-Spring-Betten.

Helmut Aßmann


Herkunft

20. juli 2020

 

In einer fränkischen Tagungs- und Begegnungsstätte traf ich unlängst auf einen jungen Mann im Service, der durch sein Aussehen auffällig war. Kein Chinese oder Japaner, Malaie oder Vietnamese, sondern irgendwie asiatischer, mit noch prägnanterer Lidfalte. Meine Vermutung: aus der Mongolei. Aus Neugier fragte ich ihn, woher er denn landsmannschaftlich komme. Kaum gefragt, merkte ich ein Zucken in mir selbst, Gottseidank nicht bei ihm: So etwas fragt man nicht mehr, weil es einen latent (oder, je nach Haltung, offen) diskriminierenden Unterton hat. Nämlich: So wie Du aussiehst, bist Du nicht von hier. Gemeint ist im üblen Fall: Dann gehörst du auch nicht hierher. Und hier ist eben: Deutschland, Niedersachsen oder Hildesheim. Wenn dann noch die Antwort kommt, die betreffende Person stamme aus Bottrop oder Freudenstadt, ist das Malheur vollkommen. Ein solchermaßen blöd Fragender hat sich als rassistischer Unhold geoutet und zugleich kompromittiert. Mein Gegenüber kam, um auf den jungen Mann zurückzukommen, zum Glück tatsächlich aus Ulan Bator, und so konnten wir munter über die Mongolei und die dortige Landschaft und seinen Weg nach Unterfranken reden.
Es mutet an wie eine Sprachvergiftung, dass man Menschen nach ihrer Herkunft nicht mehr fragen kann, ohne sogleich in ein Zwielicht zu geraten. Herkünfte sind Prägungen: kulturell, ethnisch, landschaftlich, historisch. Wenn all diese eigentlich interessanten Details unter ein Schweigetabu gestellt werden, verliert die Person an Tiefenstruktur. Ich möchte fragen, wie es kommt, dass ein farbiger Mensch als Geburtsort Oldenburg angeben kann, denn seine Vorfahren dürften von woanders her kommen. Er (oder sie) wird mir dann ja eine Geschichte erzählen, genau so wie ich die Geschichte meiner ausgebombten und geflohenen Eltern erzähle. Die ganze Bibel steckt voll mit solchen Geschichten – denn auf Wanderschaft sind die meisten Menschen, freiwillig oder gezwungenermaßen.

Ich möchte wissen, wo jemand herkommt, damit ich diesen Menschen besser erkenne und ich menschlichere Fragen stelle. Das will ich mir weder von rassistischen Dumpfbacken noch von dauerempörten Sprachpuristen verleiden lassen.

Helmut Aßmann

 


Bestreifung

12. juli 2020

 

Während der Corona-Zeit war das große eiserne Tor zur Auffahrt für den Parkplatz und die Einfahrt in die Tiefgarage des Nachts nicht verschlossen. Zu ungewöhnlichen Arbeitszeiten sollten die Mitarbeitenden ihre Autos auf den Parkflächen abstellen können, sofern sie einen Chip besaßen, der die Schranke bzw. das Rolltor zu öffnen vermochte. Gute Idee. Unlängst musste diese Öffnung aber wieder rückgängig gemacht werden, weil sich Parkdeck und kleine Winkel, die man als Fußgänger erreichen konnte, zu Drogenumschlagplätzen und Gelegenheitstoiletten entwickelt hatten. Das ging schnell, dauerte nur ein paar Wochen, dann war der nicht bewachte oder bestreifte Raum von anderen Interessenten umgewidmet worden. Öffentliche Räume sind kostbare Ressourcen für die Gesellschaft. Hier erkennt und versammelt sich das, was man Gesellschaft und Gemeinwesen nennt. Wenn diese Räume allerdings nicht bewacht und bestreift werden oder gar etwas abseitig liegen, bekommen sie rasch besonderen Besuch von lichtscheuen Geschäften und Gestalten, fragwürdigen Aktivitäten und liederlichem Umgang. Auch diese Schatten- oder zwielichtige Seite des Lebens benötigt schließlich Raum und Wohnung. Sie sucht und sie findet sie vorzugsweise dort, wo sonst keiner hinschaut, herumläuft oder einfach anwesend ist.
So verhält es sich mit den lichtscheuen und zwielichtigen Elementen unserer Seele auch. Alles was nicht regelmäßig beobachtet und bestreift wird, steht in der Gefahr, Sammelplatz für derlei Kräfte zu werden. Das spirituelle Modewort „Achtsamkeit“ bekommt hier noch mal einen besonderen Sinn. Es geht nicht nur darum, eine Orange möglichst aufmerksam zu essen, sondern mehr noch darum, die Landschaften der Seele gut im Auge zu behalten, sie sozusagen regelmäßig abzulaufen, um zu erkennen, was sich an den uneinsehbaren Ecken tut. Mancher mag nun wittern, hier würde gerade einer besonders feinsinnigen Gesinnungspolizei das Wort geredet. Nicht ganz falsch. Wenn wir unser Herz und unseren Sinn nicht verdunkeln lassen wollen, ist Achtsamkeit eine gute Abwehrmaßnahme. Auch hier gilt: Worum man sich nicht kümmert, das verkommt.

Helmut Aßmann

 


Briefmarkenkonferenz

06. juli 2020

 

Die Pandemie hat ein neues Verb hervorgebracht: Zoomen. Wenn einer zoomt, dann ist er gerade Teil einer ViKo, also einer Videokonferenz. Zoomen steht für digitales Konferenzwesen, ähnlich wie Google für Suchmaschinen, wie immer sie auch tatsächlich heißen mögen. Nun kann man also miteinander sprechen und sich anschauen, ohne einander tatsächlich gegenüber sitzen zu müssen. Das ist gelegentlich eine echte Entlastung, in durchaus vielfacher Bedeutung des Wortes. Bei einer Teilnehmerzahl oberhalb von acht Personen hat die wimmelnde Bildergalerie konzentrierter, immer nicht ganz genau in die Kamera schauender Gestalten die Anmutung einer Briefmarkenkonferenz. Lauter kleine Gesichterchen, die in unorchestrierten Bewegungen den Bildschirm füllen. Die Hintergrundmotive, vor denen die Gesichterchen erscheinen, sind, je nach Milieu und Geschmack, einschlägig, überraschend, verstörend oder sorgsam aus der Bildergalerie der eigenen digitalen Fotoserien ausgesucht. Ein bisschen wie die Bildergalerie in Hogwarts, wo bekanntlich die abgebildeten Personen höchstpersönlich aktiv werden konnten, aber schlussendlich an ihren Rahmen gebunden blieben. Dieser Hinweis hat Tiefe. Die Einzwängung in einen Rahmen gehört zu den interessanten Strukturbedingungen der Zoomerei. Einer hat den Hut auf, der Moderator. Man erkennt ihn (oder sie) nur am kleinen Sternchen in der Ecke der betreffenden Briefmarke. Aber das ist die Machtbefugnis, den ganzen Briefmarkenladen auf Knopfdruck abzuwürgen, in Gang zu setzen, in Teilnehmergruppen auseinanderzusprengen oder wieder aufmarschieren zu lassen. Natürlich kann man auch in einer „Viko“ eindösen, in dem man einfach die Kamera ausschaltet – dann sieht einen ja keiner. Aber das ist dann noch auffälliger als bei Hogwarts – dann weiß jeder, dass man sich gerade verdrückt. Also: Immer schön im Rahmen bleiben. Wie digital die Welt sich auch gebärdet – diese Zwangsjacke bleibt.

Helmut Aßmann

 


Berührungsangst

30. juni 2020

 

Das erste Gebot der Pandemie lautet: Abstand halten. Nicht anfassen! Wegen der Viren. Seit Monaten also keine Umarmungen, kein Schulterklopfen, kein Begrüßungsküsschen, es sei denn, mit vorherigem mehr oder minder gegenseitig zugestandenem Einverständnis. Unzulässig ist es allemal. Allmählich geht es in den Modus einer Selbstverständlichkeit über. Berührungen bekommen den Geruch einer verdächtigen Handlung, sie erhalten einen subversiven Anstrich, werden zu etwas, das sich nicht gehört.
Das ist der perfideste Generalangriff auf die Religion, der sich denken lässt. Gerade weil er so unsagbar hygienisch und naheliegend daherkommt. Das Evangelium will vor allem eines: Menschen berühren. Und zwar nicht nur im Kopf oder in der Zustimmung zu einer Meinungsäußerung, sondern körperlich. Die Menschen sollen im umfassendsten Sinne des Wortes angefasst werden, damit sie ganz, samt Seele und Leib, in den Wirkungsbereich der göttlichen Kraft kommen. Deswegen ist ein Segen ohne Berührung nur eine halbe Sache, deswegen Taufen mit Wasser und echter Kontaktnahme, gemeinsames Essen und Trinken, miteinander Singen, sich an die Hände fassen, sich küssen und den Trost nicht nur sagen und empfinden, sondern als körperliche Präsenz zum Zuge kommen lassen. Wir sind Körper, keine Gedanken. Wie empfinden vor allem leiblich, nicht intellektuell. Gott wurde Mensch nach Geist, Leib und Seele, nicht nach Gedanke, Erkenntnis und Begriff. Die systematische Verdächtigung der körperlichen Zuwendung, die mit der Corona – Pandemie zum Zentralgesetz des öffentlichen Lebens erhoben wurde, stellt uns zwar eine hohe unmittelbare Plausibilität in Aussicht, aber zugleich einen schrecklichen mittelfristigen Verlust in Rechnung: die notorische Angst vor der Berührung. Dabei wissen wir seit den schrecklichen Experimenten unter Friedrich dem Großen: Kinder, die nicht berührt werden, sterben. Eine Touchscreen – fokussierte Gesellschaft kommuniziert sich zu Tode, weil sie die Angst vor dem Anderen zum sozialen Standard erhebt.

Gott wollte Menschen berühren. Das war der Plan. Wie jetzt?

Helmut Aßmann

 


Der Slomka-Verdacht

22. juni 2020

 

Die ZDF Moderatorin Marietta Slomka gehört zu den prominentesten Fernsehgesichtern in den öffentlich-rechtlichen Sendern. Heute-Journal, erste Nachrichtenadresse. Sie hat sich durch ihre Moderations- und Interviewtechnik ein ganz eigenes Profil erarbeitet. Der Blick ist oft ein wenig von unten angesetzt und bekommt auf diese Weise einen Touch von Staunen oder Ungläubigkeit. Auch keck und herausfordernd kann das aussehen, schnippisch geradezu. Kleine, ruckartige Körperbewegungen unterstützen diese Attitüde im Sinne von „Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass…“, „Wollen Sie ernsthaft bestreiten, dass …“ oder „Wie kommen Sie nur darauf, dass …?“ Gegen Ende einer Frage oder Anmoderation wird der Mund betont langsam geschlossen, die Unterlippe förmlich nachgezogen, damit man sich die Unerhörtheit des in Rede stehenden Vorgangs noch einmal geradezu spürbar auf der Zunge zergehen lassen kann. Garniert wird das Ganze mit einem leicht spöttelnden Unterton, mit der sich die  Moderatorin das unübersichtliche Chaos der Nachrichtenwelt auf angenehme Distanz hält und dem Publikum das Gefühl gibt, man befinde sich doch eher in einer Show als vor einer zudringlichen Ereigniskulisse, die jederzeit auf einen selbst übergreifen kann. Ihre Interviewpartner haben sich in der Regel darauf einzustellen, dass sie gewiss etwas falsch gemacht, nicht bedacht, unzureichend geplant oder listigerweise verschwiegen haben und nun an jemanden geraten, der das genau durchschaut. Es schwebt in diesen Gesprächen der Generalverdacht im Raum, politische Arbeit sei zu einem nicht geringen Teil vorsätzliche Öffentlichkeitshintergehung, und Aufgabe der Nachrichtensendungen sei es deswegen, genau dies mit Verve und Pathos herauszufinden. Eine Ausnahme wird bei habilitierten Wissenschaftlern gemacht: Die sind, weil sie Wissenschaftler sind, über den Verdacht politischer Ranküne erhaben. Da vermutet man die reine Kompetenz ohne Beimengungen von Eigeninteresse und Faktenbeugung. Dieser Slomka-Verdacht ist übrigens infektiös. Deswegen schaue ich keine Nachrichten mehr.

Helmut Aßmann

 


Systemrelevanz II

15. juni 2020

 

„Frommes Schweigen“ hat Evelyn Finger in ihrem Beitrag in der Wochenzeitschrift „DIE ZEIT“ vom 28.5. das Verhalten der deutschen (katholischen wie evangelischen) Bischöfe mit hörbar kritischem Unterton genannt. Darin wirft sie ihnen vor, sich allzu staatstragend, erlasskonform und devot gegenüber den Corona – Maßnahmen verhalten, ja, mehr noch, auch ihre eigentlichen Aufgaben verraten zu haben, in dem sie zwar nicht klag-, aber am Ende kampflos die Begleitung von Sterbenden und Einsamen aufzugeben bereit waren. Der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm hat dies in einem FAZ-Beitrag noch einmal ausdrücklich verteidigt und es in diesem Falle als Ausdruck christlicher Freiheit bezeichnet, eben keine „Aufsässigkeit“ als Beleg autonomer Meinungsbildung zu demonstrieren. Die Sache ist vertrackt. Tatsächlich sind die Kirchen als Träger von Diakonie und Caritas als bundesweit zweitgrößter Arbeitgeber nach der öffentlichen Hand alles andere als systemirrelevant, aber sie sind es eben mittelbar. Ihre Relevanz speist sich nicht aus der selbstverständlichen Anerkennung spiritueller Arbeit oder religiöser Rituale, sondern aus der volkswirtschaftlich berechenbaren Arbeitsleistung ihrer Kindergärten, Seniorenheime, Sozialstationen und Bildungseinrichtungen. Da sitzen sie auf der einen Seite mit den staatlichen Interessenvertretern in einem Boot und wollen auf der anderen Seite gern einen anderen Hafen ansteuern. Beides zusammen geht nur halb und unter Wahrung von Kompromissen. Das lässt sich von außerhalb rasch kritisieren. Ob es deswegen bereits als Versagen gebrandmarkt werden muss, sei dahingestellt. Evelyn Finger macht sich jedenfalls einen schlanken Fuß, wenn sie den Bischöfen süffisant unterstellt, dass sie sich möglicherweise „als Konsenssucher verstehen und in einer Empörungsgesellschaft am ehesten durch Unauffälligkeit überleben“ möchten. Als würden diese die Problematik nicht selbst am intensivsten erleben. Freilich: Es wird schmerzlich deutlich, dass Systemrelevanz unter säkularen Bedingungen stets den hohen Preis hat, zu den Bedingungen mitspielen zu müssen, die andere setzen. Und der Kampf um das „Eigentliche“ des Glaubens gerät in den Geruch das Folkloristischen. Petrus sagt in der Apostelgeschichte: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen…“ (5,29). Wer sagt einem, wann das der Fall ist?

Helmut Aßmann


Systemrelevanz I

09. juni 2020

 

Das gesellschaftliche Leben war bis auf das Allernotwendigste „heruntergefahren“, wie man so sagt. Nur die „systemrelevanten“ Arbeitsbereiche mussten so weit als irgend möglich unvermindert weiter funktionieren. Was aber ist ein systemrelevanter Arbeitsbereich? Und wer betreibt das System? Da kommen einem gleich sehr weitreichende Gedanken. Aber bleiben wir beim Naheliegenden. Es fällt mir als erstes die Nahrungsmittelversorgung ein, dann Strom-, Gas- und Wassernetzwerke, medizinische Einrichtungen, Krankenhäuser und Pflegeheime, aber auch Apotheken und Reha-Zentren, Ordnungskräfte, Verwaltung in den verschiedenen Körperschaftsebenen und manches andere mehr. Also all die, für die am Abend um 19.00 Uhr oder wann es die lokalen Verabredungen vorsehen, ein allzu berechtigter Applaus ausgebracht wurde.
Die religiösen Organisationen gehörten nicht dazu. Kirchen, Moscheen und Synagogen waren als Versammlungsorte gesperrt. Vollzug von Religion ist zwar ein Grundrecht, ja, ein allgemeines Menschenrecht, wurde aber um eines anderen Rechtsgutes willen, nämlich dem der Unversehrtheit der Person, hintangestellt. Religion gehörte unter den obwaltenden Umständen in die Abteilung Privatvergnügen, wie Fußball, Theater, Fitness oder Campingurlaub. So etwas kommt, nach der Maslowschen Bedürfnispyramide, erst später, nach Ernährung, Sicherheit und Infrastruktur. Kann sein, muss nicht sein. Das „System“ funktioniert auch ohne das.
Für die Positionierung kirchlichen Lebens ist das ein interessanter, wenn auch nicht schöner Befund. Es war ja nicht nur eine wichtige Einsicht, zu den tragenden zivilgesellschaftlichen Akteuren zu gehören, sondern auch eine Art Ritterschlag an Bedeutsamkeit. Nicht nur Himmelskomiker, sondern eine der ersten Anwaltsadressen für ein sinnvolles Leben zu sein. „Öffentliche Theologie“ als Dienst an der Gesellschaft zu betreiben – das war ernstgemeint. Und nun – nicht systemrelevant.

Auf der anderen Seite: Hatte nicht Jesus schon vor Pilatus darauf hingewiesen, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei? 

Helmut Aßmann

 


Puffer

25. mai 2020

 

Das Wort ist lautmalerisch. Wenn beim heftigen Aufeinandertreffen zweier Gegenstände nicht nur Material deformiert, sondern auch stoßweise Luft freigesetzt wird, dann entsteht der Laut, auf den sich das in vielen Sprachen ähnlich lautende Wort „Puffer“ bezieht. Puffer sorgen dafür, dass es eben nicht nur einfach aufeinander kracht, sondern Kollisionen abgebremst, aufgehalten, wirkungsreduziert verlaufen. Es sind Schonräume und -vorrichtungen, damit es nicht gleich zu einem finalen Aufprall kommt. Das kann man bei Eisenbahnzügen genauso geltend machen wie bei der Lagerhaltung von Ersatzteilen oder sozialer Distanzen zwischen Menschen, die sich nicht gleich duzen, um den Hals fallen oder miteinander ins Bett kriechen. Was übrigens das weltbekannte Kartoffelgericht als „Puffer“ in dieser Sammlung genau zu suchen hat, war nicht so rasch zu erheben. Gleichwohl: gut gepuffert ist im Konflikt- oder Problemfall fast schon halb gerettet.
Denn das ist eine der einschneidendsten Erfahrungen der modernen high-speed-Welt: Der Abbau von Puffern und das Vermindern von Distanzen und ungenutzten Zwischenräumen sorgt auf der einen Seite für enorme Umsatz- und Umschlagsraten (das Lager befindet sich immer auf der Autobahn), auf der anderen Seite für völlige Hilflosigkeit, wenn die Transportsysteme versagen. Da reichen gelegentlich nur drei Schneeflocken oder, in großem Maßstab, Seuchen und Naturkatastrophen. Ohne Puffer ist man dann schnell am Rande seiner Möglichkeiten. Der ungenutzte, unwirtschaftliche Pufferbestand ist eine Langzeitmaßnahme – für den Fall der Fälle. Der aber tritt ja immer nur selten ein. Deswegen wird er bei kurzfristigen Effektivitätsberechnungen zuverlässig herausgekürzt. Tritt er aber tatsächlich ein, wird deutlich, welche Bedeutung er hat, dieser störende unwirtschaftliche Puffer.

Der göttliche Gnadenpuffer sei übrigens unendlich, hat Jesus einmal gesagt (in etwas anderer Formulierung). Vermutlich, weil er wohl bei jedem Menschen im Fall der Fälle wirklich gebraucht wird.

Helmut Aßmann


Erlasslage

18. mai 2020

 

Unsere Hildesheimer Dorfpresse berichtete dieser Tage von einem unerhörten Vorfall. Eine alleinerziehende Mutter geht mit ihrer dreijährigen Tochter am Vormittag einkaufen und muss das Kind – in Ermangelung der Kindergartenbetreuung – in den Supermarkt mitnehmen. Selbstverständlich mit Mundschutz. Daraufhin – und trotzdem – wird sie – so der Bericht der Zeitung – von einer älteren Mitbürgerin angeschnauzt, sie solle mit der „Virenschleuder“ – damit meinte sie das Kind – bitte bleiben, wo der Pfeffer wachse, aber nicht in den Supermarkt kommen. Lassen wir einmal auf sich beruhen, dass an dem berichteten Vorfall vermutlich nur die Hälfte stimmt, so ist doch eines unabweisbar: Die Maskenpflicht und das Abstandsgebot ziehen harte Verpflichtung ins öffentliche Leben ein: Hast Du Dich auch hinreichend uninfektiös gemacht, wenn Du vor die Haustür trittst? Jede Abweichung von der Erlasslage ist rechenschaftspflichtig. Nur die halbstarken Corona-Party-Gangster, die des späten Abends oder Nachts die öffentlichen Mülleimer zu wahren Entsorgungszentren werden lassen, bleiben unbehelligt, weil diese Aktivitäten unterhalb des Seniorenwahrnehmungsradars stattfinden. Aber Postfilialen, Arztpraxen, Apotheken und Supermärkte sind hot spots der Hygienekontrolle. Da ist das Anblaffen der Mutter mit dem Kindergartenkind nur ein besonders offensives Beispiel.
Der Vorwurf, verantwortungslos zu handeln, wenn man ohne Gesichtsmaske einen Laden betritt, ist nicht zu entkräften. Wer beschwichtigt, hat Unrecht und ist, freundlich gesprochen, leichtsinnig. So unklar die tatsächliche Wirkung dieses absonderlichen Kleidungsstücks ist und so widersprüchlich die Zahlenkolonnen über Infektionen und Erkrankte sind – die Erlasslage ist die belastbare Referenzadresse. Dahinter stehen Bußgelder und die Polizei. Die sind im Zweifelsfall wirklichkeitsmächtiger als die eigene Einschätzung der Dinge. Das muss man mitbedenken, wenn man demokratisch regieren möchte.

Helmut Aßmann


Publikum

11. mai 2020

 

Seit einiger Zeit müssen die Bühnenkünstler ohne Publikum auskommen. Niemand klatscht, niemand buht, scharrt mit den Füßen oder macht dumme Bemerkungen. Musiker und Theaterleute bemühen sich via Internet, die Kultur“produktion“ trotzdem nicht zum Erliegen kommen zu lassen. Die Musik, die Kunst, das Schauspiel und die Comedy brauchen Publikum, damit das, was erarbeitet und vorgetragen wird, auch zu den Sinnen kommt, für die es gemacht ist. Das Publikum ist keine bloße Ansammlung von ticketzahlenden Konsumenten, sondern der höchst produktive und reaktive Resonanzraum für kulturelle Arbeit. In den Gottesdiensten fehlt die körperliche Gemeinde – also die Instanz, für die Predigten geschrieben und Liturgien gesungen werden. Natürlich, theologisch gesprochen sind Kirchengemeinden Beisassen der Engel und der himmlischen Heerscharen, in deren unhörbare Gesänge und Gebete die Diesseitigen einstimmen, aber das hebt die Angewiesenheit auf irdisch – leibliche Versammlungen nicht auf.
Selbst die Talkrunden in den bekannten Formaten, die weiter tapfer durchgehalten werden, brauchen die Umgebung von Zuschauern und –hörern. Diskussionsformate, die auf ein Publikum abgestellt sind, werden schal und trocken, wenn sie sich nur an der berühmten „Sache“ orientieren. Wie sehr ein Witz sein Publikum benötigt, kann man an den armseligen Comedyveranstaltungen verfolgen, die in leeren Studios oder Wohnzimmern produziert werden. Selbst der große Dieter Nuhr wirkt in seinem Arbeitszimmer eher unfrisiert und hilflos als souverän und pointensicher: Es fehlt der Lackmustest der Publikumsreaktionen. Es fehlt die Gemeinschaft, durch die das, was Menschen tun, auch menschlich wird. Adresselose Produkte verlieren erst den Glanz und dann den Sinn.

Helmut Aßmann

Kolumen-Sammlung


Lebensschutz

04. mai 2020

 

Der alte, schwäbisch-grantelige Herr Schäuble hat kürzlich in einem Interview eine bemerkenswerte Unterscheidung gemacht. Der Schutz des Lebens sei, nach seiner Ansicht, nicht bedingungslos über alle Werte zu stellen, wohl aber habe der Schutz der Menschenwürde unbedingten Vorrang. Die derzeitigen Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus gehen eher in die andere Richtung: Lebenserhalt als Leitidee. So ähnlich ist es auch mit den ethischen Dilemmata in der medizinischen Entwicklung: Wie soll man den Erhalt des Lebens gegen seinen würdigen Vollzug abwägen? Wann ist ein würdiges Sterben einem unwürdigen Leben vorzuziehen? Und: wer bestimmt das?
Das sind sehr grundsätzliche Fragen, die in der Medizinethik seit langem diskutiert werden, in der aktuellen pandemischen Situation aber eine politische, gewissermaßen alltagsrelevante Dimension bekommen haben. Menschliches Leben ist von Haus aus und im Ursprung und in überhaupt jeder Hinsicht sozial angelegt. Körperlich, intellektuell und emotional. Entzug von Nähe ist stets ein substantieller Lebensverlust. Auf Dauer ist er tödlich. Dass die Religionen allesamt leibliche, geistige und seelische Gemeinschaftsformen entwickelt haben, um auf diese Weise ihre Auffassung und Form menschlichen Daseins zu vollziehen, ist von daher zu verstehen.
Verrückterweise steht also das berechtigte medizinische Ansinnen, das einzelne Leben zu schützen, gegen den Umstand, dass gerade die menschliche, sozusagen potentiell infektionsträchtige Nähe von anderen eine zentrale Bedingung menschenwürdiger Existenz ist. Der „Lockdown“ einer Gesellschaft ist seuchentheoretisch vernünftig, aber der dafür zu zahlende Preis unbezifferbar. Jeder einsam gestorbene Mensch bringt dieses Dilemma erneut ins Bewusstsein, und die verstörenden Bilder von Altenheimen, in denen die Senioren hinter Flatterband ihren Lieben winken, sie aber nicht berühren können, machen es anschaulich. Da, wie es aussieht, das Virus bis zur Fixierung eines Impfstoffs weiterhin aktiv sein wird, bleibt uns auch die Frage erhalten: Wie gehen Lebensschutz und Menschenwürde zusammen?

Helmut Aßmann


Letalitätsrate

28. april 2020

 

Tag für Tag kann man eine merkwürdige Statistik in den Medien lesen, hören, sehen: Die Anzahl der infizierten, der genesenen und der gestorbenen Menschen im Zusammenhang mit dem Corona-Virus. Schöne Tabellen, in denen deutlich wird, dass die Sache irgendwie ernst ist, aber auch nicht wirklich dramatisch, denn die Zahl der Genesenen nimmt rapide zu. Ja, und bei den Gestorbenen kann man auch nicht einfach sagen, dass sie an dem Virus gestorben sind, sondern nur, dass das dabei war und einen Einfluss hatte, der offensichtlich nicht Null war. Aber genau weiß ich es auch nicht. Der Quotient aus der Anzahl der Gestorbenen und der Zahl der Infizierten gibt die sogenannte Letalitätsrate an. Gewissermaßen den Todesfaktor. Der liegt derzeit in Deutschland (Stand 26.4.2020) bei ca. 3%. Das ist ein guter Wert, im Vergleich zu manchen anderen Letalitätsraten. Das Dumme ist, dass wir natürlich die Anzahl der tatsächlich infizierten Menschen kaum kennen. Bekannt ist nur die Zahl der positiv getesteten Personen. Da könnte also die Letalitätsrate auch noch mal deutlich kleiner sein. Alles Spekulation.
Bemerkenswert ist deswegen die allabendliche Feierlichkeit, mit der diese Zahlen an die Luft gesetzt werden, als handelte es sich um die Wetteraussichten oder die DAX - Kurse. Was soll man mit dieser Zahl anfangen? Sie hat einen ähnlichen Aufschlusswert wie der Kohlendioxidgehalt der Venusatmosphäre oder die Messergebnisse an den Stickoxidprüfstellen in der Hildesheimer Innenstadt. Es klingt nach einem Faktum mit wissenschaftlicher Solidität, aber man weiß nicht so recht, ob man das beklagen, zur Kenntnis nehmen oder mit Erleichterung aufnehmen soll. Man könnte danebenhalten, wieviel Menschen täglich an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben (das waren 2017 ca. 930.000 Menschen, also 77.500 Personen pro Monat). Oder bei Verkehrsunfällen (ca. 3000 im Jahr 2019 Personen, 1970 waren es noch über 20.000 Menschen). Oder wegen Alkohol (das sind ca. 74.000 Personen, also gut 6.000 Leute pro Monat, nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung).
Aber was sagt einem das? Vielleicht erst einmal nur dies, dass wir wirklich sterben müssen, irgendwann, aus irgendeinem mehr oder weniger überzeugenden Grund. Und dass das deutsche Gesundheitssystem wirklich gut funktioniert. Ja, und dass es nicht für jedes Problem auf der Stelle eine Lösung gibt. Das wird auch so bleiben, egal welchen Wert die Letalitätsrate erreicht.

Helmut Aßmann


Wort zum Sonntag

20. april 2020

 

Das ist selten: Ein „Wort zum Sonntag“ ist der längeren Rede und Kommentierung wert. Selbst „im Netz“. Pastorin Annette Behnken aus Loccum hat es am 7.3. im ARD gesprochen. Es beginnt mit dem Hinweis auf Europa, die schöne Frau aus dem griechischen Mythos, die von Zeus, dem göttlichen Herrscher des Olymp, in Gestalt eines Stieres entführt wurde. Die Schönheit Europas – eine wunderbare Formulierung – würde nun aber durch die Vorkommnisse im griechisch-türkischen Grenzgebiet verschachert in einem billigen und unwürdigen, ja unmenschlichen Handel um Geld, Absicherung und Abgrenzung. Europas Wurzeln, vor allem die christliche, nämlich die Barmherzigkeit, an die das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erinnert und das gecharterte Schiff zur Rettung der Mittelmeerschiffbrüchigen erinnern soll, werden herausgerissen, der Glanz dieser einzigartigen Gestalt, Europa, verkommt. Die Angst vor den Rechtsradikalen, den Nationalisten in Parlamenten und staatlichen Institutionen verhindert, dass das Einfachste nicht mehr als einfach wahrgenommen wird: Bedrängten Menschen zu helfen, ohne Wenn und Aber. „Mit Verlaub“, so Pastorin Behnken weiter, „ich könnte kotzen“. Dieser Kraftausdruck vor allem hat den Weg in die Kommentierungen gefunden.
Kompliment: Ein wirklich gelungenes Stück Predigt in einer aufgeregten Zeit. Anschlussfähig, klar, verständlich, streitbar, knapp und ohne Umschweife. Kein Geschwafel mit Sonntagssubstantiven und Konjunktiven, einfach eine markige Ansage. Da lohnt sich das Hinhören, weil es eine Position gibt, zu der man sich verhalten kann. Ich gestehe, dass ich diesen Mut nicht habe – weil ich den Sachverhalt nicht durchschaue. Mir sind die Akteure zu komplex: Wer ist Europa? Wer sind die bösen Geschäftspartner? Wer hat da wirklich Ungutes im Sinn? So sehr ich die moralische Entrüstung teile und so wenig ich einer dieser Menschen sein möchte, die da im Niemandsland herumirren – der erbarmungswürdige Mensch appelliert an das Gewissen, die politische Situation erzwingt eine gesellschaftliche Verantwortung. Was, wenn das Gewissen gegen die Verantwortung steht? Hat dann das Gewissen immer und einfach und mit heiligem Eifer Recht?
Jesus? Ich vermute, Jesus wäre langsam Richtung türkisch-griechische Grenze gegangen. Und hätte wahrscheinlich an seine eigenen Worte erinnert: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Das macht es nicht einfacher.

Helmut Aßmann


Corona-Ticker

06. april 2020

 

Irgendwie haben ihn alle installiert. Der WDR, freenet, das ZDF, Radio Chemnitz, RTL und die Kreisverwaltung Mayen: Den tagesaktuellen Nachrichtenüberblick zur derzeitigen Corona – Pandemie. Hier kann man jeden Alarm, der in der Welt um, wegen oder für Covid-19 ausgelöst wird, noch einmal, in knappster Form aufbereitet, nacherleben. Wanderarbeiter in Indien, die Krankenhauslage in New York, den neuesten Unsinn in Nordkorea und die modischsten Mundschutzmasken aus Tschechien und dergleichen Miniaturen mehr – was noch fehlt, ist ein Interview mit dem derzeitigen Führungsvirus über die weiteren pandemischen Pläne in den kommenden Tagen. Dieses Interview wird wahrscheinlich auf dem Corona-Ticker der BILD-Zeitung zu lesen sein. Die Halbwertzeit dieser Informationen liegt bei etwa 30 Minuten. Ziel dieser Ticker dürfte es sein, einen möglichst dichtgeknüpften Informationsteppich über die zivilgesellschaftliche Seele zu breiten, um die darunter wachsenden Angst-, Sorgen- und Verschwörungskulturen mit optimalen Wachstumsbedingungen auszustatten. Es hat ein wenig von einem Gruselfilm an sich: Schreckliche Unterhaltung. Diese Möglichkeit haben nur wir Menschen. Wir weiden uns nicht nur dem, was uns gefällt, sondern auch an dem, was uns noch nicht befallen hat. Es ist die Erregung als Erlebnis, die lustvoll durch die kleinen Informationsschnipsel in den öffentlichen Kreislauf eingefüttert wird. So wird eine große kollektive Erfahrung daraus. Endlich mal etwas, worüber aufzuregen und vor dem Angst zu haben sich wirklich für alle lohnt. Sonst gibt es in einem Land wie dem unseren ja tatsächlich und Gott sei Dank nicht so viel davon.

Helmut Aßmann


Vollbremsung

01. april 2020

 

Man hätte es dem Staat gar nicht mehr zugetraut: Ein massiver Eingriff nach dem nächsten mitten ins gesellschaftliche Leben. Verbote, Einschränkungen, Begrenzungen, robuste Veränderungen alltäglicher Routinen. Mit harter Hand wird der öffentliche Betrieb zur Ruhe gebracht, unter willentlicher und vorsätzlicher Inkaufnahme großer wirtschaftlicher, finanzieller und sozialer Risiken. Denn die Maßnahmen sind bekanntlich das eine – die kann man sich ausdenken und planvoll umsetzen. Die Reaktion darauf aber kann man in überkomplexen Systemen nur abschätzen und in mehr oder minder realitätsnahen Modellen durchspielen. Die Wirklichkeit folgt ihrer eigenen Logik – das ist das andere.
Der Grund für diese Vollbremsung sind die Erkenntnisse und Voraussagen der Virologen, die sich an den Statistiken vergleichbarer Epidemien orientieren und diesbezüglich überzeugende Argumente bei der Hand haben. Die politisch Verantwortlichen können gar nicht anders als sich auf diese Einsichten aus wissenschaftlicher Hand zu verlassen. Sie vertrauen darauf, dass hier mit Seriosität und Augenmaß argumentiert wird und wägen dann ab, welcher Preis für welche Maßnahme zu entrichten ist. Sollte also bei dieser Vollbremsung etwas kaputtgehen, ist das kein Fehler der Bremsung, sondern der Preis für ihren Vollzug. Es ist – bei allem Weh und Ach – erfreulich zu sehen, dass wirklich regiert wird und kein Lamento über das ausbricht, was Regieren denn heißen würde. Es ist ebenso erfreulich zu sehen, dass in diesem Augenblick keine parteipolitischen Spielchen das Feld beherrschen, sondern das Ringen um angemessene und sozialverträgliche Eindämmungspolitik gegen die Virusverbreitung. Gewiss, was das jetzt alles kostet, werden wir noch zu sehen bekommen. Manche sehen es schon jetzt. Vor allem werden wir es zu bezahlen haben. Aber zu wissen, dass einigermaßen vernünftige Menschen mit einigermaßen vernünftigen Beratern ihr Bestes geben, um die Abwägung zwischen der Gesunderhaltung der Bevölkerung und dem Frieden in der Gesellschaft vorzunehmen, ist ein Dankgebet wert.

Helmut Aßmann


Corona - Kirche

16. märz 2020

 

Mehrere Landeskirchen und Diözesen haben ihren Gemeinden empfohlen, mindestens bis zum Ende der Osterferien alle Gottesdienste abzusagen und kirchliche Aktivitäten mit nicht genau übersehbaren Besucherzahlen und -gruppen einzustellen. Taufen, vor allem aber Beerdigungen, sind ausgenommen, da gelten aus naheliegenden Gründen besondere Regeln. Einige Gemeinden gehen dazu über, ihre Kirchengebäude offen zu halten, Gelegenheit zum Gebet zu geben oder sich auf irgendeine andere kreative Weise für spirituelle Fragen zur Verfügung zu stellen. Eine gespenstische Situation: Nicht nur das „Aktuelle Sportstudio“, „DSDS“ oder Maybrit Illner turnen vor leeren Rängen herum, auch die Kirche empfiehlt nun Gottesdienst per Internet, Livestream oder aus der Dose. Umschalten von analog auf digital, von Gemeinschaft auf Einzeldasein. Zuhause bleiben, um nicht die Ansteckungswege für das Virus zu verlängern oder zu verbreitern.
Kurzum: Kirche wird als Ansteckungsraum identifiziert und unter Verdacht gestellt …
Eigentlich, so war ja die ursprüngliche Idee, sollten hier Menschen mit dem Evangelium, der Kraft Gottes oder der Hingabe zur Nächstenliebe „angesteckt“ werden. Am besten gleich mit allem. Jesu Botschaft vom Reich Gottes war ausdrücklich infektiös gedacht, viral aufgesetzt – wenn es damals diese Worte denn schon gegeben hätte. Und nun: Kirchen meiden, weil da die Corona – Viren in, auf oder an den anderen Menschen sitzen? Die Empfehlung, Gottesdienste, sozusagen des Kerngeschäft der Kirchen, abzusagen, ist eine entschieden tückische Angelegenheit. Man kann sich zweierlei holen, wenn man zum Altar tritt. Eine merkwürdig symbolische Situation: Der Ansteckung durch das Virus wollen wir entgehen, der Ansteckung durch das Evangelium trauen wir nicht so recht.

Helmut Aßmann


Lebenslücke

09. märz 2020

 

Von Pascal Mercier, dem Autor des vielgerühmten Romans „Nachtzug nach Lissabon“ stammt folgende Formulierung: „Wenn es wirklich stimmt, dass wir nur einen Bruchteil von dem realisieren, was an Möglichkeiten in uns liegt, entsteht die einfache Frage: Was ist mit dem Rest?“ (München, btb, 2006, S. 29). Zwischen dem, was wir leben, und dem, was wir alles hätten leben können, klafft eine Lücke. Man hat sie nicht unentwegt vor Augen. Sie tut auch nicht weh wie Migräne oder ein nervöser Darm. Aber man kann sie fühlen und stets abrufen mit der Frage: Ist das, was ich tue, eigentlich das, was ich wollte? Die vielen Varianten, in denen darauf eine Antwort gegeben werden kann, dokumentieren das Spektrum und die Qualität dieser Lücke. Niemand lebt vollständig das, was er leben will. Es gibt keine vollkommen authentischen Menschen. Alles Leben ist durch und durch Kompromiss, stets umlagert von Zufall, Schicksal und Zauber. Welchen Status aber hat diese Lücke, dieser Rest von ungelebtem Leben? Ist das vergeudete, weil nicht abgerufene Lebensenergie? Ist es der Preis dafür, überhaupt auf der Welt zu sein und nur eine von vielen Möglichkeiten realisieren zu können? Ist es eine Strafe für die überhebliche Vorstellung, am Ende oder in Wirklichkeit doch mehr und anderes zu sein als es tatsächlich der Fall ist? Ist es am Ende nur eine Chimäre, eine Art unbewältigter Größenwahn, der sich mit den dürftigen Tatsachen nicht abfinden will?
Könnte alles sein. Lohnenswerter erscheint mir, diese Lücke nicht als Defizit auszuwerten, als etwas, dass wir nicht geschafft haben oder was zu schaffen wir gehindert worden sind. Diese Interpretationen sind meistens Einfallstore für anhaltende Melancholie. Sondern, statt dessen, als unsichtbaren Reichtum, der verborgen in uns steckt, noch nicht erwacht, noch nicht erhoben, noch nicht ins Licht gestellt. Es ist nicht so wichtig, dass wir ihn um jeden Preis realisieren. Es gibt in der Sache niemals Vollständigkeit. Aber es ist wichtig, unser Leben größer und breiter gespannt zu denken und zu glauben als in der Spanne zwischen Geburtsurkunde und Totenschein. Damit könnte man heute anfangen. Oder jetzt gleich.

Helmut Aßmann


Bekloppt

27. februar 2020

 

Karneval ist nun vorbei. Aschermittwoch, Spaßende. Passionszeit hat begonnen. Kleiner Rückblick auf eine Karnevalssession in Köln, Kölsche Funken rut-wiess von 1823, im Sartory. Meine Frau war als Hippie-Tusse aus den 70er Jahren verkleidet, ich als ein etwas unscharf geratenes Mittelding aus Räuber und Pirat. Unsere Freunde, die mit von der Partie waren, hatten auch ihr Bestes gegeben, um eine irgendwie andere Figur zu machen als sonst. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in ihre Spaßgewandung fügten, verriet, ob sie damit fremdelten oder sich daran freuten. Spätestens als die Bläck Fööss die Bühne betraten, war es mit der norddeutschen Halbbegeisterung für karnevalistische Umtriebigkeiten vorbei: Entweder singt man diesen bierseligen und domfrommen Quatsch hingebungsvoll mit und erlebt, wie schön es ist, einfach bekloppte Dinge zu tun. Oder man geht auf vornehme Distanz und versucht, diesen chaotischen Fluss des Lebens in irgendeiner Art von Kanal zu halten. Richtig mitschunkeln kann man dann natürlich nicht. Und diese überkandidelten Albernheiten auf der Bühne hält man eben nur mit einem gewissen Verzicht auf Verständniswillen aus. Als ich da mit meinem Räuber Hotzenplotz – Gewand Rücken an Rücken mit wildfremden Mitfeiernden saß und „Superjeile Zick“ sang, fragte ich mich, ob der Herr Jesus wohl auch mal bekloppte Dinge getan oder gedacht hat. Und siehe da, ich wurde beim raschen Durchgang durch die Evangelien fündig. In Mk.11 gibt es die merkwürdige Geschichte von Feigenbaum, den er verfluchte, weil er auf ihm keine Früchte fand. Denn, so schiebt der Evangelist hinterher, „es war nicht Zeit für Feigen“. Was aber kann der Feigenbaum dafür, dass es nicht Erntezeit ist? Nichts. Eine vollkommen sinnlose, bekloppte Tat. Natürlich, man kann ihr im Nachherein eine tiefe religiöse Bedeutung zumessen. Das geht bei allen kuriosen Dingen. Aber in der schieren Oberflächenebene des Tageslaufs ist das eine verrückte Intervention. Kein Karneval natürlich, aber auch nicht weit entfernt davon.

Helmut Aßmann


Wölfe

18. februar 2020

Sie sind seit einigen Jahren wieder da, die Wölfe. Aus Osteuropa eingewandert, suchen sie sich in Regionen, in denen sie seit Menschengedenken aus unserem Wahrnehmungskreis verschwunden sind, eine neue Heimat. Und sie tun das, was Wölfe eben tun: Suchen Beute, reißen Tiere, streifen durch Wälder und Felder auf der Suche nach Nahrung. Sie sind gefährlich. In einer Umgebung, in der Gefährdung immer nur mit Zuständig- und Verantwortlichkeiten zusammengedacht werden kann, ist das ein verheerender Vorgang. Der Wolf ist nicht versichert. Er gehört auch niemandem. Er ist nicht aus einem Verlies ausgebrochen, sondern einfach da, ohne rechtsfähigen Status. Weil, wo und insofern es ihn gibt, ist er gefährlich. 
In früheren Jahrhunderten hätte es darauf nur eine mögliche Reaktion gegeben: Abschießen, ausrotten, beseitigen, wo immer es möglich ist. Anders in diesen Tagen. Es gibt eine große Wolfslobby, die alles tut, um die Wölfe zu schützen, ihnen Lebensräume zu erhalten und sie trotz ihrer Gefährlichkeit gegen die Anwürfe von Landwirten oder Schafhirten zu verteidigen. Die Auseinandersetzungen in den Zeitungen und „sozialen Medien“ sind von geharnischter Wucht. Worum dreht sich dieser Kampf eigentlich, was genau soll da geschützt werden? Der Wolf, in alter Sprache Isegrim, als Symbol einer wiedererwachenden oder, andersherum, noch nicht kaputtorganisierter Natur? Die offenkundige und blutige Gefährlichkeit, die wir ansonsten in das Gehege von Bildschirmen und medialem Alarmgetöse verbannt haben? Romantik vielleicht, also der Wolf als mythisches Symbol eines ewigen Kreislaufs der Schöpfung? Dass ein Milieu, das eine gefahrlose Kindheit zum pädagogischen Nonplusultra erhebt, zugleich den Wölfen und ihrer Wildheit huldigt, ist wenigstens bemerkenswert. Aber auch nachvollziehbar: Das Leben ist nun einmal gefährlich. Ansonsten wäre es auch langweilig.

Helmut Aßmann


Neuroplastizität

10. februar 2020

Lange Zeit dachte man, dass das Gehirn, wenn es einmal die ersten Jahre in einem Menschenkopf hinter sich gebracht hat, seinen stabilen Betriebsstandard erreicht habe. Der Mensch, der zu diesem Gehirn gehört, bliebe dann in seinen Reaktions-, Verstehens- und Handlungsmustern im wesentlichen ebenfalls stabil, sprich: routiniert, in gewisser Hinsicht unbelehrbar, aber eben auch berechenbar. Auf der Ebene des Erfahrungssatzes etwa: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Deswegen lohnte es, so die naheliegende Schlussfolgerung, dann auch nicht mehr, mit 60 das Klavierspielen anzufangen oder mit dem Ballon zu fliegen oder achtsames Töpfern zu erlernen. Seit den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts zeigt sich nun aber immer deutlicher und vielfältiger, dass unser Gehirn in vielen seiner Komponenten mitnichten determiniert und fixiert ist, sondern veränderbar ist, nicht nur bei dramatischen körperlichen Veränderungen (Steigerung der Hörsensibilität bei Verlust der Sehkraft), sondern durch regelmäßige Übungen, durch die Passung in neue Umgebungen oder das Kennenlernen anderer Menschen. Wir sind, nicht nur mental, sondern auch neuronal gesehen, nicht nur nie fertig, sondern stets in der Situation, uns neu anordnen und organisieren zu können. Eine grandiose Aussicht. Natürlich ist die Veränderungsgeschwindigkeit abhängig vom Lebensalter. Man wird mit 60 kein Klaviervirtuose mehr. Aber es ist kein selbstüberschätzender Übermut, in dieser Altersregion ein Musikinstrument zur Hand zu nehmen und das Üben anzufangen. Hingegen ist die Überlegung, sich mit 40 ein Haus zu bauen, das möglichst altersgerecht funktioniert, durchaus ambivalent: Man kann sich auch ein Altsein vor der Zeit antrainieren. Vor allem: Man kann sich immer, jederzeit, unter allen Bedingungen Gott aussetzen und darauf setzen, dass es wirkt: Regelmäßiges Beten, Vertrauen aufbauen und Bibeltexte studieren verändert uns, ganz gewiss.

Helmut Aßmann


Fromm - für wen?

29. januar 2020

Wenn man die großen Bücher der Religionen liest, ist immer wieder von ähnlichen Handlungsanweisungen die Rede, an die sich ein Mensch zu halten habe, der es mit seinem Gott ernst meint. Auf die Goldene Regel sind alle Hochreligionen gekommen. Maßhalten, Geduld, Vorsicht beim Reden – solche hehren Haltungen und Prinzipien pflastern der Weg der Frommen aller Kontinente. Es gibt, zugegebenermaßen, auch Ausreißer, als Bestätigung der Regel. Wenn es schlecht läuft, dann werden diese Anweisungen als Gesetze verstanden, denen man zu gehorchen habe, andernfalls der Zorn des jeweils Höchsten auf einen herabfährt. Da wird Religion zu einem Gehorsamsakt aus Angst vor Strafe. Kennen alle Religionen. Ähnlich gelagert ist die Haltung, dass es beim Glauben um eine Art Selbstoptimierungsaufgabe gehe. Das war in Mode, längst bevor das Wort Selbstoptimierung überhaupt entwickelt und zungenfertig gemacht wurde. Glaube als Akt von spirituellem Lifestyle, dessen Juror Gott ist oder das, was man für Gott hält. In solcherart gelagerter Praxis gibt es weniger Angst vor der Hölle, aber um so mehr Sorge ums Wohlgefallen. Bleibt noch eine dritte Variante, diese frommen Vorschriften zu verstehen, eigentlich die einfachste: Es sind Handlungsaufforderungen zum Zwecke der Verbesserung des gemeinsamen Lebens. Nicht um Gott zu gehorchen oder zu gefallen, sondern um besser miteinander auf dieser Erde klarzukommen. So einfach? Nun ja, schon die Gebote vom Sinai waren nicht besonders kompliziert. Sie bezogen sich zudem zu 70% auf das diesseitige Dasein. Wenn wir (nur die) alle hielten, wären sicherlich 90% aller Probleme der Menschheit verschwunden. Und wenn jedermann sein eigenes Maß beachtete, geduldig mit seinem Mitmenschen umginge und lieber den Mund hielte als Maulaffen feilzubieten, dann wären weitere 5% hinfällig. Frömmigkeit ist, kurz gesagt, nicht für uns oder Gott, sondern für alle gut.

Helmut Aßmann


Suchtverhalten

20. januar 2020

Ein e-Zigarettenhersteller wirbt derzeit mit großem Aufwand und Plakatierungsdichte mit diesem Slogan um Kunden: „Aufhören, ohne aufzuhören“. Brillant. Früher fasste man das Problem in andere, gegenteilige Formeln. Etwa „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Oder in eher abstrakter Logiksprache: a ist nicht nicht-a. Geht eben nicht. Nun also: Aufhören, ohne Aufzuhören. Geht offensichtlich doch. Es dreht sich – sachlich – um den Umstieg von der Verbrennungszigarette zur Verdampfungsrohr. Weg vom Nikotin hin zum wasserdampfgetriebenen Aroma, mit weniger Nikotin und Teer, dafür aber mit Akkubetrieb, komplizierterer Technik und – natürlich – Sondermüllanfall. Eine schöne Rechnung, parallel zu der Parole: Weg vom CO2 hin zu mehr Lithium, Kobalt und anderen seltenen Metallen. Oder: Weg von der Kohle, hinein in den Atomstrom. Selbstbetrug als Geschäftsidee. Das gab es zwar schon immer, ob nun als Hütchenspieltrick, als Spielcasino oder esoterisch aufgemachten Hokuspokus. Es sieht derzeit aber so aus, als zeichne sich hier eine Art Grunddilemma des modernen Menschen ab, nicht nur eine Gelegenheitsfehlleistung: Diagnose Suchtverhalten. Wohl wissend, dass die derzeitige Lebensform nicht so weitergehen kann, kann man damit aus wirtschaftlichen, finanziellen und ideologischen Gründen nicht aufhören. Bzw., in angemessener Sprache: Man muss aufhören, ohne aufzuhören. So tun als ob … Solange es eben geht. Alkoholkranke Menschen haben diese Haltung perfektioniert. Alle Süchtigen können das. Und, wie bei allen, Suchterscheinungen: Es ist so wahnsinnig schwer auszusteigen. Zuerst braucht es ein neues Lebensziel. Woher aber bekommt man so etwas?

Helmut Aßmann


Einsamkeitsministerium

13. januar 2020

Im Vereinigten Königreich gibt es das tatsächlich: Ein Einsamkeitsministerium. Seit 2018 gibt es das. Theresa May, die damalige Premierministerin, begründete diesen Schritt mit der "traurigen Realität des modernen Lebens", die Millionen Menschen betreffe. Mehr als neun Millionen der knapp 66 Millionen Briten fühlen sich laut Rotem Kreuz immer oder häufig einsam. Neun Millionen, das sind deutlich mehr als 10% der britischen Bevölkerung. Eine bedrückende Entwicklung, finden alle. Eine zugegebenermaßen unbeweisbarer Zusammenhang: Offenbar wächst mit dem Datenvolumen, das über die sogenannten sozialen Medien auf dem ganzen Globus umgeschlagen wird, kurioserweise auch die Vereinsamung der Menschen. Das dürfte nicht nur in Großbritannien der Fall sein, sondern in allen telekommunikativ ausgestatteten Gesellschaften. Und es wird nicht mehr viele geben, für die das nicht zutrifft. Ob ein Ministerium es möglich machen kann, eine Art amtsverordnete Resozialisierung in die Wege zu leiten, sei einmal dahingestellt. Erfahrungsgemäß stoßen solche Zwangsbeglückungen auch bei bestem Willen auf einen soliden Widerstand. Aber davon ab. Der Umstand, dass Informations- und Mitteilungsmengen keinerlei Gewähr auf Verständigung sichern, sondern eher, im Gegenteil, die reale Beziehungsaufnahme von Herz zu Herz und Gesicht zu Gesicht erschweren, ist eine dunkle Hypothek für unsere digitale Zukunft. Die Mitteilungsenergie, die in die Maschinen geht, wird der zwischenmenschlichen Begegnung abgezogen. Eine einfache Rechnung.  Es ist eine der rätselhaften Missweisungen des öffentlichen Lebens, warum, trotz eindeutiger Faktenlage, die Kultus- und Bildungsministerium hierzulande mit Macht auf die Digitalisierung der Bildungslandschaften drängen. Da braucht es womöglich weniger so etwas wie ein Einsamkeitsministerium als vielmehr die Einrichtung digitalisierungsresistenter Räume, um Berührung, Sprache, Wirkung des und am anderen wieder zu üben. Um nicht mit sich allein zu bleiben, weil man verlernt hat, sich einem anderen, realen Menschen ohne zwischengeschaltete Maschinen zu öffnen.

Helmut Aßmann


Grundmodus +

07. januar 2020

Dem Menschen wird regelmäßig nachgesagt, er sei – im Prinzip – durch und durch verdorben. Man solle sich zur Bestätigung nur einmal die real existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse anschauen, von der Nachbarschaft über die Regierungen bis zu den Geschäftspraktiken der Großkonzerne. Wir, die Verbraucher seien auch nicht besser: Wir kaufen, verbrauchen und fressen all das Zeug, dass hergestellt und beworben wird, wohl wissend, dass unser Leben davon nicht einen Gran sinnvoller, besser oder menschenwürdiger wird. Undsoweiter. Selbst die Bibel tute in dasselbe Horn: „Das Dichten und Trachten des Menschen ist böse von Jugend auf“, mault Gott, der Herr, sowohl vor als auch nach der Sintflutgeschichte in der Übersetzung Luthers. 
Aber, nun kommt’s: Genau da steht „Jugend“ und nicht grundsätzlich, also von Geburt an. Das wäre nämlich falsch. Der Grundmodus menschlichen Lebens ist mitnichten Bosheit, Niedertracht und Egoismus, sondern glatt das Gegenteil. Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, hat er gar keine andere Möglichkeit als gutgläubig, vertrauensvoll und offen zu sein. Schon aus Überlebensgründen. Für den Säugling und das Kleinkind sind die Eltern wie Gott, an den man sich erwartungs- und hoffnungsfroh wendet, um all das zu empfangen, was zum Lebenserhalt nötig und geboten ist. Diese Erwartung ist in den allermeisten Fällen voll berechtigt. Rabeneltern sind die große Ausnahme, und meistens haben diese Ausnahmen sogar verständliche Gründe. Dass die Eltern freilich nicht Gott sind, ist eine ziemlich schnell heranreifende Erkenntnis. Und miese Einflüsse kommen schnell genug, um neben dem Vertrauen auch dem Misstrauen ein gehöriges Orientierungspotential zuzubilligen. Aber der Modus des Vertrauens ist gewissermaßen genetisches, ursprüngliches Programm, weit unterhalb aller kognitiven und hermeneutischen Prozesse. Nahezu alle Menschen sind darauf ansprechbar. Bösgläubigkeit gehört nicht zu den Primärantrieben menschlichen Lebens. Darauf sollte man sich entschieden weniger verlassen als auf die vermeintlich schwache Gutwilligkeit des Menschen. Übrigens auch in Bezug auf sich selbst. Gott macht das ja auch nicht anders.

Helmut Aßmann


Wertstoffhof

16. dezember 2019

Unsere Kaffeemaschine ist dieser Tage kaputt gegangen. Genauer: Der Handgriff für die Glaskaraffe hatte offensichtlich eine Sollbruchstelle, und die hat pflichtschuldigst nach ordnungsgemäßem Ablauf der Garantiezeit ihren Auftrag erledigt. Ansonsten war das Ding vollkommen in Ordnung. Freilich, wie zu erwarten war, gab es natürlich keinen Ersatz mehr für die Glaskaraffe. Modellwechsel eben. Oder irgendeine andere Ausrede. Das hieß für uns: Kaffeemaschine entsorgen, wenn man sich nicht an der henkellosen Glaskaraffe regelmäßig die Hände verbrühen oder derowegen mit Handschuhen zu Werke gehen wollte. Auf dem Wertstoffhof habe ich diese funktionierende Kaffeemaschine mit henkelloser Glaskaraffe in einem großen Elektromüllcontainer ihrem apparativen Ende zugeführt, beerdigt sozusagen. Ein seltsamer, bedeutungsschwerer Ort, so ein Wertstoffhof. Er ist so etwas wie der Friedhof unserer abgelebten Gebrauchsgegenstände. Eine Halde der nicht mehr benötigten oder funktionsuntüchtigen Lebensvollzüge, der abgebrochenen Alltagsrituale oder verirrter Hoffnungen auf Entlastung, Ausstattung oder Möblierung. Die Hilfswelt der Zivilisation ist in ihrer verbrauchten oder ungeliebten Darreichungsform in großen Sammelbehältern zu besichtigen. Man sieht, was Menschen nicht mehr benötigen, nicht mögen, nicht verstehen oder nicht mehr beherbergen wollen. Das ist nicht einfach Müll, das ist die Entropie menschlicher Existenz, dargestellt in kleinen und großen Objekten. Deswegen fahre ich nicht besonders gern auf den Wertstoffhof. Aber es liegt kein Frieden über der Halde, sondern Trennungswille. Eine Entsorgungshaltung durchzieht die stets etwas verdreckten Flächen, und die Wertstoff- bzw. Friedhofswärter mit ihren Alarmwesten verbreiten eine eher etwas gelangweilte Atmosphäre. Auf all das, was da herumliegt und abgeschoben wird, kommt es nicht mehr an. Das will nur noch losgeworden sein. Wie nah sind sich eigentlich moderne Fried- und Wertstoffhöfe? Frage ich mich.

Helmut Aßmann


Socken

10. dezember 2019

Mein Vater hatte eine merkwürdige Marotte. Ab dem 1.10. war für ihn Winter. Der dauerte, ganz unabhängig von den meteorologischen Verhältnissen, immer bis zum 31.3. Also ein halbes Jahr. Winterhalbjahr eben. Konkret bedeutete das für ihn, die langen Unterhosen und vor allem die warmen Socken aus dem Schrank zu holen und auf Winterkleidung umzustellen. Mir war diese gänzliche Abkopplung der Textilauswahl von den Witterungsbedingungen stets ein kleiner Anlass zum Spott ihm gegenüber, aber er blieb unverdrossen ebenso freundlich wie widerständig. Die kalten Nachkriegswinter hatten ihn Mores gelehrt, und diese klimatische Prägung saß tiefer als alle aktuellen Befindlichkeiten oder Modetrends. Mir fällt diese herbstliche Kabbelei mit meinem Vater in diesen Tagen öfter ein, wenn ich die Sockenauswahl der Schicksalsgenossen im ÖPNV betrachte. In gewisser Hinsicht kann man sagen, dass große Teile der Bevölkerung derzeit irgendwie „von den Socken“ ist. Entweder benutzt man sie gar nicht mehr und schlüpft unmittelbar barfüßig in den Schuh oder man verwendet die sogenannten low socks, also Strickgebilde, die nicht mehr über den Knöchel reichen, sondern eher den Charakter modisch aufgepeppter Füßlinge haben. Das gilt für Männer wie für Frauen. Gelegentlich begegnen mir auch hardcore – Fußbekleidungsverweigerer, die noch im Winter barfuß durch die kalten Straßen laufen. War „Bein zu zeigen“ einstmals eine Art Tabu der Herrenwäsche, gehören dieser Tage Hochwasserhosen und der Blick auf Knöchel und Achillesferse zur visuellen Orientierung im modischen Strom der Zeit. Auf bemerkenswerte Weise wiederholt sich die Marotte meines Vaters. Wiederum spielt das aktuelle Wetter keine Rolle bei der Gestaltung der Fußbekleidung. Hier wie dort sind die Grunderfahrungen ausschlaggebend. Damals waren es die harten Winter, heute ist es eine geheizte Öffentlichkeit. Vermutlich trage ich aus diesem Grund jahraus, jahrein klassische Herrensocken, ebenfalls ganz unabhängig vom Wetter.

Helmut Aßmann


Salgado

02. dezember 2019

In diesem Jahr ist der Friedenspreis des deutschen Buchhandels erstmalig nicht an einen Literaten gegangen, sondern an einen Fotografen: Sebastião Salgado, berühmt durch seine ungeheuer intensiven Schwarz-weiß-Bilder  aus den Katastrophengebieten dieser Erde. Er stammt aus Brasilien, Jahrgang 1944, aufgewachsen auf einer Farm im Bundesstaat Minas Gerais, verheiratet mit der Pianistin Lelia Deluiz Wanick. Salgado hat in den Jahrzehnten alles ins Bild gesetzt, was einem Zweifel über den Sinn und Bedeutung des menschlichen Daseins in die Seele treiben kann. Die Massaker in Ruanda, ethnische Säuberungen auf dem Balkan, die brennenden Ölquellen von Kuwait, den Hunger in der Sahelzone. Diese Wucht an Leid und Zerstörung hat ihn nach eigenen Worten dazu gebracht, die Hoffnung auf ein gutes Ende mit der Menschheit für ein ganz aussichtsloses, unbegründetes Gefühl zu halten. Gezeichnet von dem Unglück, dessen er ansichtig geworden war, beschloss er auf Anraten seiner Frau, sich der Natur zuzuwenden und auf der Farm seiner Eltern mit einem Wiederaufforstungsproramm zu beginnen. Gewissermaßen als nach außen gekehrte Revitalisierungsmaßnahme für die eigene verwüstete Seele. Denn auch die Farm hatte durch Erosion und ruinöse Landwirtschaftspolitik die Gestalt einer unfruchtbaren Brache angenommen. Was daraus unglaublicherweise geworden ist, lässt sich fast wie eine Neuschöpfung begreifen: Der Wald ist zurück, die Vögel sind wieder da, der Jaguar hat sich eingefunden, die zerstörte Welt hat sich erholt. Wim Wenders hat über dieses Lebensprojekt einen anrührenden und sensiblen Film gedreht: „Salz der Erde“. An dessen Ende kommt eine ebenso erstaunliche wie versöhnende Bilanz über das, was der Mensch kann, ist und sein soll, und eine Hoffnungsperspektive, die einem kurz den Atem stocken lässt: „die Zerstörung der Welt ist umkehrbar“. In Gen.8,22 hat Gott ähnliches gesagt. Ein gutes Statement gegen die Untergangsalarme, die uns umgeben wie psychische Stickoxide.

Helmut Aßmann


Impeachment-Blues

25. november 2019

Die Demokratische Partei in den USA hat sich nun also auf den Weg zu einem Impeachment-Verfahren, der Amtsenthebung des Präsidenten, gemacht. Manche Fachleute sagen, das sei eine ziemlich aussichtslose Angelegenheit, weil die Republikaner im Senat mit ihrer Mehrheit die nötige Zweidrittelzustimmung verhindern werden. Und zwar unabhängig davon, was die Anhörungen und Befragungen an weiteren Ungeheuerlichkeiten politischer Unanständigkeit seitens des Präsidenten noch zutage fördern. Das ist bemerkenswert. Richard Nixon ist 1974 aus politisch durchaus geringerwertigen Gründen zurückgetreten und damit einer Amtsenthebung zuvorgekommen. Heute sieht die Sache anders aus. Da tritt ein Amtsinhaber bewusst, zugegebenermaßen, mit Vorsatz und nachweislich demokratische Gepflogenheiten mit Füßen; schmückt sich als öffentliche Person mit rassistischen, menschenverachtenden und verleumderischen Aussagen; benutzt sein Amt für private Interessen; usw. Und merkt immer deutlicher, dass all das ihn nicht stürzen, fällen oder aus dem Amt treiben wird. Statt also in irgendeiner Form Einsicht zu zeigen, geht er zum Gegenangriff über und erklärt rundheraus die staatlichen Ordnungs- und Lenkungsformate für überkommen, verhockt und seinem genialen Geist nicht gewachsen. Es verschlägt einem angesichts dieses autoritär-narzisstischen Furors die Sprache. Ein Elefant im Porzellanladen ist dagegen ein laues Lüftchen. Formal ganz analog bricht hierzulande die AfD ein politisches oder ethisches Tabu nach dem anderen und demontiert die politische Kultur, derer sie sich ebenso geschickt wie böswillig bedient. Und rund 20% der deutschen Bevölkerung scheint das gut zu finden. Publicitypotential hat dieses Verhalten allemal. Dagegen lassen sich trefflich Empörung formulieren, Demonstrationen organisieren und geschichtliche Lehren aufbieten – ab einer kritischen Unterstützungsmasse lässt sich aber nicht mehr dagegen anregieren. Das ist die Achillesferse des demokratischen Prinzips. Oder der Ort seiner schönsten Realisierung: Wenn nämlich der zivilgesellschaftliche Widerspruch gegen diese zerstörerischen Umtriebe vor Ort, im Alltag und angelegentlich Gesicht, Stimme und Gestalt bekommt. Das ist nicht unmöglich, so schwer es auch angeht.

Helmut Aßmann


Gewissenbisse

19. november 2019

Irgendwie macht das moderne Leben keinen Spaß mehr. Alles ist schwierig, mit wenig erfreulichen Nebeneffekten und Kollateralschäden behaftet, umweltschädlich oder ungesund. Wenn es übel kommt, dann alles zusammen. Kaum ist irgendeine neue Therapie oder ein hippes Freizeitvergnügen auf die öffentliche Agenda gekommen, schon melden sich die ersten Untersuchungsergebnisse, dass auf vertrackte Weise auch da ein Wurm sein Zuhause gefunden hat. Selbst so simple Dinge wie die einfache Anrede ist tückisch geworden. Jemanden als Dame oder Herr zu bezeichnen, könnte der Anfang einer langwierigen Konfliktgeschichte sein, egal wie unbekümmert das gemeint gewesen ist. Die Kleider, die wir tragen: Wer weiß, welche bösen Produktionsgänge sie hinter sich haben? Und selbst die Tomaten auf dem sommerlichen Salatteller verheißen im Blick auf ihre ökologische Bilanz, die sie an mich weiterreichen werden, nichts Gutes. Dieser bedrückende Aspekt erscheint in allen Lebenslagen und verführte den Vorsitzenden der JU, Herrn Kubahn, auf der deren Jahreshauptversammlung zu dem fast weinerlichen Ausruf, dass es (sinngemäß) schließlich auch mal erlaubt sein müsse, für ein paar Tage Urlaub auf Malle zu machen.
An dieser kläglichen Anmerkung zeigt sich die Tiefe der Verunsicherung. Wo ist unbekümmerte Lebensfreude ohne böse Konsequenzen, Shitstorms oder Verbalpolizisten abgeblieben? Wie geht ein modernes Leben ohne Gewissensbisse (vorausgesetzt, man hat ein funktionierendes Gewissen abbekommen)? Also Leben ohne Nebenwirkungen und Risiken für sich und andere? An dieser Stelle schlägt das Ganze um in die theologische Abteilung. Die Antwort lautet nämlich: Nirgends gibt es das. Wer genau hinschaut, muss leider entdecken, dass wir immer irgendetwas falsch machen. Bewusst oder unbewusst. Irgendwas ist immer. Aber man wird das nicht los, in dem man trotzdem nach Malle fliegt oder die kritischen Geister Spaßverderber schimpft. Die alten theologischen Meister hatten in diesem Zusammenhang von einer Grundsünde gesprochen, in der jeder Mensch steht. Das kann man abtun. Aber deswegen verschwindet sie nicht. Die neuen Gewissensbisse: irgendwie auch göttliche Spuren. Man erkennt sie nur nicht so schnell. 

Helmut Aßmann


Damals

11. november 2019

Vor dreißig Jahren gab es da mal was. Das war so um den Anfang der 90er herum. Heute sind wir 30 Jahre weiter. Die eine hat damals Molotow-Cocktails „gegen die Bullen“ geworfen. Die zweite der freien Liebe gehuldigt. Der dritte hat nationalistische Parolen in die Luft geblasen. Der vierte hat einfach nur am Wochenende faul „Wetten dass…?“ geschaut oder, gar nicht faul, im Stadion andere Leute verprügelt. So kann man sich die Zeit schließlich auch vertreiben. Vor dreißig Jahren haben die meisten Leute eine Menge Dinge gedacht, gesagt, behauptet und getan, auf die sie heute, um es vorsichtig zu sagen, nicht eben stolz sind. Das gilt beispielsweise auch für Joschka Fischer, Sascha Hehn und – eben – den sächsischen Landesbischof. Wenn einen nun so etwas einholt, weil jemand von damals plaudert, etwas von damals findet, sich über etwas von damals aufregt: Was dann? Man kann sich entschuldigen, wenn es etwas zu entschuldigen gib. Oder sich erklären, wenn das, was da erklärt werden soll, auch erklärt werden kann. Man kann sich dazu in Schweigen hüllen, wenn es zu peinlich ist oder zu blöd, um zum Gegenstand öffentlicher Diskussion zu werden. Man kann versuchen zu erklären, dass andere an dieser Sache schuld sind. Geht alles. Gibt’s alles.

Zwei Dinge gehen aber nicht. Erstens, dass man so tut, als dürfe es binnen dreier Jahrzehnte bei einem normalen Menschen keine nachhaltigen und echten Änderungen von Meinungen, Überzeugungen und Positionierungen geben, um ein lohnendes Feindbild für die eigenen Attacken zu modellieren. Zweitens, auf der anderen Seite, das Gefühl vermitteln, dass man diese Änderung nur behauptet, aber nicht erkennbar vollzieht. Wenn diese beiden Strebungen zusammenkommen, kann man nur das Handtuch werfen.

Die Bomben von damals können nur entschärft werden, wenn man sagt, wo sie liegen.

Helmut Aßmann


Drei Musketiere

04. november 2019

Die drei Musketiere der öffentlichen Meinungsbildung für die, die noch glauben, dass der Welt zu helfen sei, sind nicht diese: EKD – Ratsvorsitzender, Bundeskanzlerin und Wolfgang Bosbach. Aber auch nicht diese: der Papst, Anne Will und Wolfgang Schäuble. Nein, die sind es alle nicht. Die machen alle nur heiße Luft. Sondern es sind diese: Dieter Nuhr, Harald Martenstein und Oliver Welke. Bei denen hört man, was Sache ist. Da wird die Weisheit mit Löffeln gefressen, und, was soll man sagen?, sie schmeckt geradezu, ist jedenfalls enorm unterhaltsam. Das kann man von den Einlassungen der anderen Personen eben nicht so ohne weiteres sagen. Die regelmäßigen Kolumnen, Shows und Sendebeiträge der drei Musketiere hingegen haben mittlerweile den Charakter von billiger Unterhaltung verlassen und übernehmen weit höhere Verantwortung: Sie erklären die Welt, trösten die verzagten Gemüter und geben Rat für ausweglose Lebenssituationen. Martenstein mit der Attitüde des einsichtig gewordenen Rebellen, Welke im klamaukigen Ton des rechtschaffenen Großkotz und Nuhr als menschenfreundlicher Dompteur der entgleisten gesellschaftlichen Emotionen. Sie geben sich nicht nur als die Gralshüter der klassischen europäischen Vernunft, sondern sind auch noch die Herolde einer weitgehend aus der Mode geratenen Überzeugung: Leben kann erstens Spaß machen, zweitens gelegentlich auch gelingen und ist drittens als Tragödie deutlich unterbestimmt. Wichtiger Einwand: Keine Frau dabei, deswegen kann das alles nicht stimmen. Stimmt. Ist ja auch nur mein Eindruck. Dafür ist er aber wenigstens authentisch. Caroline Kebekus finde ich ein wenig schrill, Barbara Schöneberger irgendwie zu mondän und Lisa Eckart ein wenig intellektualistisch. Was ich eigentlich sagen will: die neuen Prediger finden sich nicht auf den Kanzeln oder in den Winkelmessen von Verschwörungsgemeinschaften, sondern ausgerechnet auf den Kabarettbühnen. Es ist eben doch auch zum Lachen, was wir da gerade an Weltverunsicherung erleben. Sogar ein wenig evangelisch ist das: „Die Welt ist mir ein Lachen …“ (EG 112,5) 


Helmut Aßmann


Meinungsverschiedenheiten

28. oktober 2019

In Göttingen ist der ehemalige Verteidigungs- und Innenminister Thomas de Maiziere von knapp 100 Personen daran gehindert worden, sein Buch über das „Regieren“ der Öffentlichkeit vorzustellen. Auf den Plakaten, die am alten Rathaus angebracht waren, stand zu lesen: „Abschiebungen, Sozialabbau, Kriege = Eure Demokratie“. De Maiziere wurde vorgeworfen, am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei beteiligt und damit schuldig an den Toten im Mittelmeer sowie dem Flüchtlingselend schlechthin geworden zu sein. Über genau diese Fragen hatte de Maiziere mit dem Publikum in seiner Lesung sprechen wollen. Der Intendant des Literaturherbstes, zu dessen Veranstaltungen die Lesung zählte, kam zwar unverletzt, aber mit zerrissener Kleidung davon. 
„Eure“ Demokratie, heißt es. Eine folgenschwere Differenzierung. Will sagen: Die Demokratie der Falschen. Die mit den irrigen, fehlgeleiteten Meinungen und Positionen. Aber: Gibt es denn eine andere? „Unsere“ Demokratie, also die der Aufrechten, derjenigen mit den guten Positionen? Es ist nicht gering, was hier zu besichtigen ist: Der Vertrauensverlust gegenüber dem Diskurs als konstruktive Form der Auseinandersetzung. Die allmähliche Ersetzung des Arguments durch inszeniertes Pathos. Die Vergiftung des Begriffs durch Empörung. Demokratie als Verfallsprodukt. Wir sind umgeben und durchzogen von dieser schleichenden Erosion. Die wohlfeile Entrüstung wird natürlich auf allen öffentlichen Kanälen gespielt. Sie ist ernst gemeint und wichtig. Wichtiger noch aber ist die Antwort auf die Frage, woher die Kraft kommen soll, Meinungsverschiedenheiten auszuhalten, wenn es immer mehr Stimmen gibt, die das für unsinnig, ja falsch erklären – und sich am Ende auch so verhalten? Wenn es alle machen, warum dann unsereiner nicht?

Vielleicht: Weil das nicht wahr und nicht menschlich ist. Ich vermute, Jesus würde das so oder ähnlich formuliert haben.


Helmut Aßmann


Waldbaden

21. oktober 2019

Erst dachte ich, das sei ein Dorf in der Nähe von Waldshut: Waldbaden. Hätte ja sein können. War aber falsch. Waldbaden ist eine aus Japan kommende (so jedenfalls sagen es die einschlägigen Internet – Werbeseiten) Mischung aus Naturmeditation, Spaziergang und braver Esoterik. Es ist nicht ganz das, was das Wort vermuten lässt. Kein Freibadgenuss im Wald oder Schwimmen im Waldsee, sondern Baden im Wald wie wenn man im Wasser wäre. Man lässt sich einhüllen, einfangen, einspinnen in den Lebens- und Erlebnisraum Wald. Allerdings: Deutscher oder europäischer, jedenfalls zivilisierter Wald – im Tropenurwald funktioniert das nicht so gut, zu gefährlich. Der Unterschied zum landläufigen Waldspaziergang besteht offenbar, soweit ich es verstanden habe, in intensiverer Zuwendung zu den Bäumen, einer „achtsameren“ Gesamthaltung und einer irgendwie spiritualitätsschwangeren Terminologie. Inzwischen gibt es sogar eine Deutsche Waldbaden-Akademie. Darin wird neben den in der Branche üblichen Grund- und Aufbaukursen unter anderem eine Waldbaden – Hospizarbeit angeboten, oder mystisches Waldbaden oder auch Therapeutisches Waldbaden. Stets unter Anleitung durch zertifizierte Waldbademeisterinnen.
Ich weiß nun nicht recht, wie ich damit umgehen soll. Vorweg: Das Anliegen teile ich voll und ganz. Ein Tag im Wald entspannt, ein Tag in München macht einen fertig. Da braucht's keine akademische Gymnastik. Spaziergänge, Naturmeditationen, Wandern an frischer Luft: Das ist eines der einfachsten, günstigsten und wirksamsten Therapieprogamme wo gibt. Dafür plädiere ich auch immer. Aber wenn ich diese gestelzten und verschwurbelten Beschreibungen von Heilungs-, Erlösungs- Vervollkommnungs- und universalen Verstehensprozessen lese, die einen im Wald dann überkommen sollen, kann ich mich eines fremdelnden Lächelns einfach nicht enthalten. Lächeln, weil es sich schon ein wenig komisch anhört, all diese Achtsamkeits- und Sensibilisierungsbegriffe ohne Ecken und Kanten, alles rund geschliffen wie Colani – Exponate. Fremdelnd, weil man offenkundig meint, mir nun auch noch den Wald erklären zu müssen und wie man mit Bäumen, Farnen und Moos umgeht. Leider kein Wort von Wölfen, Borkenkäfern und Fallholz. Nein, ich möchte den Wald nicht so gerne und auch gerne nicht so erklärt haben. Am Ende ist er womöglich doch ganz anders, der Wald … Und das möchte ich dann selbst erleben.


Helmut Aßmann


Schöne neue Welt

15. oktober 2019

Wie in den seriösen Medien verlautet, lässt sich gerade in China die schöne neue Welt einer digital gestützten Staatspädagogik besichtigen. Nach einem genauestens austarierten Bewertungssystem werden die Handlungen aller Gesellschaftsteilnehmer, also, im Prinzip: aller Menschen beobachtet, ausgewertet und dann mit einer Belohnung oder Strafe ausgestattet. Vom Verhalten im Straßenverkehr über Benehmen auf dem Arbeitsplatz bis zu Fernsehkonsum oder Finanztransaktionen. Einfach alles. Das ist eine sehr bewährte Methode, um das Sicherheitsniveau und Beherrschbarkeit einer Gesellschaft zu erhöhen, indem man aus Angst vor staatlicher Disziplinierung gar nicht erst anfängt, dummes Zeug zu machen. Der sowjetische NKWD, die Gestapo oder die Stasi waren in dieser Hinsicht operativ ähnlich aufgestellt, mussten sich aber noch der analogen Steinzeitmethoden bedienen und benutzten Revolver, Folterinstrumente und Geiselnahme. Auch die Kirche alten Schlages hat sich immer wieder einmal solcher miesen Verfahren bedient: Du bekommst für Wohlbetragen Treuepunkte für den Himmel. Das ist jetzt nicht mehr nötig. Das digitale chinesische Verfahren kommt vorbildlich mit Wattehandschuhen und geradezu vernünftiger Betriebslogik daher. Wer sich nicht ordentlich benimmt und seine täglich fälligen guten Taten versäumt, wer sich öffentlicher Auffälligkeiten verdächtig macht oder merkwürdige Leute in seine Wohnung lässt, dem werden Kreditspannen vermindert, Auslandsreisen verboten oder die Gesundheitsversorgung erschwert. Um seinet- und seiner Besserung willen. Kein Blut, keine finsteren Keller, keine blutrünstigen Schlagetots in Folterkasernen. Alles nur Algorithmen mit nachvollziehbarer Programmierung: Unsere Welt soll schöner werden, berechenbarer, durchsichtiger, einfacher, eben: chinesischer. Was das inhaltlich meint, legt eine aufmerksame, gebildete, menschenfreundliche Truppe von Staatsdienern fest, die natürlich ins System einbegriffen sind, theoretisch. Ein Quantensprung in innerer Sicherheit und staatspädagogischer Präzision. Und: ein Abgesang auf den Menschen, wie wir ihn bislang verstanden haben. Noch immer mag ich nicht recht glauben, was hier vonstatten geht. Was für ein Albtraum von Zivilisationsentwicklung! Und was für eine deutliche Illustration dessen, was das Evangelium in seinem Wesen zutiefst und nachdrücklich ablehnt!


Helmut Aßmann


e-Scooter

07. oktober 2019

Jetzt haben wir sie auch in Hildesheim, die süßen kleinen „Fahrzeuge“. Oder wie immer man diese Winkelstangen mit Elektroantrieb nennen soll. Sie stehen, wie in allen anderen Städten auch, an den unmöglichsten Plätzen herum, senken das Möblierungsniveau des öffentlichen Raumes noch einmal um eine beachtliche Stufe und bieten das beeindruckende Gegenprogramm zur Verbesserung der Klimabilanz in urbanen Großräumen. Abend für Abend muss irgendein Laster herumgurken, die Dinger einsammeln, zum Aufladen bringen und sie dann an dafür vorgesehenen Sammelplätzen wieder aufstellen. Ich gebe zu: Ich habe noch nie auf einem solchen Fortfahrgefährt gestanden. Ich weiß aber auch nicht genau, warum ich es tun sollte. Warum überhaupt jemand auf diese Dinger steigt.
Da gibt es schließlich Fahrräder, auch faltbar inzwischen und mit einer deutlich längeren Lebensdauer als ein e-Scooter. Da gibt es den ÖPNV, der sich alle Mühe gibt, den öffentlichen Raum von wildem Mobilitätsmüll zu entlasten. Da gibt es so etwas wie gesunde Beine, die jeder ungefragt als Fortbewegungsmittel unter den Hintern gestellt bekommen hat. Zur Not sogar noch die Leihfahrräder, die als Rumstehgedöns allerdings auch eine zweifelhafte Öffentlichkeitsperformance geboten haben. Das gibt es alles. Worin also, um Himmels willen, besteht der Mehrwert dieser lautlosen Halsbrecher, von den unterstellten Geschäftsaussichten der Anbieter einmal abgesehen?
Ich weiß es nicht. Ökologisch, verkehrstechnisch, gesundheitspolitisch, unter informationell autonomen Gesichtspunkten und ästhetisch sind diese Dinger das inkarnierte Gegenteil von dem, was wir in unserer Umgebung brauchen. Dass sie dennoch, scheinbar unaufhaltsam, die Städte bevölkern und zustellen, muss damit zusammenhängen, dass der gesunde Menschenverstand gerade auf breiter zivilisatorischer Front bis auf die politische Kommandeursebene hinauf einen kapitalen Aussetzer hat. Immerhin soll ja der Bundesverkehrsminister höchstselbst an der Propagierung in konstruktiver, sprich also: verheerender Weise beteiligt gewesen sein. Wie auch immer; spätestens an diesem Elektroteil wird zweierlei deutlich: Es muss erstens über kurz oder lang eine Art Sinnprüfung für Geschäftsmodelle entwickelt werden, jedenfalls dann, wenn davon das öffentliche Leben direkt betroffen ist. Und zweitens: Was immer in Zukunft mit „e-“ anfängt, sollte erst einmal misstrauisch beäugt werden. 


Helmut Aßmann


SUV - Alarm

30. september 2019

In Berlin hat es Anfang September einen Autounfall gegeben. Der Fahrer eines SUV (Sport Utility Vehicles, Stadtgeländewagen) hatte, aus welchen Gründen auch immer, jedenfalls nicht absichtlich, sein schweres Gefährt auf einen Fußweg gefahren und dabei 4 Menschen getötet. Eine für die Beteiligten furchtbare Tragödie, so wie bei allen Unfällen dieser Sorte. Interessant ist aber die Diskussion über Sinn und Unsinn von SUV’s, die wie auf Knopfdruck in allen gängigen Medien losbrach. „Wie gefährlich sind SUV’s“? titelten mehrere Blätter verlässlicherer oder unzuverlässigerer Natur. Man wundert sich, bei allem gebotenen Respekt vor journalistischem Ethos. Was für eine Frage! Natürlich sehr gefährlich! Wie alle Autos! Wie alle hoch motorisierten Autos insbesondere. Deswegen gibt es ja für jede fahrende Kiste auf deutschen Straßen eine Pflichtversicherung. Weil die Dinger eben fahrende Waffen, Lawinen oder Belagerungsmaschinen sind. Warum nun ausgerechnet SUV’s den Geruch des Gemeingefährlichen angeklebt bekommen, kann man nur verstehen, wenn man sich die aktuelle Diskussion um das Klima dazu denkt. Die großen Protzschlitten sind ja schon wegen ihres regulären Abgasverhaltens disqualifiziert, haben also ohnehin einen schwarzen Reiter auf der zivilgesellschaftlichen Ächtungskarte – und dann noch diese Nummer im Berliner Straßenverkehr. Da wächst sich ein fahrender Wichtigkeitsvertärker schon mal zu einer nahezu autonomen Aggressionsmaschine aus. Bezeichnenderweise ist die thematische Spur, die das SUV legte, auch nicht konsequent weiterverfolgt worden. Nämlich: Wie ist es denn mit den übermotorisierten kleinen Raketen, die man kaum weniger schwer beherrscht – all die Porsches, Audis, BMW’s und scheinbar bürgerliche Rennziegen mit über 180 PS? Braucht die irgendjemand gemäß eines ärztlichen Attests oder aus anderen wirklich zwingenden Gründen? Was ist mit den Motorrädern, die immer wieder mal die Kontrollmöglichkeiten ihrer ambitionierten Spaßpiloten übersteigen? Soweit ich habe sehen können, hat sich darüber kaum jemand aufgeregt. Aber so ein neiderregender, eitler, bonzenhafter SUV für höhere Einkommensklassen – der ist als Projektionsfläche einfach nicht überbietbar. Da muss man einfach Empörung schreien – so billig gibt es die kaum wieder. Aber: Mein silbern – spießiger Ford Mondeo ist länger als alle handelsüblichen SUV’s. Was mach ich jetzt bloß?


Helmut Aßmann


Deutungshoheit

23. september 2019

Die Wahlen in Brandenburg und Sachsen sind schon ein bisschen her. Es ist alles gesagt, was man zur Analyse der Ereig- und Ergebnisse sagen kann. Noch nicht von allen vielleicht, aber eines ist klar: Es war die Stunde der AfD, genau so, wie alle es erwartet und einige es erhofft hatten. Nun kommt im Oktober die Thüringen-Wahl. Mit absehbar ähnlichen Vorkommnissen. Die politischen Kommentare und Satireformate laufen zu ihrer wichtigsten Form auf: Sie erklären der Öffentlichkeit, was da geschehen ist und wer etwas demokratisch Elementares nicht verstanden hat. Ganz oben Oliver Welkes „heute show“. Da wird das Hochamt des klassischen Ossi-Bashings unverdrossen zelebriert, und als Ministrant und Sachsenspiegel gibt Olaf Schubert den authentischen und argumentationsresistenten Entlastungszeugen in dieser Posse. Ansonsten geht es munter nach dem Motto: Noch einmal richtig Öl ins Feuer gießen, damit die Strohpuppe des unverbesserlichen und unverwesterlichen AfD – Trolls ostdeutscher Prägung richtig brennt. Es ist einfach so beglückend, Recht zu haben und das von einer unangreifbaren und gut dotierten Thronsitzung hingebungsvoll zu verkünden. Irgendetwas daran behagt mir nicht. Es ist alles eine Spur zu richtig, zu eindeutig. Es ist ja weniger ein Kampf der Geister als die Hinrichtung einer Schaufensterfigur. Es riecht unangenehm nach Selbstgefälligkeit. Das macht die Beobachtungen nicht falsch, die Kommentare nicht gegenstandslos, aber die Witze sind trotzdem schal und, was das Weltanschauungsungeheuer AfD angeht, auf jeden Fall eines nicht: Dazu angetan, irgendetwas im Land zu verbessern, nüchterner zu betrachten oder sachgemäßer zu diskutieren. Auf die Frage, was denn stattdessen zu tun sei, bleibe ich allerdings auch eher karg. Wie wäre es damit, die Gattung Kommentar ein wenig umzuinterpretieren: Nicht als Behauptungsfanfare, sondern als nachdenkliche Begleitung. Weniger Vorwurf, mehr Analyse. Ist alles gerade nicht so angesagt, sicher. Vielleicht gerade deshalb?


Helmut Aßmann


Wasserart

16. september 2019

Wasser hat eine bemerkenswerte Eigenschaft: Es sucht und findet stets den natürlich schnellsten Weg zum niedrigsten Punkt der Landschaft. Das tun freilich alle Flüssigkeiten, geschwindigkeitsabhängig von ihrer Zähigkeit, aber kein anderes natürliches Element nährt dabei alles, was es berührt. Könnte das etwas miteinander zu tun haben?
Natürlich, kommt alles durch die Gravitation. Die sorgt dafür, dass bewegliche Stoffe in die Lage niedrigster potentieller Energie zu kommen versuchen. Also immer so nah wie möglich am Erdmittelpunkt. Die andere Bewegung, also die nach oben, folgt einem ganz anderen Muster. Sie braucht, um funktionieren zu können, Energie von außen. Physikalisch gesprochen: Sie nimmt potentielle Energie aus der Umgebung auf, sei es durch Pumpen, Muskelkraft, Motoren oder andere Hilfsmittel. Mit anderen Worten, sie entzieht ihrer Umgebung Kraft für den eigenen Veränderungsbedarf.
Eine schöne Veranschaulichung dafür, was Demut bedeuten könnte. Etwa so: Sich nicht dem Streben „nach oben“ anschließen und auf diesem Wege der Umgebung Energie für eigene Interessen entnehmen, sondern, umgekehrt, sich dem Weg „nach unten“ anvertrauen, und die dabei gewonnene Energie der Umgebung wieder zuführen, sie zum Leben, zum Blühen, zum Wachsen bringen. So jedenfalls kann man sich den Weg Jesu als Weg nach unten auch vorstellen: Die Umnutzung seiner zweifellos großartigen spirituellen Energien von der Stellung als Führer einer Bewegung zur restlosen Hingabe für die Welt. Jenes wäre möglich und im Sinne seiner Jüngertruppe sicher wünschenswert gewesen, dieses aber hat die Welt verwandelt. Vielleicht auch kein Zufall, dass das wichtigste Sakrament der christlichen Kirche die Taufe mit Wasser ist und dass der öffentliche Weg Jesu mit seiner eigenen Taufe am Jordan begonnen hat. Jedes fließende Wasser erinnert uns an diesen Weg, der jedem Menschen offensteht. Wieder mal so eine Gottesspur, nach denen ja immer so fieberhaft gesucht wird.


Helmut Aßmann


Ora pro nobis

11. september 2019

Aus der Nahverkehrsbahn, Montagmorgen: Ich steige in den Zug und setze mich in eines der Viererabteile des Waggons. Da hat man einfach ein bisschen mehr Platz. Und zusätzliche Anregungen durch die Menschen, denen man gegenüber sitzt oder neben die man sich platzieren kann. Diesmal also ein junger Mann von etwa 25 Jahren und hünenhafter Größe, etwas dicklich, mit einem bemerkenswert kleinen Mund und spätpubertärem Fusselflaum um die Lippen. Der Clou ist sein uni-schwarzes T – Shirt mit einem Aufdruck in frakturähnlicher Schrift: Ora pro nobis, Luzifer. Zu deutsch: Bete für uns, Luzifer. Auf dem Kopf hat er diese Mega – Mickey – Mäuse, unter denen man nicht einmal einen startenden Düsenjäger hört. Das hält mich davon ab, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, ist aber, wie ich jetzt merke, keine gute Entscheidung, vielleicht auch ein wenig feige, weil ich in ein lautes, publikumswirksames Gespräch einzutreten weder Lust noch Laune habe. So gibt es also die Möglichkeit, diese Parole ein wenig zu meditieren. „Bete für uns, Teufel“ – so etwas zieht man sich nicht zufällig an. Das ist anders als der Aufdruck irgendeiner unbekannten Universität aus Alabama oder Hawaii. Einem kurzen Blickaustausch, den wir haben, ist zu entnehmen, dass er wahrnimmt, dass ich seinen Aufdruck verstehe. Einen Moment lang befürchtet er vermutlich, dass ich es fertig- und ihn damit in Verlegenheit bringen könnte, ihn darauf anzusprechen. Aber, wie gesagt, ich unterbinde es. Abstrus ist das. Dass der Teufel jemals für jemanden gebetet haben könnte, ist unwahrscheinlich, es wäre ganz gegen seine Art. Dass der junge Mann darüber ernsthaft nachgedacht hat, wird ebenso unwahrscheinlich sein, trotz seiner verschiedenen „gothic“ – Accessoires, die an Hals und Handgelenken baumeln. Ein Bitte an den Teufel um Fürbitte als Slogan. Als shocking claim für langweilige Zeiten. Ist das jetzt eine Relevanznachweis für die Kernthemen der Religion unter 4.0 – Bedingungen? In dem Film „Die üblichen Verdächtigen“ gibt es ein bemerkenswertes Zitat: „Der größte Trick des Teufels besteht darin, dass er die Leute glauben macht, dass es ihn nicht gibt…“ Beim nächsten Mal lasse ich mich von den Kopfhörern nicht irritieren.


Helmut Aßmann


Grönland

02. september 2019

Der amerikanische Präsident hatte vor einigen Wochen die öffentlich vorgetragene Idee, den Dänen die größte Insel der Welt abzukaufen, eben Grönland. Dahinter standen sicherlich nachvollziehbare Interessen, geostrategische vielleicht. Immerhin ist bald die Arktis eisfrei, und dann wäre es durchaus hilfreich, militärische Stützpunkte auf Grönland anzusiedeln. Oder vermutete Bodenschätze. Außerdem haben die USA mit Alaska ja schon einmal einen echten territorialen Coup gelandet: 7.2 Millionen Dollar für 1.5 Millionen Quadratkilometer Wildnis mit, wie sich dann später herausstellen sollte, einem Haufen wichtiger Bodenschätze. Wie auch immer. Die Dänen waren so unfreundlich, das Ganze zunächst für einen Witz zu halten und entsprechend süffisant zu quittieren. War es aber, so las man, durchaus nicht. Der Präsident sagte, als Retourkutsche, seinen bereits vereinbarten und geplanten Staatsbesuch wieder ab. Die Dänen nahmen es nordeuropäisch-kühl und distinkt zur Kenntnis. Man denkt sich als Privatmensch so seinen undiplomatischen Teil und wundert sich ob solcher possenreißerischen Nachrichten.
Aber die Idee hat durchaus ihre Logik. Es soll Privatleute geben, die kaufen sich Inseln, Strände, Wälder oder Berge. Das ist dann ihr Eigentum, und sie können damit machen, was sie wollen – jedenfalls im Rahmen der für sie geltenden Gesetze. Jeder Grundstückseigentümer hat sein eigenes Grönland. Mit Hausrecht, Verfügungsgewalt und Selbstbestimmungsrecht, mit allem Drum und Dran. Ja, es gibt Menschen, deren Privatvermögen übersteigt das Bruttoinlandsprodukt von beispielsweise Nepal. Sagen wir also, wie es ist: Man kann die Welt kaufen, mit allem Drum und Dran. Und dann gehört einem dieses gekaufte Stück Welt. Einfach so. Die amerikanischen Indianer haben dieses System – im Norden wie im Süden – nie verstanden. Daran sind sie zugrunde gegangen. Ich fürchte allerdings: wir haben es in Wirklichkeit auch nicht verstanden. Und möglicherweise werden wir daran zugrunde gehen.


Helmut Aßmann

Kolumen-Sammlung


Kochen

13. august 2019

Wenn mich nicht alles täuscht, steht der Fernsehhimmel derzeit auf vier großen Säulen: Mord und Totschlag, Sport, Casting-Shows und: Kochen. Die beiden letzten Säulen sind neu dazugekommen, nachdem die Chat- und Talkrunden sich inhaltlich zu Katastrophenkommentierungssalons verwandelt haben und meistens eher dazu Anlass geben, nach den persönlichen Beziehungen der immergleichen Talkpersonen untereinander zu fragen. Aber das nebenbei. Der Koch-Hype, der vor einigen Jahren begonnen hat, ist inzwischen in viele verschiedene Formate auseinandergefaltet: Von wütenden Kampfspielen (Hell’s Kitchen) über erbarmungswürdige Homestories bei völlig abgesackten Dorfkneipen (Rosin’s Restaurant) bis hin zu Reportagen über den Küchenkosmos in einem 5-Sterne-Hotel oder auf einem Atlantikflieger. Auch hier: Kochsendungen gab es schon immer, einstmals geadelt als Kommunikationsplattform durch den legendären Alfred Biolek. Aber der Hype auf alles Gekochte, Gegarte und Gebackene macht einen doch nachdenklich. Welches Interesse wird da bedient? Oder erzeugt? Variante eins: Der elenden Industriefresskultur wird der Kampf angesagt, und Deutschland will seine rote Laterne als liederlichste kulinarische Kulturnation Europas endlich abgeben. Variante zwei: Dem grassierenden Verlust an Küchenkompetenz quer durch alle Schichten soll durch diese pädagogischen Impulse auf öffentlich-rechtlichen wie auf Trash-Sendern abgeholfen werden. Variante drei: Weil so ziemlich alle zeitgenössischen Themen von Belang von kaum zu bewältigender Komplexität sind, reduziert sich die Problemlage beim Kochen auf einen überschaubaren und deswegen attraktiven Horizont. Essen ist ein basaler Vorgang, da kann jeder mit. Und da sich über Geschmack bekanntlich streiten lässt, bleibt auch die Individualposition jedes Hobbykochs letztlich unangetastet. Kochen – da braucht es kein Abitur, keinen hervorstechenden Body-Mass-Index, keine Gisele Bündchen – Schönheit und keinen Sixpack-Bauch. Da braucht es nur Appetit (der kommt von selbst), eine Kochgelegenheit (die wird es immer irgendwie geben) und einen Fernseher (damit man weiß, wie es funktioniert) – fertig ist der Anteil an einem gelingenden Leben. Und dann wird gegessen, was auf dem Tisch steht, weil man es selbst gemacht hat…


Helmut Aßmann


Klatsch und Tratsch

29. Juli 2019

Bei Straßenfesten, Empfängen oder größeren Geburtstagsgesellschaften gibt es eine typische Gesprächssituation: Man trifft auf Menschen, mit denen man nicht so recht ein Thema hat oder findet, an das man anschließen könnte. Oder die einem so wenig vertraut oder angenehm sind, dass man ein neues Thema mit ihnen aufzunehmen Lust hat. Vielleicht ist auch nur die Zeit knapp, und man möchte jetzt nicht in ein „tieferes“ Gespräch einsteigen. Was auch immer: Diese Bedeutsamkeitstäler des zwischenmenschlichen Gesprächs brauchen irgendeine Füllung, damit wir uns nicht anschweigen oder peinliche Blicke vermeiden müssen. Da hilft stets: Klatsch und Tratsch. Beliebige Themensplitter, die vom Staub der Straße hergeweht werden, die Regenbogenpresse füllen, oder Allerweltsgeschichten aus der Nachbarschaft und dem allfälligen kommunalpolitischen Irrsinn. Es gibt ja immer soviel Blödheit in der Welt, dass sie beim besten Willen nicht auserzählt werden kann.
Nun warnt das Evangelium davor, sich solch billigem Gerede hinzugeben, weil am Ende aller Dinge Rechenschaft abzulegen sei über alles, was aus unseren Mündern gegangen ist. Besser also, als christliche Tugend, kein Meister des small talk zu werden und eher die Haltung des bedeutsamen Schweigers einzunehmen, in den viel hinein-, aber aus dem wenig hinausgeht. Dagegen kann man kaum etwas sagen. Trotzdem eine Frage, die mich immer mal wieder beschäftigt. Was haben Jesus und seine Leute den lieben langen Tag eigentlich besprochen, wenn sie miteinander nicht gebetet, geschwiegen oder feierliche Dinge erörtert haben? Mindestens beim Essen, Waschen und beim Verarbeiten irgendwelcher Ereignisse, werden sie ja nicht nur ergriffen gelauscht oder vornehme Beobachtungen ausgetauscht haben. Die Jungs waren immerhin in den 20ern – das war vermutlich auch damals kein Alter für Sprüche, die ins Poesiealbum der Weltgeschichte sollen.
Kurzum, ich möchte ein Plädoyer für Klatsch und Tratsch halten. Damit es auch einen thematischen Mittwochnachmittag gibt, nicht nur Sonntagsaufzüge. Bedeutungsentspannung sozusagen. Man würde ansonsten den Ernst als Ernst auch nicht mehr erkennen, ehren und – fürchten können.


Helmut Aßmann


Hundstage

23. Juli 2019

Unlängst habe ich ein paar Tage in Wien verbracht, urlaubshalber. Tolle Stadt. Es hätte aber auch München, Mailand oder Triest sein können, was die Hunde angeht. Kleine Hunde im wesentlichen. Uns (ich war mit meiner Frau unterwegs) kam eine Radfahrerin entgegen, die ihren – besonders kleinen – Hund in den Ausschnitt gesteckt und ihren Liebling zwischen ihre Brüste geklemmt hatte. Da fühlte er sich wahrscheinlich ziemlich wohl, sofern es sich denn um einen Rüden gehandelt hat. Gibt es bei einer Risthöhe von unter 10 cm eigentlich noch den Ausdruck Rüde? Ich weiß es nicht, bin da unerfahren. Naja, einerlei. Jedenfalls war dieser Anblick das Spitzenerlebnis in Sachen Hundeleben seit langem. Denn seit langem wundere ich mich über die wachsende Disproportion zwischen der Größe der Hundehalter(innen) und ihrer Hunde, eher Hündchen. Bei diesen kleinen Lieblingen muss man stets aufpassen, dass sie nicht durch schiere Unachtsamkeit totgetreten werden, da es dazu keines besonderen Kraftaufwandes bedarf und deren Widerstandsvermögen nicht eben goliathesk genannt zu werden verdient.
Ich war irrtümlicherweise der Überzeugung, dass die kleinen Hunde vorwiegend älteren Herrschaften als Kommunikationsgegenüber dienten, wenn die Umgebung an Kindern, Enkeln, Verwandten und Nachbarn überschaubarer, aber der Zuwendungsbedarf keineswegs kleiner wird. Nun muss ich feststellen, dass diese Bonsai -Wölfe sich auf die Haushalte jüngerer Generationen ausbreiten und dort zwischen Laptop und smarter Wohntechnik heimisch werden. Bis dahin, dass das vagante Volk von Studierenden sich diese lebendigen Wohnaccessoires zulegt, um nicht nur mit dem Handy sprechen zu müssen – irgendwie so etwas muss im Hintergrund stecken. Mit der hinterhältigen Achterlast, dass die Universitäten deswegen auch Hundesitter oder Snoozle – Räume für erschöpfte Zwergpinscher vorhalten müssen.
Ich gebe zu: Ich bin ein Katzenmensch. Aber ich würde mir nie eine Katze aus Zuneigungsgründen in die Hose stecken. Ehrlich nicht.


Helmut Aßmann


2060

17. Juli 2019

Nun haben wir es schwarz auf weiß: Im Jahre des Herrn 2060 haben die Kirchen ihre Mitgliedszahlen halbiert und ihre Finanzkraft natürlich noch weiter reduziert. Auf der EKD -Startseite im Internet findet man dazu folgenden Teaser: „Zum ersten Mal liegt der evangelischen Kirche eine koordinierte Mitglieder- und Kirchensteuervorausberechnung vor, die alle Landeskirchen einbezieht. Wissenschaftlicher Leiter der Studie „Kirche im Umbruch – Projektion 2060“ ist Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen vom Freiburger Forschungszentrum Generationenverträge. Im Interview fasst er die wichtigsten Ergebnisse zusammen und erklärt, welche Chancen sich daraus für die evangelische Kirche ergeben.“
Welche Chancen sind das? Nun dazu Herr Prof. Raffelhüschen: „Ich hoffe, dass unsere Projektion der evangelischen Kirche hilft, differenziert auf die Gründe des Mitgliederrückgangs zu blicken. Wenn mehr als die Hälfte des Rückgangs auf die zurückgehende Bindungskraft der Institution verweist, ist für den Mitgliederverlust nicht allein der zweifellos unumkehrbare demografische Wandel verantwortlich. In diesem Sinn ermutige ich dazu, unsere Ergebnisse nicht als Untergangsprophetie zu lesen, sondern nach Zusammenhängen zu suchen, auf die Einfluss genommen werden kann. Hier liegt eine echte Generationenaufgabe. Und das meine ich durchaus auch positiv. Denn unsere Analyse macht deutlich, dass die Kirche gerade in den kommenden zwei Jahrzehnten weiterhin über Ressourcen zur Umgestaltung verfügt“.

Aha. Eine gute Aussicht. Wir verfügen „weiterhin über Ressourcen zur Umgestaltung“. Also, haut rein! Bis 2060 sind es nur noch 41 Jahre. 

Kurze Rückblende: vor 41 Jahren, also 1978, gab es noch die Mauer, die UdSSR, kein Smartphone, keine islamische Revolution, dafür aber Raucherlaubnis in allen Gaststätten und TriTop als „Fruchtsaft“getränk. Und nahezu 90% Kirchenmitgliedschaft in Westdeutschland. Donald Trump war damals 33 Jahre alt. Warum erzähle ich das? Naja, warum kommen solche Zahlen zum jetzigen Zeitpunkt mit großem Aplomb in die Öffentlichkeit? Weiß ich nicht. Weiß ich beides nicht.

Manche Dinge muss man auch nicht wissen…


Helmut Aßmann


Konkretionsfalle

01. Juli 2019

Manchmal sind Fragen genauso hilflos wie die darauf gegebenen Antworten. Ich meine jetzt nicht das hingestammelte Grummeln als Antwort auf die Frage: „Schläfst du schon?“. Das gehört theoretisch in dieselbe Kategorie, ist aber weniger aufsehenerregend. Interessant wird es vielmehr bei den jetzt ins Kraut schießenden Zukunftsutopien oder -dystopien, je nach dem, ob man die Gläser gerne halb voll oder halb leer sieht. Fragen wie: Wie wollen wir 2030 leben? Oder, in kirchlichen Zusammenhängen äußerst frequentiert: Wie arbeitet ein Pfarramt 2060? Alles sehr naheliegende und lohnende Fragen, weil allenthalben sichtbar wird, dass unser bisheriger Lebensstil wegen zahlreicher Gründe nicht fortgesetzt werden kann. Von der Klimagerechtigkeit über die Digitalisierung bis zur Massenverblödung der nachwachsenden Generationen mag man je nach Gusto das seinige ins argumentative Feld führen. Das Dumme ist, dass alle Antworten die Vagheit dieser Frage teilen. Es weiß schließlich keiner, was in 20 Jahren geschieht. Außer natürlich die Berufsapokalyptiker, für die der Untergang der Welt in naher Zukunft ins Haus steht, sei es wegen der Wiederkunft Christi oder des beschleunigten Entropietodes des Universums. Wenn nun jemand darauf drängt, jetzt endlich einmal konkret zu werden und Zahlen, Ross und Reiter zu nennen, dann hat er den Applaus stets auf seiner Seite. Keiner kann schließlich diese dauernden Komplexitätsbeteuerungen ohne Nebenwirkungen verdauen. Aber, so schwer es einzusehen und anzuerkennen ist, jede konkrete Antwort auf eine überkomplexe Frage ist entweder dummes Zeug oder Populismus oder, meistens, beides. Und jedes praktische Handlungsszenario wirkt angesichts der gewaltigen zukünftigen Herausforderungen wie ein lächerliches Pfeifen im Wald. Die Grenzwertakrobatik der Bundesrepublik wird das Klimaproblem ebensowenig lösen wie die Mietpreisbremse den Profitzwang des Immobilienmarktes zu liquidieren imstande ist.

Dieses Dilemma teilt die Politik mit der Religion. Wann immer jemand erläutern will, wie das mit dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit nun mal praktisch aussieht, hat er meistens die Zweifler oder Lacher gegen sich. 

Deshalb ist Jesus in diese Falle auch nicht hineingelaufen. 


Helmut Aßmann


Empörungsdemokratie

24. Juni 2019

Diese Bezeichnung wird seit einiger Zeit gern für den Wandel im politischen Prozess der Gegenwart benutzt. Er bezieht sich auf die technisch neue Möglichkeit, ungefiltert, ungefährdet und unbeobachtet die eigene Meinung „ins Netz“ zu geben und dort Wellen der Zustimmung, Entrüstung oder Befremdung auszulösen. Diese Befindlichkeitswellen schwappen auf den Informationsozeanen von Küste zu Küste und verursachen dort wahlweise gar nichts oder Sturmfluten mit ansehnlichem Zerstörungspotential. Gern heißt es dann, „das Netz“ würde reagieren.
„Das Netz“. Das ist eine Kollektivbezeichnung, die ihre Risiken und Nebenwirkungen mit ähnlichen Titeln wie „Volk“, „Nation“, „Gesellschaft“ oder „Staat“ teilt. Es ist – vielleicht – nur noch ungreif- und missbrauchbarer. Bekanntlich ist das oder sind, genauer gesagt: die, die sich „im Netz“ äußern, ja nicht nur von menschlicher Natur, sondern auch, siehe neuere Enthüllungen über die Internetpolitik der AfD, von technischer Art. Für einen analogen Menschen ist es gar nicht so einfach, mit diesen ungeheuren Zustimmungs-, Empörungs- oder Followerzahlen irgendetwas Substantielles anzufangen. Welche tatsächliche menschliche Qualität dahinter- oder darinsteckt, ist mit handelsüblichen Verständigungsmitteln oft nicht auszumachen.
Was erkennbarerweise vor- oder obenauf liegt, ist zumeist die Empörung. Empörung über AKK, über Greta Thumberg, über die AfD, über Heidi Klum oder die EU. Irgendwas ist immer. Wie aber soll man auf Empörung reagieren? Was soll einer tun, wenn eine ungenießbare Mixtur aus Fakten, Empfindungen, Neurosen und Verschwörungstheorien als Stimmung auf die Bühne kommen und alles, was Differenzierung, Kontextualisierung, Diskurs und Abwägung wie intellektualistischen Firlefanz herunterfegen? Manche sagen, auf einen groben Klotz gehöre dann eben ein grober Keil. Wirklich? Haust Du mir ans Knie, hau ich dir ans Knie?

Mit Empörung lässt sich Politik machen. Das stimmt. Aber mit dem, was der Stadt Bestes sein sollte, hat das (meistens) wenig zu tun


Helmut Aßmann


Rezo + 70

05. Juni 2019

Ich gebe zu, vorher von diesem Mann weder etwas gehört noch gesehen, gelesen noch gesteckt bekommen zu haben. Ich bewege mich eben auch in meiner Blase, wie man derzeit durchaus zu Recht formuliert. Gewiss, ich lese drei Zeitungen, schaue darüberhinaus auch nahezu täglich Nachrichten aus dem öffentlich-rechtlichen Bereich und kenne, das bringt der Beruf so mit sich, auch den einen oder anderen Menschen aus der Lokal- oder Landespolitik. Youtube gehört nicht zu meinen regelmäßigen Informationsquellen.
Dann schaue ich mir größere Teile dieses derzeit so gehypten „Zerstörungs-Videos“ von Herrn Rezo, bürgerlicher Vorname Max, Nachname aus guten Gründen unbekannt, an. Ich kann es mir nicht bis zum Ende anschauen, ehrlich gesagt. Nicht weil alles darin falsch wäre, oder weil ich die blaue Tolle nicht mag, oder weil ich notorischer, ideologisch hartleibiger CDU – Wähler bin. Trifft alles nicht zu. Und, Kompliment: wirklich ein eloquentes Stück Kommunikation auf der Höhe der Zeit.
Aber ich komme mit drei Dingen nicht klar.
Erstens: Warum diese Geheimnistuerei mit dem Namen und der Anonymität, so dass man nicht persönlich darauf antworten oder gar in einen Diskurs treten könnte? Solche Generalabrechnungen mit der wohlfeilen Attitüde der Empörung sind schnell lanciert und rasch geliked.
Zweitens: Was ist mit dem Gegenentwurf? Einem irgendwie realistischen Gegenentwurf. Oder wenigstens dem erkennbaren Bemühen, dafür etwas am eigenen Leben zu ändern, beispielhaft vorzugeben, irgendwas? Ich handele mir den Vorwurf ein, dass jeder Widerstand mit einer Empörung beginnen muss. Einverstanden. Ich erwidere: Wenn es aber damit sein Bewenden hat, hilft er auch nichts. Dann ist er eitel.
Drittens: Die meisten politisch Verantwortlichen, die ich kenne, werden von dieser Anmache nicht getroffen. Dass es verantwortungslose Menschen in den politischen Eliten gibt, in Konzernleitungen und Kommandoständen, ist unbestritten. Aber zu behaupten oder zu unterstellen, dass „die CDU“, die „SPD“, die „Deutschen“ oder die „Ü50er“ allesamt so seien, ist infam.

Man kann in 54 Minuten allerhand an-, aber leider nur wenig aufrichten. Ein Klick im Internet ist leichter getätigt als ein Kreuz auf den Wahlzettel gemalt. Ich habe früher mal, ganz früher, zu Silvester bei x-beliebigen, mir unbekannten Personen Kanonenschläge in den Briefkasten gesteckt. Hat Spaß gemacht damals. Ich musste den Bruch ja nicht reparieren…

Nein, das halte für keinen guten demokratischen Beitrag. Im Gegenteil.


Helmut Aßmann


Der Himmel ist leer

27. Mai 2019

Alle Jahre wieder – der SPIEGEL besingt das Ende der Kirche. Ostern und Weihnachten kommt die Redaktion mit großer Wiederholungsfreude auf die großen Themen des Glaubens. Diesmal geht es aber nicht mehr um die Kirche – die ist sowieso schon verloren. Jetzt geht es an den Glauben selbst, natürlich den christlichen. Die anderen haben die Redakteure nicht wirklich auf dem Schirm. Und auch die außerdeutschen und außereuropäischen Christentümer tauchen eigentlich nur als Kulturereignisse auf. Es werden interessante Extreme präsentiert: Eine atheistische Pastorin in Toronto, eine gleichgesinnte Kollegin aus Bern, Tendenzen, in denen das Christentum sich in eine philosophische Weltanschauung auflöst. Nichts wirklich Unerhörtes. So etwas hat es alle Jahrhunderte wieder in der Kirchengeschichte gegeben.
Bemerkenswert ist vor allem die Naivität der Fragen, mit denen hier Glaubensreinheit und –intensität „gemessen“ wird. Glauben Sie an Wunder? Glaubens Sie, dass Gott dreifaltig ist? Glaubens Sie, dass Jesus Gott und Mensch in einer Person war? Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod? Dieses Kaliber etwa. Darauf kann man nun Ja oder Nein antworten. Und heraus kommt dann beispielsweise: 40% der Befragten glauben (noch) an ein Leben nach dem Tod. Tendenz weiter sinkend.
Herrlich. 

Eine solche SPIEGEL - Umfrage zur Zeiten des Johannes Kepler, also sagen wir Anfang 16. Jahrhundert, hätte wahrscheinlich ergeben, dass die Erde eine Scheibe ist, dass selbstverständlich Hexen allüberall ihr Unwesen treiben, dass die Sterne des Himmels direkte Wirkungen auf die Menschen ausüben und dass im Ozean ein Tier namens Leviathan sein Unwesen treibt. Kepler mit seinen astronomischen Gesetzen wäre – statistisch gesehen – ein armer, verblendeter Tropf gewesen.

Nun ja, lassen wir dem Herren Pieper (das ist der Name des Autors) seinen leeren Himmel. Wir werden ja sehen …

Helmut Aßmann


Ewigkeit – Notre Dame IV

20. Mai 2019

Als die Brücke von Mostar 1993 im Bosnienkrieg am 9.11. zerstört wurde, wurde das als ein grausiges Zeichen verstanden: Die seit dem 16. Jahrhundert bestehende Brücke verband den muslimischen mit dem kroatischen Teil der Stadt und – irgendwie plausibel und hoch aufgeladen – die Welt des Christentums mit der des Islam. Die kroatische Schriftstellerin und Journalistin Slavenka Drakuliç, bekannt zumeist wegen ihrer Berichte über Kriegsverbrechen auf dem Balkan, schrieb damals einen Aufsatz (diesen Hinweis verdanke ich der Ausgabe des SPIEGEL vom 20.4.2019, S.108) darüber, dass der Anblick der zerstörten Brücke sie mehr berührt und tiefer getroffen habe als beispielsweise ein Bild mit einer durch Kriegshandlungen getöteten Frau. Sie notiert: „Das Menschen sterben, erwarten wir. Wir wissen alle, dass unser Leben endet. Die Zerstörung eines Monumentes der Zivilisation ist etwas anderes. Die Brücke, in all ihrer Schönheit und Anmut, wurde gebaut, um uns zu überleben; sie stand für den Versuch, die Ewigkeit zu fassen … Eine tote Frau ist eine von uns – aber die Brücke, das sind wir alle, für immer“.
Eine wunderbare Beobachtung. Sie bezeichnet den Punkt, an dem jeder Individualismus seine natürliche Grenze findet. Wenn eine künstlerische, ingenieurwissenschaftliche oder intellektuelle Leistung nicht nur den Ertrag einer Einzelanstrengung, sondern das Zeichen einer gemeinschaftlichen, ja einer menschheitlichen Befindlichkeit darstellt, dann ist deren Verlust oder Zerstörung ein Schaden für alle. Es gibt jene Ideen, Atmosphären und Kräfte, die sich in Bauwerken und Artefakten zu einer Kostbarkeit verdichten, an die ein einzelnes Menschenleben nicht heranreicht. So sehr es richtig ist, dass der unendliche Wert der einzelnen Menschenseele zur Glaubenssubstanz  unserer Religion gehört, so sehr gilt doch auch, dass dies eine Aussage über Gott ist. Gott braucht weder Notre Dame noch die Brücke von Mostar. Aber wir brauchen das.

Helmut Aßmann


Europa – Notre Dame III

13. Mai 2019

Nachdem der Dachstuhl von Notre Dame eingestürzt war, kam es zu diesem unglaublichen, ikonographischen Bild: hinter dem Haufen verkohlter Balken und Sparren steht der unzerstört gebliebene Hochaltar und auf ihm leuchtend golden: das Kreuz. Ein Karfreitagsbild, wie man es sich hinreißender und passgenauer nicht hätte ausmalen können. Da steht das Kreuz inmitten von Zerstörung und Fassungslosigkeit und bezeugt das, was Christen seit Jesu Auferstehung immer bezeugt und gesagt haben: Das Kreuz ist der Durchgang ins ewige Reich Gottes. In der Niederlage Jesu entsteht die Kraft Christi.
Um dieses Zeugnis herum sind die Kirchen gebaut worden. Hunderttausende von Kirchen. Millionen von Kapellen, Wegkreuzen, Herrgottswinkeln und Wallfahrtsstätten. Um dieses Zeichen herum, das der römische Kaiser Konstantin 312 vor der Schlacht auf der Milvischen Brücke auf die Schilder seiner Soldaten hat malen lassen, ist Europa entstanden, diese seltsame Mischung aus jüdischem Glauben, römischem Recht und griechischer Philosophie.
Lesen wir es doch einmal direkt: Notre Dames, eine der großen europäischen Kathedralen, hat ihr Dach verloren. Es ist abgebrannt wie manche der großen europäischen Dacheinrichtungen gerade in einem bedenklichen Zustand anzutreffen sind. Aber das Herz, die Kraftquelle, das vitale Zentrum ist nicht das Dach, sondern dieses Kreuz, das da unversehrt in dem Schutthaufen steht. Die oftmals so verquälte Suche nach einer europäischen Idee nimmt in ihrer Anstrengung nicht mehr wahr, dass diese Idee als begründende und orientierende Größe doch längst existiert. Sie wartet nur darauf, wieder gelesen zu werden.
Im Kreuz verwandelt kommen die beiden Bewegungen zusammen: Der Gott, der auf der Suche nach dem Menschen ist, und der Mensch, der auf der Suche nach Gott ist. Beide müssen sie sich verwandeln, in beiden muss etwas sterben. Ohne geht es nicht. Aber: Das Kreuz ist golden.

Helmut Aßmann


Menschen statt Steine? – Notre Dame II

06. Mai 2019

Es gibt viele gotische Kirchen in Europa. Auch viele große Kirchen. Selbst in Frankreich ist das so: Chartres, Reims, Strasbourg, usw. Viele Welterbestätten dabei. Erstaunlicherweise lässt sich für die Erhaltung von Türmen, Glocken und Orgeln jede Menge Geld akquirieren, auch von Menschen, die mit dem Leben der Gemeinde und der verfasstenKirche wenig anfangen können. 500.000 € für eine große Glocke sind schneller beschafft als 30.000 € für eine dringend benötigte Diakonenstelle.
Oft ist das ein Grund für Empörung. Wir brauchen doch Menschen, nicht Steine! Die Kirche ist schließlich kein Tempel aus Granitblöcken oder Sandsteinquadern, sondern der lebendige Leib Christi. Das teht sogar ausdrücklich in der Bibel. Demgegenüber sind die übermenschlich großen Dome und Kathedralen stets von dem Verdacht umweht, hier wollte jemand nicht Gott oder seinen Engeln, sondern möglicherweise sich selbst ein Denkmal setzen. Wäre ja nicht das erste Mal, dass Kirchenfürsten mehr Fürsten als kirchlich sind. Aus diesem Geist inspirieren sich die großen und kleinen Bilderstürmer aller Zeiten. Ihre Parole: Weg mit Zierat und Pomp, weg mit Gigantomanie und Symbolpolitik – hin ins Konkrete, ins menschliche Maß und die kleine Einheit, in der Gott sich in die Dimensionen unserer Existenz begibt!
Nur: Welchen Ausdruck geben wir der Größe Gottes, seiner Unermesslichkeit, seinem Abgrund, den keine konkrete Beschreibung abzubilden oder aufzunehmen vermag? Wie machen wir anschaulich, dass Gott ein Lebensraum ist, ein Energiefeld, ein Mysterium im Ursprung aller Dinge? Welche realen, körperlichen Wege gehen wir, um zur Anbetung zu kommen, und an welcher Stelle lässt sich erkennen, wie verschwenderisch die Gegenwart des liebenden Gottes ist, seine Schöpferkraft und sein unversiegbarer Wille zum Leben?

In einer Friedhofskapelle mit Elektrospeicherheizung oder dem Gemeindehaus mit Stahlrohrmöbelidyll? Nein, Gotteshäuser gibt es um Gottes willen – darin liegt die herrliche Versuchung, sie nicht im menschlichen Maß zu belassen.

Helmut Aßmann


Whataboutism – Notre Dame I

29. april 2019

Montag, den 15.4., brannte die Hauptkirche von Paris lichterloh. Eine kleine Schockstarre in den Medien, eine Aufmerksamkeit besonderer Art, fast der Fassungslosigkeit zu vergleichen, die sich am 11.9.2001 über die Welt ausbreitete. Man mochte es einfach nicht glauben, dass diese Ikone Frankreichs, Europas, ja eben auch irgendwie der Menschheit so unangekündigt dem Feuer zum Opfer fallen könnte.
Ist sie ja zum Glück auch nicht. Binnen einer Woche gab es astronomische Spendenzusagen in einer Höhe von 1 Milliarde Euro, aus den Privatschatullen unermesslich reicher Franzosen, die mal eben 100 Millionen Euro für diesen guten Zweck bereitzustellen nicht nur willens, sondern vor allem: in der Lage waren.
Prompt hagelte es Proteste. Für so etwas seien plötzlich Unsummen Geldes da, aber nicht für die sozialpolitischen Engpässe, für Flüchtlingslager in der Türkei, Sri Lanka oder Jordanien, für die Bekämpfung des Klimawandels usw. Man hört schier die Jünger Jesu maulen, als sie mitbekommen, dass die „große Sünderin“ sündhaft teures Salböl auf die Füße des Meisters gießt: „Wozu diese Vergeudung? Es hätte teuer verkauft und das Geld den Armen gegeben werden können…“ (Mt.26,8f.). Das stimmt, man hätte es anders machen können. Es gibt immer einen besseren Zweck, immer noch andere Baustellen, immer mehr Unglück auf der Welt als Kräfte es zu lindern. Immer kann jemand fragen; „What about this and that and …“. Diese Fragen sind wohlfeil und setzen immer den ins Unrecht, der sich engagiert – es gäbe soviel wichtigere Dinge zu erledigen. Whataboutism in bester Form.

Jesus antwortet den Jüngern interessanterweise so: „Arme habt ihr allezeit bei euch, aber mich nicht.“ Irgendwie macht dieser Satz auch bei Notre Dame Sinn, nicht wahr?

Helmut Aßmann


Jever

08. april 2019

„Wenn Du das Meer gemacht hättest – hättest Du es zahm gemacht? Und wenn Du den Wind gemacht hättest – hättest Du ihn lau gemacht? Und wenn Du ein Bier gemacht hättest – wie hättest Du das gemacht?“ So lautet der Text des Werbespots für Jever – Bier, nach wie vor auf Sendung, seit 2015. Zu sehen ist die aufgewühlte Nordsee mit einem krängenden Fischerboot, eine kühle Strandatmosphäre mit ordentlich Wind in den Gräsern, einem kleinen Lagerfeuer und dreitagebärtigen Männern mit aufgeschlagenem Kragen. Wie lautet die unterstellte Antwort? Nein, natürlich hätten wir das Meer nicht zahm und den Wind nicht lau und das Bier nicht schal und den Sex nicht langweilig, kurz, das Spiel des Lebens nicht risikolos gemacht. Und ich vermute, diese Antwort erfolgt nicht nur aus der Zielgruppe der Kaltduscher und Januarangriller. Menschen, Männer wie Frauen, verkommen ohne Herausforderungen, die gefährlich sind und in denen sie auch wirklich scheitern können.
Aber noch eine weitere Frage an dieser Stelle: „Wenn Du einem Gott begegnen wolltest – sollte der berechenbar sein?“ Merkwürdig, in Sachen Religion und Glauben ist Wildheit und Hochtemperierung so etwas wie ein NoGo. Moderne Götter haben freundlich, zugänglich, nett, diversitätstolerant und unprätentiös zu sein, andernfalls ziehen sie den Verdacht von religiöser Unerzogenheit auf sich. Ein Blick in die spirituelle Ratgeberliteratur und ihre Leitthemen und das Hineinhören in die üblichen Predigtformate legen diese Feststellung wenigstens nahe.
Wenn die biblischen Texte nicht täuschen, ist das aber eine Fehleinschätzung. Der Gott vom Sinai ist ein anderes Kaliber. Von Anfang an. Mal pedantisch und zahlenversessen, mal zornig und willkürlich, romantisch geradezu und von unbezähmbarer Leidenschaft. Ja, und ungerecht und prinzipienlos auch. Alle begrífflichen Zähmungsversuche seit zweitausend Jahren haben ihn nicht gefügig gemacht. Und sein Sohn, der als Jesus von Nazareth in die Menschheitsgeschichte eingegangen ist? Besser, moderner, zahmer? Wenn man ehrlich ist und ehrlich liest: Nein. 

Letzte Frage: Wenn Du einem Sohn Gottes begegnen wolltest - sollte der dir zu Willen sein?

Helmut Aßmann


Liz

29. märz 2019

Unlängst hatte ich mit einer Ärztin zu tun, die auf den lieblichen Vornamen „Liz“ hörte. Ihre Eltern mochten offenkundig Liz Taylor gern. Das Fachgebiet hatte im weitesten Sinn etwas mit Chirurgie zu tun, spielt keine Rolle. Als ich sie das erste Mal sah, dachte ich spontan, dass dieser Vorname ein Irrtum sein müsse. Sie sah aus wie Elfriede oder Irmtraud. Edelgard wäre auch noch gegangen. Aber Liz, nein, Liz war vollkommen deplatziert. Gesicht, Figur, Ausstrahlung, Stimme, Aura – alles keine Liz. Nun frag ich mich natürlich, was um alles in der Welt denn eine Edelgard im Unterschied zu jemandem ausmacht, die Liz oder meinethalben auch Tina oder Vivi heißt. Bei Liz fällt mir noch etwas ein: Ich habe die Filmszene vor Augen, als Julius Caesar, gespielt von Rex Harrison, in „Kleopatra“ (1963) den ihm zugestellten Teppich mit dem Fuß ausrollt und dabei die wunderschöne Kleopatra, Pharaonin von Ägypten, gespielt von Elizabeth Taylor zutage fördert. So sieht eine Liz aus. Das kann ich also biographisch festmachen. Notabene: dieselben Verwicklungen ergeben sich natürlich auch bei Männern.  Das nur, damit hier kein Diskriminierungsverdacht aufkommt.
Namen sind Lebensaufgaben. Sie sind alles andere als die Beschriftung einer Lebenskurve, vielmehr haben sie Macht und Wirkung und Funktion. Je ausgeklügelter und spezialisierter die Namensgebung wird, um so kurioser prallen gelegentlich Name und Wirklichkeit aufeinander. Eric, Fynn, Leon oder Liam – wie soll man diesen namentlichen Vorgaben in der Lebenswirklichkeit entsprechen? Die Phantasien der Eltern über das Wesen und Werden ihrer Kinder saugen sich in den ausgesuchten Namen für die Kleinen fest, und die benamsten Kinder müssen aus dieser unerbetenen Namenslast dann ein eigenes Leben machen. Manche müssen gegen ihren eigenen Namen leben, andere erhalten mit ihm eine Verpflichtung auferlegt (ich habe einmal einen Jungen getauft, der den Namen Julius Alexander trug  - fehlte nur noch Napoleon als Drittname), wieder andere können ihren Namen als Geschenk oder gar als Verheißung annehmen. Ich beispielsweise heiße nach dem im Krieg verschollenen Bruder meiner Mutter, lebe sozusagen zwei Leben.
Liz übrigens ist die Kurzformel für Elisabeth, stammt aus dem Hebräischen und bedeutet soviel wie „Mein Gott schwört“ – auch ein Lebensprogramm.

Helmut Aßmann


Zentrallage

18. märz 2019

Im Mittelpunkt unseres Lebens stehen wir. Nur wir nehmen diese Welt so wahr, wie wir sie wahrnehmen. Wir haben gar keinen Zugang zu anderen Dingen außerhalb der Beziehung, die wir zu ihnen einnehmen. Natürlich hat dabei jeder seine eigene Perspektive. Die ist ebenso natürlich anders als die aller anderen. Raum und Zeit, Tod und Leben, Schönheit und Leidenschaft bestimmen und gestalten wir nach den Regeln, die wir kennengelernt haben und kennen – andere haben wir gar nicht. Dabei sind gewiss die anderen Menschen keine black boxes, die völlig anders ticken als wir selbst. Wir können einander ja verstehen. Dennoch, wir sind unvertretbar in unserer Position. In den manchmal kleinen, aber feinen Differenzen zwischen uns liegt Würze und Reife, Lust und Last menschlichen Lebens. Darum ist es so wichtig, sich mit der eigenen Lebensform und -gestalt auseinanderzusetzen, seine Grenzen und Gaben zu kennen und ein gewisses psychosomatisches Feintuning in die eigene Lebensführung einzupflegen. Andernfalls geht zuviel Energie in Nachbesserungen und Umsteuerungen verloren, weil man mit sich selbst nicht gut abgestimmt ist.
Allerdings gibt es einen vertrackten Irrtum, der sich bei dieser notwendigen Arbeit an der Selbstpositionierung allzu leicht einschleicht und durchaus weitreichende Folgen zeitigt. Dieser Irrtum lautet: Weil wir im Mittelpunkt unseres Lebens stehen, darum geht es auch um uns. Das ist nämlich nicht der Fall. Wir sind zwar der Mittelpunkt unseres Lebens, aber nicht das Geheimnis der Welt. An dem zeiträumlichen Vollzugsort unseres Daseins kommt es auf uns an, aber wir sind nicht das Ganze. Die Welt hat nicht uns zu dienen, sondern wir der Welt. Und deren Geheimnis, noch einmal, ist nicht unser Wohlergehen, nicht unser Erfolg, nicht einmal unsere erheischte oder erstrebte Vollkommenheit. Dass die Welt dafür geschaffen sei, uns zum Glück zu verhelfen, ist eine der nachhaltigsten und schwerwiegendsten Katastrophenüberzeugungen, denen sich unser konsumorientiertes Leben verschrieben hat. Diese missverstandene Zentrallage unseres Daseins wieder zu räumen und eine Leerstelle zu schaffen, ist vielleicht die wichtigste Aufgabe der Religion unter den heutigen Bedingungen. Jeder Religion. Wir werden sehen, wie sie sich darin bewähren und zueinander verhalten.

Helmut Aßmann


Dunkelziffer

09. märz 2019

Ich frage mich oft, was es mit dem Hinweis auf die sogenannten Dunkelziffern bei irgendwelchen ungedeihlichen gesellschaftlichen Zuständen oder Bedrohungslagen genau auf sich hat. Die deutsche Hauptstelle für Suchtfragen stellt beispielsweise fest, dass sich 1.5 bis 1.8 Millionen alkoholerkrankte Menschen in ihrem Beratungssystem befinden. Das kann man zählen. Daten, Fakten. Uli Borowka, ehemaliger Bundesliga-Profi von Werder Bremen, wartet in seinen öffentlichen Auftritten als Warner vor dem Alkohol mit einer Dunkelziffer von 8 Millionen Abhängigen auf, also gut 10 % der real existierenden Bevölkerung. Borowka hat durch das Saufen seine ganzen Besitztümer und Beziehungsgeflechte verloren, weiß also, wovon er redet. Was aber sagt diese Dunkelziffer aus, und wo kommt sie her? Woher nimmt der Mann diese Zahlen? Schätzwerte, Erfahrungsbestände, Hochrechnungen? Keine Ahnung. Die Dunkelziffer ist so eine Art ferner, düsterer Horizont der – natürlich kleineren – Wirklichkeit, die man mit Zahlen und Fakten erfassen kann. Was man mit Daten indes belegen kann, ist demgemäß nur ein Bruchteil dessen, was es gibt. So ähnlich wie gemessene und gefühlte Temperaturen. Oder auch bei den Kriminalstatistiken, die eigentlich das beruhigende Gefühl innerer Sicherheit vermitteln, was die erfassten Tatsachen angeht, die aber das vorhandene Unsicherheitsgefühl eher noch ankurbeln. Dunkelziffern kommen mit der beschwörenden Geste daher, dass alles noch viel schlimmer ist als es am Tage liegt. Nicht nur das, sondern auch, dass die, die das abstreiten, in den Verdacht geraten, etwas schönreden oder gar nicht wahrhaben zu wollen. Dunkelziffern stellen zudem immer fest, dass alle unternommenen Reaktionen auf den in Rede stehenden Übelstand viel zu wenig, unambitioniert, unentschlossen, kurz, unzureichend sind. Belege gibt es dafür natürlich keine. Das ist ja das Erfolgsgeheimnis der Dunkelziffer. Es gibt lediglich eine unbezähmbare Lust an der unterstellten Negativität, die sich darin beschränkt, Schieflagen zu brandmarken und Schuldige an anderer als der eigenen Position auszumachen. Dass das in Einzelfällen berechtigt ist, steht außer Frage. Aber wer unbedacht mit Dunkelziffern hantiert, geht einen Teufelspakt ein: Er redet eine Bedrohung herauf, gegen die man immer machtlos ist. Der Teufel liebt solche Unbestimmtheit. Da schießt das Böse flott ins Kraut.

Helmut Aßmann


Greta und Henryk

20. februar 2019

Greta Thumberg, das schwedische Mädchen mit den Zöpfen und dem strengen Gesichtsausdruck, ist auf dem besten Weg, eine Ikone des Kampfes gegen den Klimawandel zu werden. Dazu der bissige Kommentar des um keine Polemik verlegenen Henryk M. Broder angelegentlich einer Rede vor der AfD – Bundestagsfaktion zum Holocaust Gedenktag am 21.1.: „Ich glaube nicht einmal daran, dass es einen Klimawandel gibt, weil es noch keinen Tag in der Geschichte gegeben hat, an dem sich das Klima nicht gewandelt hätte. Klimawandel ist so neu wie die ewige Abfolge von Winter, Frühjahr, Sommer und Herbst. Neu ist nur, dass das Klima zum Fetisch der Aufgeklärten geworden ist, die weder an Jesus noch an Moses oder Mohammed glauben… Der weltweite Hype um eine 16-jährige Schwedin, die sich für eine Wiedergängerin von Jeanne d'Arc hält, hat das in diesen Tagen wieder erwiesen“. Wichtig: Broder weist den Alarm um schmelzende Polkappen, steigende Meereshöhen und verschwindende Insekten nicht deswegen zurück, weil er die Fakten ignoriert oder seinerseits auf irgendwelche blödsinnigen fake news setzt, sondern weil er die Veränderungen der Weltdaten einfach als Beifang der Menschheitsgeschichte einpreist, als Geschick, das es nun einmal gibt. Was er rundweg ablehnt, ist die hochfahrende moralische Attitüde, für den Gang der Weltgeschichte im allgemeinen und das Weltklima insbesondere verantwortlich zu zeichnen. Dahinter wittert er eine neue Spielart des ewig alten Fundamentalismus unter dem Motto: Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein. Greta Thumberg, die auf dem Weltwirtschaftsforum ein ebenso eindringliches wie berührendes Plädoyer für die Rettung des Weltklimas gehalten hat, ist in der Tat eine schillernde Figur. Man kann, ja, darf dem Mädchen nichts übelnehmen. Es ist so ganz bei sich. Es macht uns allen – zu Recht – ein schlechtes Gewissen. Deswegen musste sie ja nach Davos kommen. Aber, diese Frage sei wenigstens gestattet, ohne gleich als Parteigänger von Broder abgetan zu werden: Was – außer wohlfeiler Betroffenheit und landesweiten Schülerstreiks – wird an positivem Impuls gesetzt, dem man folgen könnte? Felix Finkbeiner pflanzt derweil Bäume, Boyan Slat macht sich schon über den Plastikmüll in den Meeren her. Das sind Wege, keine Anklagen.

Helmut Aßmann


Limitierung

14. februar 2019

Dass er oder sie sterben muss, ist jedem klar. Schon in der Kindheit wächst das Bewusstsein für die Endlichkeit des eigenen Lebens. Es dauert eine ganze Weile, bis dieses Wissen in eine fühlbare Qualität umschlägt und zu einer operativen Größe wird. Manchmal geschieht es früh, etwa wenn Menschen in einer bewussten oder unbewussten Ahnung ihres frühen Todes eine nach außen unverständliche Lebensgeschwindigkeit an den Tag legen, als gelte es das Morgen zu überholen. In aller Regel braucht es schon die Überwindung der Lebensmitte, um so etwas wie ein Gespür für die Endlichkeit des Daseins zu entwickeln und zu fassen, dass es sich dabei weder um einen Irrtum noch eine Fehlplanung handelt, sondern um banale Realität. Die hektischen Versuche, der verrinnenden Zeit mit mehr oder weniger Gewalt noch ihre vitalen Höhepunkte und sinnlichen Sensationen abzupressen, haben gelegentlich etwas Verzweifeltes an sich, denn es ist etwas anderes, mit 65 Jahren auf den Kilimandscharo zu steigen als mit 25 vor Biarritz atlantische Wellen abzusurfen. Aber es steht gegeneinander: Unser Lebenshunger ist unendlich, unsere Lebenszeit ist es nicht. Die Kunst besteht nun darin, den Lebenshunger nicht in quantitativen Dimensionen abzuhandeln und sich mit Ereignissen existentiell zu überfressen, sondern die Unendlichkeitsqualität als Vertiefung des Augenblicks zu entdecken. Das ist leichter gesagt als getan. Alle großen Religionsstifter haben darauf hingewiesen, und alle Religionen haben verflachte Minderausgaben dieser Einsicht entwickelt. 

Wenn der christliche Glaube von der Menschwerdung Gottes spricht, ist das, auf diese Überlegung gewendet, so etwas wie das Vertrauen, dass man diesen unendlichen Lebenshunger tatsächlich stillen kann.

Helmut Aßmann


Langeweile

04. februar 2019

Der Volksmund stellt fest: „Wenn es dem Esel zu gut geht, dann geht er aufs Glatteis…“ Unter diesem Motto lassen sich die verschiedensten Kuriositäten besichtigen, in denen Menschen in einer Mischung aus Übermut und Langeweile sich selbst und andere in allerschwierigste Situationen bringen. Gelegentlich ist noch ein Schuss Beschränktheit dabei. Ich erinnere einen Jungen aus unserer Nachbarschaft, der – wir waren damals so um die 14 Jahre alt – wissen wollte, wie es ist, wenn man einen Stein köpft, als wäre er ein Fußball. Nun, das hat er einmal ausprobiert und dann nie wieder. Anderes, bedrückend aktuelles Großbeispiel: der Entschluss, ein EU – Austrittsreferendum für das Vereinigte Königreich als Volksbefragung zu inszenieren. Oder das methodische Kokettieren der AfD mit der Nazi-Vergangenheit. Man spielt mit dem Feuer und ruft nach der Feuerwehr wenn es brennt. Warum tun Menschen das? In einem Interview der Tageszeitung „DIE WELT“ überlegt der Psychologe Peter Fischer, inwiefern das mit der „Ereignislosigkeit“ einer langen Zeit des gesellschaftlichen Friedens zu tun haben könnte. In einem Buch mit seiner Kollegin Eva Lermer unter dem Titel „Unbehagen im Frieden“ wird die These untersucht, ob die zunehmende Verrohung der öffentlichen Umgangsformen und die neugewonnene Lust an der ergebnisoffenen Provokation nicht psychologisch mit der Gewöhnung an „allzu“ stabile Gegebenheiten zu tun hat. Zu deutsch: Den Leuten wird es langweilig. Sie brauchen Action, Randale, Auseinandersetzung, und wenn davon vom Lauf der Dinge zu wenig ins Haus getragen wird, dann muss man es eben hervorgerufen, sei es durch Autorennen im Stadtzentrum, durch Herumschwadronieren von anderen Gedenkkulturen oder mit Grenzzäunen zu anderen Staaten. Da kommt einfach wieder Stimmung in die Bude. Statt des lähmenden Austauschs von Argumenten endlich ein starker Zug zur Tat.

So ernüchternd es klingt: Wenn uns die Tiefe des Lebens nicht erreicht und erfüllt, muss die Oberfläche unsere Sehnsucht befriedigen; und wenn wir sie dabei aus lauter Langeweile kaputtmachen.

Helmut Aßmann


Grenzwerte

29. januar 2019

Da bin ich nun platt. Seit etwa eineinhalb Jahren tobt ein erbitterter politischer und wirtschaftlicher Streit über die Konsequenzen der Abgasgrenzwerte in deutschen Städten. Wahlweise Stickoxide, Feinstaub oder CO2, manchmal geraten die Dinge in der öffentlichen Diskussion auch ziemlich durcheinander. Stickoxide und Feinstaub sind wegen der unmittelbaren Atemluftqualität von Bedeutung, CO2 hingegen ist ein Klimagas. Aber wie dem auch sei: Die Grenzwerte haben, wenn ich es richtig verstanden habe, ihren Ursprung in den Festlegungen der EU – Kommission. Das ist ja nun schon eine Weile her. Inzwischen kommt es zu ersten Fahrverboten, deren Sinn sich auch nicht immer auf Anhieb erschließt. Straßenzüge in Hamburg, demnächst der ganze Großraum Stuttgart. Und jetzt, sozusagen 5 nach 12, melden sich Kolonnen von Ärzten, allen voran Lungenfachärzte zu Wort, die die Plausibilität der Grenzwerte überhaupt in Zweifel ziehen. Mein erster Reflex: Vermutlich sind die geschmiert, von den Autofirmen. Andererseits: Mir haben noch niemals die spekulativen Zahlen eingeleuchtet, denen zufolge soundsoviel tausend Menschen an Stickoxiden oder Feinstaub bereits verstorben sein sollen. Wie kann man denn so was zählen? Und natürlich, wenn man eine Messstation in einer verkehrsreichen Straße etwa einen Meter über Auspuffhöhe anbringt, liefert die beträchtliche Verschmutzungswerte. Aber wie ist das 10 Meter höher, einmal um die Ecke oder drei Meter von der Straße entfernt? Also vermutlich doch nicht geschmiert, sondern nur mit Verstand bewehrt. Gleichwohl: Warum in aller Welt melden die sich erst jetzt? Hat denn die EU – Kommission vorher niemanden vom Fach gefragt? Ich verstehe es nicht. Stattdessen verdichtet sich bei mir der Eindruck, als würde die Komplexität des Themas die politischen Handlungsoptionen und ihre Zuständigen überfordern. Da müssen ja Dieselskandal, Umwelt- und Klimaschutz, Wirtschaftspolitik und Gesundheitsfürsorge gleichzeitig miteinander in Beziehung gesetzt werden. Im Ergebnis gschaftlhubert alles munter durcheinander und hofft, dass es am Ende irgendwie auf Druck und Zug ausgeht. Es hat, doch, auch etwas Tröstliches, angesichts der eigenen, kleinen Überforderungen.

Helmut Aßmann


Sinn

21. januar 2019

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht“ – dieser Satz wird dem ehemaligen tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Havel zugeschrieben. Er ist so etwas wie ein Trost für alle, die sich einer guten Sache verschrieben haben, deren Ausgang in Frage steht. Es wird darin in Aussicht gestellt, dass der Sinn durch eine eventuelle Niederlage nicht gefährdet ist, ja dass, mit anderen Worten, der geschichtlich womöglich vergebliche Einsatz der eigenen Kräfte auf einer höheren Ebene gerechtfertigt ist. Ja, nicht nur gerechtfertigt, sondern eigentlich erst geadelt wird.
Denn wenn einer in einem guten Anliegen scheitert, ist er wenigstens vor einer bedrohlichen Aussicht bewahrt: Dass er zu den siegreichen Visionären gehört, die ihre eigenen Vorsätze zugunsten der errungenen Macht bei der erstbesten Gelegenheit wieder über Bord werfen und nicht besser daherkommen als die, die er vorher so erbittert bekämpft hat.
Die Namen derer, die im Vaclav’schen Sinn voller Hoffnung, aber vergeblich gekämpft haben für einen Sinn, den sie ggf. für größer erachtet haben als ihr eigenes Leben, sind meistens unbekannt. Aber auch die Liste der bekannten Namen ist beeindruckend: Von Sokrates über Jesus bis zu Giordano Bruno und Yizhak Rabin.
Sie bezeugen einen Glauben, der noch vor dem religiösen Glauben liegt: Dass es überhaupt einen Sinn geben könnte, der das eigene Ermessen übersteigt und allen Menschen gleichermaßen zukommt. Ja, dass es einen Sinn in dieser Geschichte gibt, der sich nicht durch den Erfolg korrumpieren lässt, den man mit ihm erreichen kann. 

Viktor Frankl hat sich mit dieser Perspektive einen inneren Ausweg aus der Hölle der Nazi – Konzentrationslager gebahnt. Das immer gleiche und bohrende Problem an dieser Sache ist, dass dieser Sinn weder evident noch konservierbar ist. Er ist wie Gott: Unbeweisbar, unerklärbar, unerreichbar. Wer sich mit ihm verbindet, kann nur begrenzt erklären, was er da tut. Aber er teilt die umgebende Menschheit in zwei Parteien: Die einen, die sich anstecken lassen. Die anderen, die Gefahr wittern. Wir haben die Wahl, immer.

Helmut Aßmann


Ungerechtigkeit

14. januar 2019

Menschen sind verschieden. Zum Glück. Wäre ja nicht auszuhalten, wenn alle geklont wären. Und als Gott die Birken erschuf, hat er allein für Mitteleuropa ca. 60 verschiedene Sorten gemacht. Reichlich also, von den anderen Kontinenten ganz zu schweigen. In den arabischen Wüsten hat er Öl versteckt, in Kalifornien und Südafrika Gold eingelagert, in Namibia Diamanten und in Chile Kupfer. In Deutschland hat er bei den Bodenschätzen offenbar keine großen Eingebungen gehabt. Dafür gibt es hier viel Wasser, bequem vom Himmel, Jahr für Jahr. Alles also sehr bunt und sehr verschieden, was es an kreatürlicher Ausstattung gibt.
Aus einer anderen Warte geurteilt, ist genau das aber ein Problem. Es ist ungerecht. Warum ist der eine Mensch klug und der nächste nicht? Was hat die eine getan, um attraktiv zu wirken, und die andere unterlassen, dass das nicht der Fall ist? Welchen Sinn hat es, die natürlichen Ressourcen so offenkundig willkürlich zu verteilen? Man kann grübeln, solange einer will – es gibt keine vernünftige Antwort. Hinter diesen göttlichen Verteilungsalgorithmus, wenn der Schöpfer denn über solche modernen Dispositionsmittel verfügt, ist bislang keiner gekommen. An der vermeintlichen Ungerechtigkeit Gottes in allen Dingen scheitern sie alle, die Theologen, Philosophen und Literaten.
Nun könnte man ja sagen: Dann nimm es eben so hin. Love it, change it or leave it, wie die Changemanager es eindrucksvoll zusammenfassen. Arbeite dich nicht an dem ab oder kaputt, was du nicht ändern kannst. Das ist nur leichter gesagt als getan, wenn man zu denen gehört, die nicht so reichlich mit natürlicher oder kultureller Ausstattung bedacht worden sind wie andere. Es gibt ja auch so etwas wie einen sozialen Verkehrswert von Menschen. Minderwertigkeit, ob zugeschrieben oder selbstempfunden, ist keine Lappalie. Der Glaube an den guten Schöpfergott kommt da schon an seine Grenzen.

Die Klagepsalmen der hebräischen Bibel empfehlen aus diesem Grund, sich mit Gott selbst anzulegen und ihm die Vorwürfe zu machen statt mit anderen einen Krieg vom Zaun zu brechen. Da ist der Verdruss an der richtigen Stelle, und so wird das Verursacherprinzip sachgemäß angewendet. So merkwürdig es klingt: Mit Gott zu hadern ist ein Beitrag zum Frieden. Die Alternative ist meist der Kampf gegen andere.

Helmut Aßmann


Ministeramt

07. januar 2019

Einige Wochen lang wurde der nachrichtenaffine deutsche Bürger mit der bedeutsamen Frage beschäftigt, ob der Zweitplatzierte der Wahl zum CDU – Vorsitz zur Ehre eines Ministeramts erhoben werden sollte. Als Ausgleich für erlittene Demütigung sozusagen. War zwar knapp gewesen, aber doch verloren. Manche Stimmen erwogen bedächtig, dass ein Ministerposten ein gutes Werk für die Geschlossenheit der Partei sei. Andere hielten diese Reaktion auf einen vergleichsweise normalen Geschäftsvorfall in einer Volkspartei für nicht eben naheliegend. Dem Betroffenen selbst wurde zugeschrieben, er würde sich solch eine politische Verwertung durchaus zutrauen. Die Äußerung sollte vermutlich jenen Wankelmütigen aufhelfen, die an dieser Haltung Zweifel entwickelt haben sollten. Mir war bislang nicht aufgefallen, dass parteiinterne Wahlvorgänge auf diese Weise kompensatorisch ausgewertet werden müssten. Auch dass irgendein Ministerposten wegen der Wahl in Hamburg freigeworden wäre, ist meines Wissens nicht bekannt geworden. Und tatsächlich, mit einigem Trara wurde medial verbreitet, dass die Kanzlerin für Herrn Merz leider gerade keinen Posten zur Verfügung stellen könnte. Ich frage mich, wer um alles in der Welt denn ernsthaft damit gerechnet haben könnte. So blöd wird keine der handelnden Personen sein. Ministerämter werden doch nicht unter dem Christbaum verteilt oder wachsen im Kanzlergarten. 

Wie kommen solche wochenfüllenden Themen eigentlich in Gang? Wer platziert derart durchsichtige und unverlangte Scheindebatten, um wem zu nützen oder zu schaden? Diesmal, so vermute ich stark, waren es weder die Amerikaner noch der Mossad oder die chinesische Wirtschaftsspionage. Eventuell die in die Diskussion geratene bayerische Raumfahrtbehörde – deren Geschäftsbereich ist ja noch nicht festgelegt. Vielleicht ist da noch Luft nach oben… 

Mir fällt in diesem Zusammenhang einfach keine theologische Verbindung ein. Die Bibel, der ja sonst nichts Menschliches fremd ist, bietet einfach keinen Hinweis.

Helmut Aßmann

Überraschung

02. januar 2019

Im Gegensatz zur allgemeinen Betrübnis über den Verfall der anspruchsvollen Menschlichkeit glaube ich, dass die meisten Menschen wirklich nett sind. Bestimmt mehr als 80%. Richtig widerlich sind nur wenige Zeitgenossen. Ich bete übrigens regelmäßig darum, nicht zu ihnen zu gehören, denn erfahrungsgemäß ist das Urteil über sich selbst mit einem kräftigen Bias ausgestattet.
Drei Gründe sind es, die ich dafür ins Feld führen möchte. Der erste ist der Umgang mit Säuglingen und kleinen Kindern. Ich habe noch keinen bösen Säugling gesehen. Durch die Bank weg: Alle herzallerliebst, höchstens einmal zappelig, Schreihälse, miesepetrig wegen Hunger, Schmerzen oder anderer widriger Umstände. Aber wir kommen allesamt eher freundlich und offen auf die Welt. Jeder Säugling ein neuer Versuch, die Höhe des ehrlichen Menschseins zu gewinnen.
Der zweite Grund: Wenn man Leute um Hilfe fragt, wird sie kaum je verweigert. Natürlich kommt es auf die Frage an und den Ton der Frage. Aber im Regelfall: Der mürrischste Taxifahrer hilft einem weiter, und der zerzausteste Jugendliche hat noch einen verbindlichen Ton auf Lager. Menschen helfen gern.
Und, dritter Grund, eine typische Urlaubserfahrung: Wenn man wildfremde Menschen trifft und die Begegnung länger dauert als ein beiläufiger Moment und kürzer ist als die Ingangsetzung einer regelrechten Beziehung, ist die Tiefe des gegenseitigen Verstehens und die Freude an der Verschiedenheit der Menschen eine große Überraschung und bleibender Anlass zur Freude.

Richtig verwunderlich ist es ja eigentlich nicht. Man hat es schließlich mit Ebenbildern Gottes, nicht mit Ausgeburten der Hölle zu tun.

Helmut Aßmann


Müsli-Show

10. dezember 2018

Neulich in der S-Bahn: Morgens, zur klassischen Drängelzeit im Vorortverkehr, komme ich neben eine eher unauffällige junge Frau zu sitzen, die unverwandt aus dem Fenster schaut und nicht, wie sonst üblich, auf ihrem Touchscreen irgendwelche wichtigen Whatsapp- oder Facebooknachrichten durchsieht. Aber dann wird es ernst. Sie nestelt aus ihrem Rucksack eine Tupperdose heraus, nimmt einen respektablen Esslöffel (kein Plastik!) dazu, löst den Deckel von der Dose und beginnt ihr außerordentlich gesundes Frühstück einzunehmen. Ein sensationeller Geruch aus halbvergorenem Obst, intensiver Honigsüße und aufgequollenen Cerealien entströmt der Dose, so dass das halbe Abteil wenigstens geruchsmäßig an dieser ökotrophologischen Sternstunde teilhaben kann und – ja, muss. Leider sind die benachbarten Sitzplätze allesamt belegt, so dass ich wohl oder vor allem übel dieser Session als Schicksalsgenosse beizuwohnen habe. Eine elende Tortur. Nicht nur, dass dieses Gesundheitsmüsli so intensiv vor sich hinstinkt, hinzu kommt diese hingebungsvoll mahlende Kaubewegung meiner Nachbarin und das in der morgendlichen Stille so nervtötende Geklapper des Löffels auf der Plastikschale – alles irgendwie fehl am Platz, aufdringlich und mit unangenehm schwerer Sinnlichkeit behängt. Unwillkürlich dachte ich an die Picknickorgien in Fernzügen, in denen mich der Geruch hartgekochter Eier, kleingeschnittener Tomaten und fett aufgestrichener Leberwurst zum umgehenden Verlassen des Abteils treibt.
Warum um alles in der Welt frühstücken diese Leute nicht zuhause? Oder im Büro? Oder gar nicht? Es ist kein Futterneid, der mir die Feder führt, beileibe nicht. Selbst wenn mir etwas von dieser übelriechenden Pampe angeboten worden wäre, hätte ich lieber eine Woche gehungert als das zu essen. Ist es eine Roadshow für dramaturgisch inszeniertes Gesundheitsbewußtsein? Oder eine kulinarische Authentizitätserklärung unter verschärften Verkehrsbedingungen? Ich weiß es nicht. Ich esse übrigens auch jeden Tag Müsli – nur dass jetzt keiner auf falsche Gedanken kommt. Aber Müsli in der S-Bahn ist wie Gottesdienst im Badeanzug. Geht auch, muß aber wirklich nicht sein.

Helmut Aßmann


Dämmerung

03. dezember 2018

Was mich immer wieder einmal zum Ende eines Tages beschäftigt, ist folgende etwas merkwürdige Frage: Geht der Tag oder kommt die Nacht? Was ist sozusagen das aktive Element in diesen so alltäglichen und zugleich abgründigen Naturvorgängen, die unsere Weltzeit und Lebensphasen gliedern? Was den Zeitumfang angeht, den Tag und Nacht füllen, gibt es keinen Unterschied. Sommer und Winter, Tag- und Nachtgleiche – immer ist für ausreichende Kompensation gesorgt. Die Erde ist schließlich eine weitgehend symmetrische Kugel und die Erdbahn ein weithin harmonischer Kreis. Und die umstrittene Sommerzeit ist ja nur ein technisch-zivilisatorisches Accessoire, keine reale Wirklichkeit.
Nun, um auf die Frage zurückzukommen, ich glaube, der Tag ist es. Der Tag trägt die Bewegung. Er ist das Besondere, nicht die Nacht. Die Bibel legt in ihrer Schöpfungsgeschichte eine deutliche Betonung darauf, dass der Tag ein Geschöpf ist, die Nacht hingegen nicht; der Tag ist eine Umsetzung des Lichtes, die Nacht nur das Fehlen desselben. Noch dazu abgemildert durch das fahle, geliehene Licht des Mondes. Der Tag kommt und geht. Die Nacht bleibt. Der Tag muss, will, soll genutzt werden, nicht die Nacht. Sie ist, was das menschliche Arbeitsaufkommen angeht, nur ein Überlaufventil, das deswegen funktioniert, weil dem natürlichen Tag ein künstliches Licht abwendig gemacht wird. Folgerichtig wird es nach den Texten der Bibel am Ende auch eine Aufhebung der Nacht geben, eine durch und durch lichtvolle Neugestaltung aller Dinge. Wenn dieser Tag kommt, wird der Nacht keine Wiederkehr mehr zugestanden. Zur Dämmerung dieser Gewissheit hinterherzumeditieren, ist eine der schönsten Alltagsfeiern des Lebens.

Helmut Aßmann


Oberer Mittelstand

27. november 2018

Vielleicht wird diese Phrase vom „oberen Mittelstand“, zu dem er meinte sich zuordnen zu müssen, Herrn Merz seinen angestrebten CDU - Vorsitz kosten. Solch eine offenkundig falsche oder wenigstens halbseidene Selbstzuschreibung merkt man sich hierzulande. In den Zeitungen wird ja immer wieder darauf hingewiesen, dass erworbener Reichtum andernorts, vor allem in den USA, eher eine Auszeichnung darstellt, eine Art Güteprädikat, während es für den deutschen politischen Betrieb eher hinderlich zu sein scheint, es „zu etwas gebracht zu haben“. Dem deutschen Michel wird eine notorische Scheeläugigkeit nachgesagt, was herzeigbaren Reichtum angeht, der deutschen Gesellschaft eine Neidkultur attestiert, die in eine Diktatur des Mittelstandes und irgendwie auch des Mittelmaßes münden könnte. Um nicht in diese Falle zu laufen, ist Herr Merz vermutlich auf die daneben liegende Mine getreten: Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse.
Klar, das war nicht klug. Auf einer von überempfindlichen, halbneurotischen Kommunikationskünstlern beherrschten Bühne ein unmissverständliches Wort zu platzieren, ist schließlich auch zu einem guten Teil Glücksache. Aber wenn man gelegentlich selbst gerne zündelt, kann einem auch schon mal eine kleinere Wortladung um die Ohren fliegen. Hier kommt zunächst ein kleines, aber gemeines Gesetz des Lebens zum Tragen: das Talionsprinzip. Zu deutsch: Gleiches mit Gleichem vergelten. Wer mit verdeckten oder offenen Vorwürfen gegen andere arbeitet, noch dazu mit der verdeckten oder offenen Unterstellung, die in Rede stehende Sache besser machen zu können, darf sich nicht wundern, wenn einmal Gleiches mit Gleichem erst verglichen, dann vergolten wird. 

Doch da ist noch etwas. Zu welchem Mittelstand Herr Merz zählt oder nicht, ist politisch auch in Deutschland ziemlich gleichgültig. Der adlige Herr von Dohnanyi ist schließlich Mitglied der SPD, und der einstmals hochberühmte Karl Theodor zu Guttenberg als CSU-Mann wohnte nie in einem Reihenhaus. Aber wer so deutlich jemand anderes sein will als er ist, provoziert unweigerlich die Frage, ob er uns für jemand anders hält als wir sind, oder gar, ob er etwas anderes will, als er sagt.

Helmut Aßmann


BOA

19. november 2018

Man glaubt es ja nicht: Jérôme Boateng, unser Bollwerk in der deutschen Nationalfußballinnenverteidigung, hat jetzt ein Personality-Magazin auf dem Markt geworfen, Verzeihung: gebracht. Die erste Nummer ist soeben erschienen, unter dem Motto: „Deutschland ist cooler“. Was das genau heißt, weiß ich nicht genau. Nach Eckhard von Hirschhausens Gesundheits- und Lebensweisheitsjournal, Barbara Schönebergers „BRIGITTE“ – Adaption, Joko Winterscheids Mixtur aus Playboy und Flanellhemd-Romantik und – wichtig – noch vor Guido Kretschmers Magazin-Premiere steht damit die erste fußballerisch geadelte Modezeitschrift im Regal. Modegeschmack hatte man dem Hünen aus Berlin immer wieder attestiert. Nun also „BOA“. Nach einem Durchblättern des Magazins war ich, gelinde gesagt, irritiert. Aus zwei Gründen. Einmal wegen der erstaunlich geringen Anzahl von dafür groß formatierten Druckzeilen im ganzen Heft. Man muss eigentlich nicht lesen können, um thematisch durchzukommen. Sodann von der, sagen wir mal, überschaubaren Lebensweltkomplexität, die da vor Augen gestellt wird. Man blättert in einer Art Bilderbuch herum, ohne recht die Story zu erkennen. Das Magazin wende sich, so der Verlag, an „urban millenials“. Das beruhigt mich ein wenig, denn ich habe schlicht nicht verstanden, was es bedeutet, einen Rennwagen fotographisch mit „bösen Sneakern“ zusammenzubringen. Na, macht nichts. Ich bin weder urban noch millenial.
Wer dem jungen Mann diese journalistischen Flausen in den Kopf gesetzt hat, wollte ihm jedenfalls keinen Gefallen tun. Solche Druckerzeugnisse kann man nur aushalten, wenn man den guten Jérôme bedingungslos verehrt (wozu sein fußballerisches Können ja zum Glück auch Anlass bietet). Interessant ist, dass offenbar vermutet wird, man könne damit Geld verdienen – nicht Boateng, sondern der Verlag. Ein Fußballerimage als Geschäftsidee, ohne Thema. Nicht mal Unterhosen wie weiland bei David Beckham, einfach nur: Image. Hier kann man studieren, wie sich Vermarktung ihrer Inhalte entledigt.

Das ist nie gut. Vor allem nicht, wenn es um Religion geht. Man stelle sich mal ein Jesus-Magazin vor. Zum Glück konnte er nicht Fußball spielen…

Helmut Aßmann


Roter Platz

12. november 2018

Die Älteren werden sich erinnern: Mai 1987. Eine kuriose Nachricht geht um die Welt. Ein 18jähriger Pilot eines kleinen Flugzeuges namens Mathias Rust, aus Wedel bei Hamburg, war mutterseelenallein nach einem bemerkenswerten Zickzack-Kurs über Nordeuropa über dem Kreml eingeflogen und hatte seine Maschine nach einigen Runden über dem Roten Platz auf einer Moskwa-Brücke zum Stehen gebracht. Unglaublich. Zwischendurch war er von Abfangjägern begleitet worden, aber die schossen ihn nicht ab, auch die Flugabwehrstellungen hatten allesamt nicht gefeuert. Dann stand dieser Bengel mit seiner Cessna unversehrt und kackfrech auf dem Platz, ein Faktotum der Weltgeschichte, bis ihn die Sicherheitskräfte abführten. Nach diplomatischem Gerangel, einem kuriosen Prozess und großem personellen Reinemachen in der sowjetischen Sicherheitspolitik kam Mathias Rust gut 14 Monate später wieder frei. Er hatte den Flug als Friedensbotschaft verstanden wissen wollen, gab er zu Protokoll. Naja, lassen wir das auf sich beruhen. Was ist aus ihm geworden? Nun, das Internet gibt darüber bereitwillig Auskunft. Er hat einen schillernden Lebenswandel hingelegt, reüssierte diverse Male als Pokerspieler und konnte sich allem Anschein nach nicht dazu verstehen, so etwas wie eine solide Berufsbiographie zusammenzuzimmern. Mathias Rust aus Wedel hatte eine sagenhaften Auftritt im Frühling 1987, den die Welt nie vergessen hat. Welche Bedeutung hatte das für sein Leben? Welcher Moment im träge fließenden Strom unserer Lebenszeit hat das Format, unser Leben zu bündeln und es für alle Zeiten in einem herzeigbaren Format festzuhalten? Am Schicksal des Cessna-Fliegers kann man sehen: Es gibt solch einen Moment nicht. Wir sind episodische Lebewesen, keine Gesamtkunstwerke. Mag sein, dass Gott solch einen integralen Blick auf uns hat, aber der wird erst am Ende fällig. Bis dahin dürfen wir dankbar sein, dass kein noch so bedeutender Moment unser Dasein fixiert.

Helmut Aßmann


Reliquien

05. november 2018

Die ZEIT, eines der Flaggschiffe seriöser journalistischer Arbeit, feiert ihren langjährigen Mitherausgeber, Altbundeskanzler Helmut Schmidt zu seinem 100. Geburtstag. Die dazugehörige Ausgabe titelte mit einer geradezu messianischen Attitüde: „Einer, der fehlt“. Angesichts der betrüblichen Debattenkultur in einem mediendominierten Politikbetrieb eine ebenso nachfühlbare wie herzlich romantische Anwandlung. Helmut Schmidt, das war der notorisch richtige Mann in der notorisch falschen Partei, das war der kantige, scharfzüngige deutsche Vorzeigeintellektuelle aus einem bürgerlichen Reihenhaus in irgendwie wohltuendem Gegensatz zu dem babbelnden, übergewichtigen und immer etwas tumb wirkenden Dauerkanzler „Birne“ Kohl. Ach ja, der wusste noch, wie man den Großmächten Paroli bietet, der durfte noch in Studios rauchen und durfte ungeniert sagen, dass, wer Visionen hätte, doch bitte zum Arzt gehen solle. Dem hätte man wahlweise das Amt des UN-Generalsekretärs, den Papststuhl oder die FIFA-Präsidentschaft angetragen. Der hätte aus allem was Ordentliches gemacht.
Ja, und jetzt kommt’s. Die ZEIT bietet angesichts dieser an Heiligenlegenden erinnernden Anekdoten nun endlich das an, worauf wir alle schon lange gewartet haben, eine richtige Reliquie: Helmut Schmidts Zigarettendose. Ja, stelle man sich das vor. Man kann nun für seine Glimmstengel nunmehr, also bei Erwerb dieses gesegneten Kastens, in eine Holzschachtel greifen, die haargenau so aussieht wie die, in die kein Geringerer als eben Helmut Schmidt hineingegriffen hat. Es könnte sogar sein, so wird vermutet, dass man bei ausgiebiger Nutzung dieses Utensils ein schärferes politisches Urteil bekommt, zumindest aber ein besseres Demokratieverständnis. In der Edelausgabe gibt es auch eine versilberte Parteizugehörigkeitsmedaille für langjähriges politisches Standesbewusstsein. Okay, das ist jetzt keine ganz richtige Reliquie, sondern nur ein Replikat, aber, das muss man schließlich zugestehen, einen nikotingebräunten Fingernagel, ein Stück geteerter Lunge oder einen der zahlreichen Byepässe aus seinem Herzen hätte man doch nicht gerne unter die Leute gebracht, oder? Das hätte auch der Gottvater deutscher Politikräson auch gar nicht gewollt. 

Da sage noch einer, es gäbe keine Heiligen mehr.
 

Helmut Aßmann


Kritische Zone

22. oktober 2018

Den Begriff „Kritische Zone“ habe ich bei Bruno Latour kennengelernt. Damit bezeichnet der französische Kulturphilosoph jene bestimmte Region, in der wir körperlich oder geistig reagieren müssen, wenn jemand sie betritt. Man kann sich das veranschaulichen an den Vorgängen in einem Eisenbahnabteil. Wenn eine bestimmte Distanz zu einem Nachbarn unterschritten wird, reagieren wir unwillkürlich: Wir setzen uns fort, verkrampfen unsere Sitzhaltung oder genießen ggf. die Berührung. In jedem Fall werden wir genötigt, uns zu einer neuen Situation zu verhalten. Oder: Erst dann, wenn Flüchtlinge und Asylantenkinder im unmittelbaren Nachbarschaftsfeld erscheinen, als Kollegen, Mitbewohner, Freunde der Kinder usw., muss ich mich wirklich zu ihnen positionieren. Außerhalb dessen kann man beherzt große Sprüche klopfen, sie müssen ja nicht an der Wirklichkeit erprobt werden.
Ich frage mich, wie diese kritische Zone eigentlich religiös, oder sagen wir: spirituell, funktioniert. Nach all den schrecklichen und wirklich bestürzenden Enthüllungen über Missbrauch und Machtanmaßung in kirchlichen Zusammenhängen stellt sich die ebenso fundamentale wie berechtigte Frage, wie nahe wir einem Menschen in religiösen Angelegenheiten eigentlich kommen dürfen, ohne uns eines Fehlverhaltens schuldig zu machen. Darf man, mit anderen Worten, eigentlich in seine „kritische Zone“ treten? Jesus hat das nach den Berichten des Evangeliums einfach gemacht. Hat Menschen angesprochen, sie angefasst, ihnen riskante Perspektiven zugemutet und sich über Konventionen hinweggesetzt. Glaubensvermittlung in ihrer intensiven Form hat das in allen Religionen und allen Zeiten genau so gehandhabt, stets umlagert vom Risiko eines unzulässigen Übergriffs. Andererseits ist eigentlich ja schon jeder verliebte Überschwang eine Berührung der kritischen Zone. Wer immer Menschen erreichen, erziehen, verändern, gewinnen will, muss an ihre kritische Zone heran, sonst funktioniert es nicht. Das weist auf ein aktuell wirksames Dilemma tragischen Ausmaßes hin: Die derzeit so verbreitete Angst vor Berührung, so verständlich sie angesichts der potentiellen Missbräuchlichkeit auch ist, hat einen hohen Preis: Die strukturelle Einsamkeit des Menschen, der dann niemanden an sich heranlassen kann. 

Ja, das Leben ist nicht nett. Hat auch Gott nie behauptet.

 
Helmut Aßmann


Unkraut

15. oktober 2018

„80% der Gartenarbeit besteht im Unkrautzupfen“ – so sagen erfahrene Gärtner und Hobbyzüchter. Das ist kein Versuch der Geringschätzung von kreativem und gestalterischem Engagement in Sachen Botanik und grüner Hauspflege, schon gar nicht von einem, der weder einen grünen Daumen noch ernstzunehmende gärtnerische Erfahrung vorzuweisen hat. Es ist auch keine resignative Formel angesichts eventuell allzu üppig wuchernden Flora zu allen nichtwinterlichen Jahreszeiten, nach dem Motto: „Was am schnellsten nachwächst, ist Unkraut“. Eher im Gegenteil. Was mit dieser knappen Anzeige vermittelt wird, ist in erster Linie ein Loblied auf die Selbsttätigkeit der Pflanzen, gewissermaßen den internen Gestaltungswillen der freigelassenen Natur. Formulieren wir es ein wenig anders: Es kommt nicht so sehr darauf an, den Pflanzen vorzuschreiben, was sie zu tun und darzustellen haben, sondern vielmehr darauf, ihnen die Räume zu eröffnen, in denen sie selber tätig werden können bzw. ihnen die Plagegeister vom Hals zu halten, die sie daran hindern wollen. Der Rest geht dann in einem erstaunlichen Umfang schon von selbst. Will sagen, die Masse der gestalterischen Energie des Menschen im gärtnerischen Handeln geht in Unterstützungsleistungen, nicht in Formatierungszwänge.
Verläßt man den Bezirk von Garten und Fauna, wird daraus unversehens ein Lebensgesetz. Wo immer man sich abmüht, die Menschen, die Welt, die Gesellschaft oder die Kirche in eine Form zu bringen, die man für die richtige erst erkannt und dann auch noch erklärt hat, kommt es zu unausweichlichen Kollisionen – der vertrackte Eigenwille der Dinge steht quer zu den Konstruktionen unserer Pläne. Statt dessen auf behutsame und verständige Weise den Dingen im sprichwörtlichen Sinne ihren Lauf lassen, wäre in einer solchen Überlegung das Gebot der Stunde. Sich darauf zu konzentrieren, zerstörerische und widrige Kräfte in Schach zu halten, ist von größerer Effektivität als die Gräser aus dem Boden zu ziehen. Das gilt ganz offensichtlich nicht nur für Staudenbeete und Obstgehölze, sondern ebenso für unsere Kinder, Familien Dorfgemeinschaften.

 
Helmut Aßmann


Erwin

08. oktober 2018

Er war etwa 60 Jahre alt, ein Freund von mir. Vater von drei Kindern, verheiratet, jemand aus der mittleren Ebene einer Landkreisverwaltung. Zufrieden mit dem Leben, vielleicht ein wenig träge in den letzten Jahren geworden, wenig Sport gemacht, etwas Fett angesetzt, kleine Prostataprobleme – das übliche Begleitprogramm in solcher Lebensphase. Aber nichts Ernstes. An einem Freitag stand er mitten in der Nacht auf, um einem menschlichen Bedürfnis nachzugehen, bekam einen heftigen Herzinfarkt, fiel um und war tot. Mausetot. Der Notarzt konnte umgehend den Totenschein ausstellen. Nicht einmal ein letztes Wort hatte er mit seiner Frau wechseln können. Fromm war er darüberhinaus auch gewesen, ein sehr treuer Kirchgänger, in vielen Bereichen des Gemeindelebens als wichtiger Mitarbeiter engagiert, hochgeschätzt. Die alte Frage „Warum er?“ blieb natürlich unbeantwortet. Es gab auch keine vernünftigen Gründe, die man hätte vorweisen können, außer vielleicht den, dass er ein bisschen weniger hätte essen sollen. Trinken und es sich gut gehen lassen war nun mal sein gern geübtes Pläsier. Aber ehrlich, so ein beiläufiger Hinweis ist einfach zu läppisch für einen solch dramatischen Tod. Es hätte ebensogut auch seine Frau, etwa gleichen Alters, treffen können. Die Lebensumstände waren ja haarklein dieselben. Beliebig. Erwins Tod war irgendwie beliebig, und die große Trauergeste unseres Abschiedsschmerzes war auf eine unheimliche Weise  unadressiert, hatte etwas von einer Theateraufführung, in der alle artig ihre Rollen gespielt haben. Hatte Gott sich bei seinem Tod wirklich etwas gedacht? Gab es ein Kalkül hinter dieser tödlichen Inszenierung? Wenn ja, warum war es dann so schwer zu erkennen, wenn nein, warum konnten wir auf Erklärungsversuche und Plausibilitätsüberlegungen dann nicht verzichten? Ich weiß es auch nicht. Die Sache liegt nun schon etwas zurück, und richtig weitergekommen bin ich in der Sache nicht.
Mir ist nur eines deutlich geworden: Ps. 90 und seine Mahnung: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“: das ist alles andere als eine fromme Phrase. Es ist die schlichte Anweisung, mit dem Tod zu rechnen. Bei uns selbst und den anderen. Weil es der normalste, erwartbarste und selbstverständlichste Vorgang von der Welt ist.

 
Helmut Aßmann


Nachtarbeit

17. september 2018

Nachts werden die Probleme bekanntermaßen größer als sie tatsächlich sind. Man zergrübelt sein Hirn wegen irgendwelcher mehr oder minder bedeutsamer Vorhaben oder Ereignisse, schwitzt seine Sorgen, weint seine Tränen, bemustert die möglichen Katastrophen und bringt sich ebenso  erfolgreich wie betrüblich um den kostbaren Nachtschlaf. Die mangelnde Ablenkung und die Möglichkeit, sich einmal vollends in ein Missgeschick oder dergleichen zu versenken, münden in einen bleischweren und humorlosen Tagesbeginn. Natürlich gibt es bewährte Gegenmittel. Am simpelsten sind rezeptfreie Schlafmittel, aber die ändern an der Gemütslage im Grunde nichts, reine Symptombekämpfung. Interessanter sind die psychotechnischen und spirituellen Verfahren. Aufrufen von Gegenbildern, Gebet, Atemübungen, Arbeit an den Chakren und dergleichen. Das alles sind kleine Exorzismen, die gegen die Dämonen der Nacht aufgeboten werden. Da geht man nicht mit Chemie, sondern mit geistigen Mitteln gegen die Ungeister vor. Das ist wenigstens ein Duell auf Augenhöhe. Der Umstand aber, dass sich die meisten nächtlichen Plagen am Morgen sozusagen nebelgleich mit wachsendem Lichtglanz zerstreuen, macht dennoch eines deutlich: Es ist nicht lebensdienlich, sich nur einem Thema anzuvertrauen. Gerade weil der spirituelle Mainstream mit Eifer und Pathos die Konzentration, wahlweise: Achtsamkeit, als Bedingung für ein erfülltes Leben einklagt, so muss unbedingt eine einschränkende Anmerkung dazu gemacht werden. Gott das Leben und seine Kreatur bunt gemacht, vielfältig und abwechslungsreich. Nicht wegen seines Hangs zur Zerstreuung, sondern um des Reichtums des Lebens willen. Nicht alles muss gelöst, nicht alles muss geklärt, nicht alles muss verstanden werden. Manches nicht jetzt, manches nie. Die Nachtarbeit besteht deswegen nicht nur darin, seine inneren Dämonen zu bekämpfen, sondern ihren Affentanz gelegentlich einfach zu verschlafen. Der neue Tag wird eh seine eigene Plage haben.

 
Helmut Aßmann


Achtsamkeit

11. september 2018

In den letzten Jahren hat sich das ein wenig betulich klingende Wort „Achtsamkeit“ eine beachtliche Aufmerksamkeit erarbeitet. Was heißt erarbeitet? Es ist, genau genommen, zum Codewort der modernen, transkirchlich spirituellen Gemeinde geworden. Und daran haben viele mitgearbeitet. Allen voran die Protagonisten östlicher Spiritualität, denen der Hinweis auf achtsame Lebensweise und Umgang mit sich selbst, mit anderen Menschen und der ganzen Welt noch am authentischsten von den Lippen geht. Sodann alle Vertreter von Entschleunigungs- und psychotherapeutischen Perspektiven, denen die sensible Wahrnehmung aller Dinge mehr Lebensqualität verspricht als die zupackende Weltbewältigung. Vor allem aber der schlichte Umstand, dass die robuste, wissenschaftsbasierte Transformation der Menschheit in eine Horde von Konsum-Junkies, die wir „Neuzeit“ zu nennen uns angewöhnt haben, auf dem besten Weg ist, den Planeten zu ruinieren. Da ist Distanznahme, Aufmerksamkeit, Zurücktreten vom Tagesgeschäft und der zielbesoffenen Umtriebigkeit in der Tat das Gebot der Stunde. Da ist Achtsamkeit als allerangebrachteste Haltung geradezu notwendig. Aber: Leider ist „Achtsamkeit“ kein geschützter und verteidigungsbewehrter Begriff. Man kann ihn pathetisch befeiern und ihm gleichzeitig hermeneutisch den Hals umdrehen. Es ist möglich, eine Achtsamkeitsindustrie zu entwerfen, in der das Gegenteil dessen erzeugt wird, was Achtsamkeit ursprünglich meinte: Sensibilität als neue Leistungskategorie. Spiritualität als Psychoathletik. Entschleunigung als Arabeske im Tempo-Irrsinn globaler Ausbeutungsmechanismen. Achtsamkeitssteigerung als Effektivitätsoptimierung. Das ist – man verzeihe diesen grobschlächtigen Vergleich – den Glaubensschwüren der Kreuzritter nicht ganz unähnlich: Im Namen der Gottesliebe hinein in den Blutrausch. Es gehört zu den unaufgebbar dringlichen Verpflichtungen geistlichen Lebens, die Geister zu unterscheiden, in welchem spirituellen Negligé sie auch daherkommen mögen.

 
Helmut Aßmann


Dickes Ende

05. september 2018

Der Volksmund weiß vom „dicken Ende“, das noch kommt. Doppelkopfspieler sind gewiss: „Hinten kackt die Ente fett“. Und inzwischen muss man wohl hinzufügen: auch im Fußball fallen die wichtigen Tore spät. Kurzum: Erst am Ende wird man sehen, was unterwegs gut gemacht, ordentlich gesammelt und haltbar gezimmert wurde. Das ist keine Drohung, wie man vielleicht mit Blick auf ein endgültiges Gericht über den Lauf des Lebens mit seinen Tücken vermuten möchte. Es ist eher ein Hinweis auf die mangelnde Balance von Spielen, Wetten und allgemeinen Lebensprozessen. Auch hier wie überall im realen Leben: Die Bedeutungen sind nicht gleichmäßig verteilt. Weniger die Einzelereignisse und ihre Sensationen oder Niederlagen steuern das entscheidende Moment bei, um zu einer Summe zu kommen. Es sind vielmehr die zahlreichen oder –losen kleinen Entscheidungen, Wendungen, Bewegungen und Versäumnisse, die das dicke Ende nach sich ziehen. Dann erst sieht man, worum es ging. Im Wunderbaren wie im Schrecklichen.
Derzeit hat gerade der „entscheidende Augenblick“ große Konjunktur. Man bemüht sich um die „big points“, die den vermeintlichen Ausschlag geben sollen. Wenn eine Sache auf Messers Schneide steht, ist sie medial und emotional interessant – da geht es um die Wurst. Da fallen die vielen kleinen Elemente des regulären Lebensalltags kaum ins Gewicht. „The winner takes it all“ – das ist die folgerichtige Devise, auch wenn der Song von ABBA schon aus den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts stammt. Der Verlierer „standing small“ hat in dieser Sicht der Dinge mehr als nur im Moment das Nachsehen, sondern empfängt eine Art Gesamtbewertung als „loser“. Aber Vorsicht, der Gang der Dinge fährt über alle großen Ereignisse hinweg und zermahlt sie in kleine Augenblicke, auch wenn der große Moment das so überhaupt nicht vermuten lässt in all seiner Grandezza. Erst am Ende der Entwicklungen, Läufe und Verfahren zeigt sich, worauf es hinauswollte oder hinauskommen konnte. „An den Früchten“, so die Anmerkung Jesu in seiner Bergpredigt, erkennt man‘s.

Und Früchte brauchen ja auch ihre Zeit.
Ob das übrigens auch für das Handeln Gottes gilt, das mit dem dicken Ende? Das wäre doch einmal ein anderes Reden vom Ende der Welt.

 
Helmut Aßmann


14 Freunde

30. juli 2018

Nichtoffiziellen Behauptungen zufolge brauchen moderne Algorithmen der üblichen sozialen Medien nur vierzehn Freundschaftsangaben bei Facebook, um das genaue Persönlichkeitsprofil eines Menschen zu bestimmen. D. h. also zu erkennen, welche Entscheidungen er in welchen Situationen fällen, welchen Vorlieben er folgen und welchem Milieu er zuzuordnen sein wird. Schon drei Facebook-Kontakte, so heißt es, sollen ausreichen, um ein grobes, aber zutreffendes Profil erstellen zu können. Ob es nun vierzehn, vier oder vierzig sind: Entscheidend ist die Aussage, dass es nur weniger Kontakte bedarf, damit eine Maschine ganz emotionslos und unbestechlich ein Bild von mir zeichnet, dass in weit über 90% der real existierenden Lebenssituationen in der Lage ist, mein Verhalten und meine Sicht der Dinge vorherzusagen. Das finden manche Menschen so aufregend und verlockend, dass sie alles daran setzen, dieses Vermögen zu perfektionieren und zur Vollendung zu treiben. Andere wiederum halten diese Perspektive für einen solchen antihumanen Horror, dass sie kurz davor stehen, Anschläge auf jene Firmen zu begehen, in denen derlei erdacht und ins Werk gesetzt wird. Aufzuhalten ist die Entwicklung der künstlichen Intelligenz, die solche Kompetenzen als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit zu etablieren sucht, nach menschlichem Ermessen nicht. Die Sache läuft.
Meine Frage betrifft die 14 Freunde. Und zwar in dreierlei Hinsicht. Erstens: wer hat schon 14 Freunde, die diesen Namen auch verdienen? Zweitens: Welcher von diesen Freunden, die diesen Namen auch verdienen, betreibt einen Facebook – Account? Und drittens: Wenn die Summe der Profildetails, die sich aus den 14 Freundschaftszusammenhängen erheben lässt, weit über 90% meiner realen Existenzeigenschaften ausmachen – wer gibt die Gewähr, dass die verbliebenen nichterhobenen Merkmale nicht die entscheidenden sind? Es ist wie bei der berühmten Weisheit, dass weniger als 20% der Inhalte einer Rede für deren Erfolg verantwortlich seien: Der geäußerte und damit verbindliche Inhalt liegt aber dennoch zu 100% bei diesen vermeintlich vernachlässigbaren 20%. Ich lege Ehre ein für die letzten Prozentpunkte menschlicher Unberechenbarkeit: hier wird der Sieg über die Maschinen erfochten. Wie bei John Connor und dem Terminator II, jawohl.

 
Helmut Aßmann


Dürre

25. juli 2018

Der diesjährige Sommer begann bereits Anfang Mai. Sagenhaft lange Sonnenzeiten, wenig Regen, herrliche Abende mit Grill und guter Nachbarschaft, schöne Menschen in luftiger Kleidung. Über all der meteorologisch bedingten Lebensfreude stellt sich allmählich ein Unbehagen ein. Zuviel Sonne, zu warm, zu trocken, zu wenig Niederschlag, selbst dann, wenn er kübelweise aus dem Himmel kommt. Es ist Dürre, also das, was im Alten Testament als lebensbedrohlich für Mensch und Tier beschrieben ist. Der Boden gibt nicht mehr hinreichend Nahrung, die Existenzgrundlage des Daseins verdunstet. Das wurde damals als Heimsuchung gewertet, als ein Umstand, angesichts dessen Bittgebete zum Himmel geschickt, Opfer dargebracht und Selbstkasteiung praktiziert wurde. Man ahnte, dass der verschlossene Himmel und die verschlossenen Herzen etwas miteinander zu tun haben könnten.
Wir leben in einer Zeit, in dem man in solchen Fällen einfach weltweit zukauft – irgendwo wird es schon noch was geben. Aber wir leben auch in einer Zeit, in der diese einfache Hoffnung an ihre planetaren Grenzen kommt. Was, wenn Dürre auch anderswo herrscht, weil das Klima überall verrückt spielt? Was, wenn die Kornkammern absaufen statt Engpässe überstehen zu helfen? Was wenn der weltweite Hunger einfach die Möglichkeiten der übriggebliebenen fruchtbaren Böden übersteigt? Derzeit läuft der Raubbau an den Böden durchaus darauf hinaus. Das vielfach beklagte Sterben der Bienen, Insekten, Vögel nicht nur in unserem Land illustriert darüber hinaus, dass nicht nur unsere Lebensräume bedroht sind, sondern auch die aller anderen Kreaturen. Die Dürre ist nicht nur ein meteorologisches Problem, sondern ein irdisch-geschöpfliches. Es handelt sich um Kahlfraß in globaler Dimension.

Zeit, ein Maß zu suchen. Das Maß des Menschlichen, von Neuem. Wir sind eben keine Götter, die eine Welt erschaffen. Wir sind Menschen, die von einer erschaffenen Welt leben.

 
Helmut Aßmann


Brandbeschleuniger

17. juli 2018

In verschiedenen Zeitungen tauchte in den vergangenen Tagen die Überlegung auf, man sollte die täglichen Polit-Talkshows für mindestens ein Jahr aussetzen. Das hätte nicht nur den Vorteil, dass Sandra Maischberger, Maybrit Illner und ihre Kolleginnen sich nicht unentwegt mit dem Ende der Demokratie, dem Ende Europas oder dem Ende der Welt beschäftigen müssten. Die ganz normale Politik könnte sich dann noch einmal konzentrierter ihrer Arbeit zuwenden, statt täglich die Einlassungen telegener oder telephober Kollegen nach ihrer Sprengkraft beschnüffeln zu müssen, diese allmählich ins Groteske wuchernden Kommentarkommentierungsketten. Talkshows als politische Brandbeschleuniger sollten deswegen, so die Vorschläge, eine Weile nicht zur Anwendung kommen. Krach gibt es ohnehin genug. Dem Präsentations- und Geltungsbedarf bestimmter Talkgäste wäre dann auch ein vernünftiger Riegel vorgeschoben – noch ein respektabler Grund. Wie festgezurrt übrigens diese Talkerei auf ihre Katastrophenverkündigung ist, ließ sich unlängst bei Maischberger besichtigen. Bei der Diskussion über die in der Tat unsägliche CDU-CSU-Rumpelei zur Asylpolitik kam es überraschend zu einem Eingeständnis von Wirtschaftsminister Peter Altmeier zu dieser Causa. Er entschuldigte sich in aller Form für diesen miserablen Beitrag zu demokratischer Kultur und räumte das parteiliche Fehlverhalten rundweg ein. Einen kurzen Augenblick, wirklich nur einen kurzen Augenblick hielt die Moderatorin inne, sichtlich unsicher, was man mit einer solchen ehrlichen Anmerkung anfangen solle – und fuhr dann mit dem üblichen Problematisierungs-, Unterstellungs- und Behauptungsgeschwätz fort. Dabei wäre es die Möglichkeit gewesen, ein Mal hinter die Fassade zu schauen, auf das Wort im Wort zu hören, vielleicht sogar die Ratlosigkeit aller Beteiligten kurz zu thematisieren. Ging nicht. Die Entschuldigung fand keine Abnehmer. Eine tragische Situation. Die Talkshow – Leutchen sind verpflichtet, Unruhe zu stiften. Dafür bekommen Sie ihr Geld. Ach, wenn man doch lehren könnte, wann man das Maul hält!

Wie war das noch? Ins Buch des Lebens geschrieben sein…

 
Helmut Aßmann


Instagram

09. JULI 2018

Zeitungsnachrichten zufolge hat Instagram die 1 Milliarden – Grenze geknackt. Das betrifft nicht die Bilder, sondern die Nutzer. Jeder achte Mensch auf dem Planeten bedient sich also inzwischen des Bilderdienstes, der zum Facebook – Konzern gehört. Instagram – ein Bilderdienst, also eine Dienstleistung, die sich darauf spezialisiert hat, Unmengen von Bildmaterial einem höchst offensiven, unberechenbaren und anonymen Publikum zu präsentieren, um als Dienstleistung danach um so intensiver in Anspruch genommen zu werden. Es gibt in diesem Geschäft ein klar erkennbares Interesse und ein unbestimmbares Risiko. Das Geschäft ist klar. Das Risiko besteht darin, dass niemand sagen und vorhersehen kann, was aus den Bildern, die gepostet werden, entsteht. Es handelt sich ja nicht nur um eine Art digitales Fotoalbum, das man zum Sonntagskaffee anlässlich eines Besuches hervorholt und mit Freunden betrachtet, um es danach wieder wegzustellen. Die Bilder sind vielmehr ein Signal, das in einen dunklen Raum gesendet wird, in dem sich daraus etwas formiert, das aus der Tür kommen wird. Aber niemand weiß, worum es sich handelt. Wird es süß, niedlich, freundlich, vertraut oder inspirierend sein oder wird es einen fressen? – keine Chance, das vorher zu ermitteln. Die Sorge, gefressen zu werden, ist aber zuverlässig immer kleiner als die Hoffnung, geliked zu werden. Das einzige, was sich definitiv sagen lässt, betrifft das Ziel der Dienstleistung: Sie will und soll und wird wiederholt werden. Tag um Tag, Stunde um Stunde, ja, Minute um Minute. Die bei allen Digitalskeptikern rhythmisch wiederholten Warnungen vor dem Suchtpotential der Internetdienste sind inzwischen klinisch bestätigt. Aber das nur am Rande. Der Punkt ist: Es geht nicht um die Bilder. Was immer da abgelichtet wird, ist am Ende uninteressant. Entscheidend ist, ob es gelingt, öffentliche Aufmerksamkeit zu binden und eine Reaktion zu erzeugen. Die Anzahl der Likes sagt nichts über den Inhalt des Gezeigten, sondern nur über die Erregungskurve des Publikums. Das wissen auch die, die ihre Bilder posten. Warum tun sie es dann trotzdem? Vermutlich, weil das eben die eigentliche Mangelerscheinung ist: keine Aufmerksamkeit zu bekommen.

Wie war das noch? Ins Buch des Lebens geschrieben sein…

 
Helmut Aßmann


Controller

02. juli 2018

Das ist ein interessanter Beruf. Früher hieß das Kontrolleur. Oder Kontrolleurin. Das waren Menschen, die dafür bezahlt wurden zu prüfen, ob andere Menschen ihre Fahrkarten entwertet, Billets gelöst und Sitze richtig eingenommen haben. So etwas gibt’s immer noch. Wenn es aber darum geht, komplexe Wirtschaftskreisläufe, Finanzströme, Projektprozesse und ähnlich komplizierte Menschheitsvorhaben zu steuern, zu begleiten und zu überwachen, kommt man mit Kontrolleuren nicht mehr weiter. Dann braucht es Steuerprüfer, Rechnungsämter und Investigativjournalisten von der Süddeutschen Zeitung, dem NDR und dem WDR, um Herzeig- und damit Korrigierbares herauszubekommen. In der nächsten Komplexitätsstufe, nämlich den prophylaktischen Maßnahmen bei den komplizierten Menschheitsvorhaben, kommen die sogenannten Controller zum Zuge. Das sind die Leute, die vor der eigentlichen Prüfung herausbekommen sollen, was finanziell oder strukturell aus dem Ruder läuft. Sozusagen die hausinternen Gerichtsvollzieher, die allerdings nicht mit dem Kuckuck oder einem bösen Steuerbescheid, sondern übelstenfalls mit einem erhobenen pädagogischen Zeigefinger daherkommen. Es handelt sich gewöhnlich um rechtschaffene Wesen, es sei denn, irgendein Unhold hat sie aus ganz gewiss unlauteren Motiven geschmiert. Controller sind, das ist das Dumme an diesem Berufsstand, so etwas wie etatisierte Misstrauensvertreter. Sie stehen dafür, dass man weder die Menschen noch die komplizierten Dinge sich selbst überlassen darf. Entweder kommt jemand auf dumme Gedanken, oder die Dinge laufen unberechenbarer als berechnet. So ist das ja normalerweise. Schon in der Physik ist das naturgesetzlich formuliert: Normalerweise, wenn keiner eingreift, wächst die Entropie, d.h. das Maß an Unordnung und Energieverlust. Es sei denn, man unterstellte, es ginge – wenigstens gelegentlich – auch einmal anders. Dann würde man sich die Controller sparen und auf Vertrauen setzen müssen. Menschlich reizvoll, wirtschaftlich riskant. 

Immerhin: Gott hat am Ende auf Controller verzichtet.

 
Helmut Aßmann


Grenzschutz

25. juni 2018

Wer hätte gedacht, dass die Frage nach den Abwehrmaßnahmen gegen zu hohe Flüchtlingszahlen das Format hat, sowohl Europa zu entzweien als auch noch die deutsche Regierung zu Fall zu bringen? Nun, all diejenigen, die die Grenzschutzkonjunktur auf der ganzen Erde beobachten. Es sind ja nicht nur Ungarn und andere Balkanstaaten, die die Westroute nach Mitteleuropa durch Grenzzäune abgeschnitten haben. Die USA versuchen sich nach Süden abzuriegeln. Australien fährt einen restriktiven politischen Kurs zur Abwehr von Flüchtlingen. Italien und Frankreich pflegen ein gentlemen agreement unterhalb europäischer Vereinbarungen, in dessen Resultat Flüchtlinge hin- und hergeschoben werden wie Sperrmüllmöbel. Israel wird von einer 6-9 Meter hohen Betonmauer durchzogen, um Palästinenser und Terrorattacken fernzuhalten. Gemeinsam ist all diesen Maßnahmen, dass sie nicht nur das Problem nicht lösen, gegen das sie gerichtet sind, sondern noch dazu ein Misstrauen kultivieren, das auf ein Weltgefühl insgesamt durchschlägt. Nämlich: Die Wirklichkeit da draußen, jenseits der Mauer, ist gefährlich und voller übelwollender Kräfte und Subjekte; deswegen lasst uns in unserer vertrauten Komfortzone einrichten und versuchen, das Unsere oder uns Zustehende abzusichern. Liegt nahe, geht aber voll daneben. Denn damit kommt der Irrtum der Grenzschutzanlagen auf seine Spitze. Die Zeiten, in denen es Komfortzonen gab, die diesen Namen verdienten, sind längst dahin. Kein Zaun verhindert, dass trinkbares Wasser auf dieser Erde knapp wird. Kein Zoll unterbindet die Versteppung von Landstrichen, die Hunderttausende von Menschen in Bewegung setzt. Keine Mauer ändert an der weltweiten Abhängigkeit der Firmen von ihren Rohstoffen und Arbeitskräften irgendetwas. Im Gegenteil: Wer sich abschottet, muss die Menge der global virulenten Fragen mit seinen bescheidenen Bordmitteln lösen und dann noch wider besseres Wissen so tun, als könne er es. Letzteres kostet womöglich noch mehr Energien und Kraft als ersteres. 

Nein, das ist ein gefährlicher Irrweg. Grenzen durchlässig zu halten und Übergänge zu gestalten ist zwar mühsam, aufwendig, riskant und ergebnisoffen. Aber nur so lässt sich Krieg und Inzest vermeiden. Das hat sich Gott doch auch gedacht, als er seine Grenze überschritt.

 
Helmut Aßmann


Karius

18. juni 2018

Was für ein Elend mit dem jungen Mann aus Mainz am geradezu geschichtsträchtigen 26.5.2018 in Kiew! FC Liverpool gegen Real Madrid. Gleich zwei kapitale Missgriffe an einem Abend, in dem es um alles ging. Da hält der Benzema einfach nur sein dickes, langes Bein in die Luft, und schon liegt Kloppos rasende Truppe im Hintertreffen. Und dann diese Flutschnummer auf den Schuss von Gareth Bale… Man konnte mitheulen mit dem flachsblonden Hünen, der da auf ein Zwergenniveau zu schrumpfen begann, als ihm die zweite Pflaume ins Tor kollerte. Zwei Tage zuvor sinnierte die „Süddeutsche Zeitung“ noch über einen kommenden Manuel Neuer …. Solche sportlichen Fettflecke gehen aus dem Trikot nicht mehr heraus. Loris (wie kommt man auf solch einen Namen?) Karius ist nun also in den kommenden Jahren der, der beim Spiel gegen Real Madrid gleich zwei exzeptionelle Blackouts hingelegt hat – auch eine Art Weltrekord. Mit so etwas zu leben ist schwer. Nicht nur weil die anderen einem das hinterhertragen, sondern weil es einem selbst in den Kleidern hängt.  Da hat einer einen zentralen, ultimativen Auftritt auf der Bühne gesucht, bekommen und – vermasselt. So ist das mit zentralen, ultimativen Auftritten. Immer 50/50.
Zu erkennen indes, dass es sich bei diesem für ihn zentralen, ultimativen Auftritt für 99.999% aller anderen Menschen um einen x-beliebigen Moment gehandelt hat und dass er nach ein paar Tagen dem Geraune der anderen Nachrichten zum Opfer gefallen ist, braucht seine Zeit. Es geht ja nicht um eine Beschwichtigung der Bedeutung, als wäre es um nichts gegangen. Doch, das ist es. Aber eben nur in einem sehr kleinen und sich stetig weiter verkleinernden Relevanzfeld. Sich selbst – darüberhinaus – zuzugestehen, dass die beiden Böller aus Kiew nur in den Kleidern hängen, die einem die anderen überziehen, aber keine lebenslange Verpflichtung sind, braucht meist noch ein bisschen länger. Zumal sich aus einer solch tragischen Begebenheit leider auch unschwer eine neurotische Form von Identität konstruieren lässt: Es ist mein Geschick, dass ich damals usw., und deswegen werde ich für immer damit verbunden werden. Das wird aber nicht der Fall sein. Zu erkennen schließlich, dass eine geistliche Perspektive auf solche Vorgänge ohnehin darauf pocht, sich nicht an Lebensleistungen zu weiden, sondern sich an Verheißungen zu freuen, ist geradezu ein Geschenk des Himmels. 

 
Helmut Aßmann


Kompetenz

11. juni 2018

Ein überdehntes und zerfranstes Wort. Überbeansprucht und ausgeleiert. Dafür kann es natürlich nichts. Aber wir haben aus ihm eine Mischung aus Wundermittel und Hanswurst gemacht. Kompetenz ist irgendwie, wenn wer was kann, was meistens für wen anders gut ist. In den kirchlichen Diskussionsrunden gibt es beispielsweise die liturgische Kompetenz, also das Vermögen, ordentlich und unfallfrei einen normalen Gottesdienst abzufeiern. Oder die missionarische Kompetenz: das meint in etwa die Fähigkeit, das Evangelium so zu verkündigen, dass keiner auf der Stelle wegläuft. Dann kommen die organisatorische, die kommunikative, die ethische, die kirchliche und die sogenannte personale Kompetenz. Die personale Kompetenz übrigens ist so etwas wie ein pastoraler Doppelwhopper: da besteht die spezifische Kompetenz darin, ganz besonders persönlich zu sein. Die in Bildungsprozessen und Diskursen unentwegt thematisierten Kompetenzreihen unterstellen, dass es ein Können gibt, das für sich und als solches überzeugend und erstrebenswert wäre. Moderne Lehrpläne sind voll von Kompetenzgebirgen, die der Adept zu besteigen hat, wenn er den Anforderungen der Zeit genügen will.
Ich will das gar nicht rundweg madig machen, auch wenn ein gewisser Sarkasmus den vorlaufenden Zeilen mit Bedacht beigemengt ist. Sondern vielmehr auf eine wirklich feine und treffsichere Beschreibung aufmerksam machen, eben für das, was Kompetenz heißen könnte. Die geht so: Kompetenz ist zu begreifen als das Produkt von Können, Wissen und Willen. Es geht weder nur um Wissen und Kenntnis noch nur um praktische Fertigkeiten noch nur um Durchsetzungsvermögen – erst alles drei zusammen bildet den Wirkungsimpuls, den wir uns von etwas versprechen, was wir uns angewöhnt haben, Kompetenz zu nennen.  Und ist einer der drei Faktoren gar nicht vorhanden – egal welcher -, dann ist das Produkt immer Null. Es kommt in diesem Fall gar keine Wirkung heraus.
Das ist ein wichtiges Korrektiv für viele gutgemeinten und wohlfeilen Appelle, dass es mit dem guten Willen doch schon in der Hauptsache getan sei, vor allem bei ehrenamtlichen Ambitionen. Der gute Wille allein ist es nicht, wenn nicht Wissen und Können hinzukommen. Die ganzen bekannten Gegensatzpaare von Praktikern und Theoretikern, von Verwaltern und Visionären, von Routiniers und Greenhorns – sie haben nur ein bisschen Recht. Die gute Abstimmung zwischen Können, Wissen und Willen macht den Unterschied.

Kann man überall gebrauchen, oder?

 
Helmut Aßmann


Jogginghose

04. juni 2018

Karl Lagerfeld, nie um einen pointierten Satz verlegen, hat einmal formuliert: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Starker Tobak und restlos überzogen natürlich. Unerträglich arrogant und zynisch unter das normale Volk geschleudert. Da redet einer, als wäre er was Besseres und bildete sich darauf sogar noch etwas ein. Karl Lagerfeld eben. Trotzdem. Ich gestehe nämlich: Mir fallen bei diesem Satz meine sams- und sonntäglichen Morgenbesuche beim Bäcker ein, speziell hinsichtlich der Bekleidungsgewohnheiten der männlichen Kunden, die aus unerfindlichen Gründen  vorzugsweise am Wochenende die Aufgabe der Backwerksbeschaffung für das Frühstück auf sich zu nehmen scheinen. Da kann man die Probe aufs Exempel machen und Jogginghosen in allen farblichen und stofflichen Aggregatzuständen bestaunen: von der Adidas-Markenhose bis zum Ballonseidenhosenwindspiel alles dabei. Stylish – überkandidelt die einen, schlabbrig – hingehauen die anderen. Zwischen Staunen, Fremdschämen und an Karl-Lagerfeld-Denken ist alles dabei. Jogginghose am morgen ohne Not ist, das, finde ich, muss man zugestehen, tatsächlich wirklich eine Ansage. Etwa: Musste schnell gehen - Knöpfe, Gürtel und Reißverschlüsse hätten zuviel Zeit gekostet. Oder: So ist es am bequemsten, fast wie nackt, nur nicht so peinlich. Oder, dritte Vermutung: Endlich mal so sportlich aussehen, wie man nie war, und am Samstag morgen interessiert es keinen. Lagerfeld behauptet nun, dass diese textile Message zugleich eine existentielle Bankrotterklärung sei. Willentlicher oder gleichgültiger Verzicht auf Form, Begrenzung, Anstrengung und Widerstand – und bestehe er nur aus dem Aufwand, eine gescheite Hose zuzuknöpfen. Von den anderen Kleidungsstücken reden wir mal nicht.
Und da gibt es noch die Gottesdienste, die sich anfühlen wie eine Jogginghose.

 
Helmut Aßmann


Alleinstellungsmerkmal

14. mai 2018

Es gibt viele Anbieter von Zahnbürsten. Ja, und es gibt ziemlich verschiedene Sorten von Gebissen. Einzelheiten lasse ich mal beiseite. Zähneputzen funktioniert gleichwohl im Prinzip immer gleich, sofern es sich um selbstgetragene Bio-Zähne handelt und nicht um Porzellan- oder Plastikprothesen. Wenn man also – sagen wir – 10 verschiedene Anbieter von Zahnbürsten vor sich hat, jeder mit einem Sortiment von jeweils wieder 10 verschiedenen Zahnbürsten, macht 100 verschiedene Exemplare: Wie bekommt man vor einem Regal bei Rossmann, Müller oder dm heraus, womit man sich seine Zähne putzt? Es gibt ja nur ein paar nachvollziehbare Kriterien, denke ich. Entweder man nimmt die, die schon der Vater oder die große Schwester bevorzugt hat. Oder man entscheidet sich für die günstigste Gebissputze. Oder man hört auf die weisen Einflüsterungen des Zahnarztes (hoffend, dass der nicht gerade einen Kontrakt mit einer Zahnbürstenfirma geschlossen hat). Am Ende der Entscheidungskette, wenn alles Vorstehende nicht zutrifft, steht dann vermutlich die Werbung. Irgendeine Traumgebissinszenierung erscheint vor dem inneren Auge, die einem den Neid in die Kiefer treibt und die Hand an das Produkt führt. Und dann vermutlich aufgrund eines Alleinstellungsmerkmals, das per Foto oder Filmchen grell vorgestellt worden ist: die Bürstenform, die Farbe, die Handlichkeit, die Biegsamkeit, die Materialität der Borsten – was weiß ich. Die Details können gar nicht detailliert oder blödsinnig genug sein. Irgendwie muss dieses Hygienegerät eben etwas Einzigartiges haben, sonst gehört es nicht in ein modernes Discounterregal. Wenn alle das Gleiche verkaufen oder wenigstens an den Mann bzw. den Menschen wollen, dann werden Accessoires zu Kraftmomenten, an denen sich der Bestand des Angebotes entscheidet. Das Alleinstellungsmerkmal der Bürste macht den Unterschied – nicht das Zähneputzen.

Wenn die Kirchen auf dem spirituellen Zahnputzmarkt Zahnbürsten mit geistlichem Alleinstellungsmerkmal ins Regal legen: ist das dann modern oder Unfug? Ist es gesellschaftliche Teilhabe unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts oder die Resterampe einstmals ernstgemeinter Religion? Wenn man es nur genau wüsste!
Hauptsache ist ja erstmal, dass die Leute ihre Zähne sauber bekommen wollen. Spirituell, meine ich. Das ist schon ungewöhnlich genug.

 
Helmut Aßmann


Fahrzeuginnenreinigung

07. mai 2018

Auf einem Cartoon ist ein trauriger Autofahrer zu sehen, der sein Fahrzeug an einer Tanke mit einem Staubsauger säubern will. Über der Waschstraße steht auf einem großen Banner eben dies: „Fahrzeuginnenreinigung“. Und der arme Autofahrer sinniert vor sich hin: „Man kann es auch übertreiben mit der geschlechtergerechten Sprache …“ Haha.
Ich finde den Cartoon natürlich richtig gut. Die in Rede stehende Sache ist aber inzwischen ein Dilemma, das alle textlich orientierten Gesellschaftsbereiche erfasst hat. Jeder Versuch, einen geschlechtergerechten Text in einer lesbaren Form zu Papier oder in Druck zu bringen, landet entweder in orthographischen Hässlichkeiten, verbalen Blähungen oder grammatischen Zumutungen – nicht weil jemand zu blöd ist, sondern weil die Sache nicht zu lösen ist. Mittlerweile gibt es noch eine interessante Aussprachevariante dazu: das Wort Lehrer*innen wird mit einer Kunstpause an der Stelle des „*“ ausgesprochen, so dass sich das Wort einfach anders anhört als es üblicherweise der Fall ist. Aber das verstärkt nur die Irritation; wie spricht man ein „*“ wirklich aus? Und was wird aus Worten, wenn wie sie mit Sonderzeichen drapieren?
Die deutsche Sprache – wie viele andere auch – transportiert einen Männlichkeitsdrall, der nicht von der Hand zu weisen ist. So wie „Gott“ auch theologisch zwar nie mit einem Geschlecht ausgestattet gewesen ist, aber sich als männliche Gestalt nun einmal sprachlich Raum verschafft hat. Natürlich ist es wohlfeil, den kreativen bis hirnrissigen Versuchen, eine geschlechtergerechte Sprache zu konstruieren, den bildungsbürgerlichen Vogel zu zeigen, aber gelöst ist damit trotz gut geölter Empörung nichts. Sprache ist ein lebendiges Wesen. Sie hat auch einen Eigenwillen, glaube ich. Sie lässt sich von weltanschaulichen Dogmen nicht fangen – weder von patriarchalen (es heißt kurioserweise „die“ Sonne und „der“ Mond im Deutschen), noch von matriarchalen oder genderpolitischen. Da muss eben eine Weile herumprobiert werden, bis ein guter Weg gefunden ist oder sich ideologische Überspanntheiten von selbst erledigen. Mir scheint es am einfachsten zu sein, wenn wir darauf achten, dass unsere Worte klar, einfach und schön sind. Diese Mühe ist fast immer ergiebiger als die gehorsame Beachtung formaler Regelwerke.

Im Glauben ist das nach meiner Erfahrung nicht anders.

 
Helmut Aßmann


Camouflage

23. april 2018

Seit etlichen Jahren ist das nun so: junge Leute und ihre Camouflage – Mode. Fleckentarnanzüge als stylishes Accessoire in den verschiedensten Darreichungsformen: gern als Hose oder Stiefel, um militärisches Aussehen anzudeuten, vielleicht auch einen entsprechenden Habitus, dem man ansonsten gar nicht obliegt. Aber auch Jacken, Parkas, Baretts, gelegentlich einfach Schulterklappen auf dafür nicht vorgesehenen Hemden oder Blazern, kurz: fast alles außer Stahlhelm. Das wär dann doch zu dicke.
Nun war ich früher einmal bei der Bundeswehr und habe Wehrdienst geleistet. 15 anstrengende Monate lang, als Panzergrenadier. Ja, genau diese Erdferkeltruppe, deren Überlebenszeit pro Mann im direkten Kampfeinsatz auf ein paar Minuten berechnet wurde, damals, zu Zeiten des Kalten Krieges. Als ehemaliger Wehrpflichtiger habe ich bis heute eine starke emotionale Reserve der modeaffinen Camouflage gegenüber, auch wenn ich längst aus dem Reservistenstatus heraus bin. Gibt’s ja auch nicht mehr in einer Freiwilligenarmee. Ich habe meine militärischen Kleidungsstücke immer noch im Keller im Seesack. Es ist Kriegsmaterial, nach wie vor. Die Fleckentarnanzüge sind irgendwie mit Gewalt behängt oder besser: imprägniert, wenn auch – natürlich – im übertragenen Sinn. Aber wenn einer militärische Kleidung im zivilgesellschaftlichen Umgang trägt, will er (oder sie) doch auch etwas damit sagen oder wenigstens einen Bezug herstellen. Bei den Nazi-Tretern ist das offenkundig. Die spielen damit nicht, sondern thematisieren es frank und frei. Und bei den Jugendlichen, die damit ein machtförmiges Gehabe zur Schau stellen wollen, ist es nicht anders. Aber in der ansonsten so wunderbar internationalen und ästhetisch-pazifizierenden Modebranche? Ist das ein Spiel, eine Ironie, eine Verfremdung, wenn militärisches Textilgerät an den Mann oder die Frau gebracht wird? Oder ist das eine heikle Unterschätzung der Gewalt, die sich darin verbirgt?

Ich wundere mich selbst – da werde ich eigenartig humorlos. So sehr ich Masken und Verkleidung mag.

Helmut Aßmann


Facebook

09. april 2018

Süddeutsche Zeitung, 27.3.2018, Werbeanzeige von Facebook:

„Es ist unsere Verantwortung,
deine Informationen zu schützen.
Wenn wir das nicht können,
haben wir diese Verantwortung nicht verdient.

Du hast vermutlich gehört, dass die Quiz-App eines Wissenschaftlers im Jahr 2014 unerlaubt die Facebook-Daten von Millionen von Menschen weitergegeben hat. Das war ein Vertrauensbruch, und ich möchte mich dafür entschuldigen, dass wir damals nicht mehr dagegen getan haben. Wir unternehmen nun die notwendigen Schritte, um sicherzustellen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.
Wir verhindern bereits seit längerer Zeit, dass solche Apps so viele Informationen erhalten. Wenn du dich heute mit Facebook bei anderen Apps anmeldest, begrenzen wir die Daten, die diese Apps von dir erhalten.
Darüber hinaus überprüfen wir jede einzelne App, die damals Zugriff auf größere Datenmengen hatte. Wir rechnen damit, dass es noch mehr geben könnte. Sobald wir sie finden, werden wir sie sperren und alle betroffenen Nutzer benachrichtigen.
Außerdem zeigen wir dir, welchen Apps du Zugriff auf deine Informationen gewährt hast. So kannst du die Apps löschen, die du nicht mehr verwenden möchtest.

Ich verspreche, dass wir unsere Arbeit in Zukunft besser machen.
Mark Zuckerberg“

Immerhin eine Entschuldigung.
Den Rest glaube ich nach dem bislang Vorgefallenen (und Berichteten) nicht.
Ich erinnere mich nur an ein noch elenderes Zugeständnis an Hintergehung von Kunden in einem solchen Stil:

Die Erklärung der deutschen Autobauer im Rahmen des Diesel-Skandals.
Von dort gibt es bis heute nicht einmal eine Entschuldigung.

Helmut Aßmann


Opfer

04. april 2018

Eine Woche vor dem Karfreitag wurde der französische Polizist Arnaud Beltrame im südfranzösischen Trébes von einem vermeintlichen IS-Sympathisanten erschossen. Er hatte sich als Austausch gegen eine weibliche Geisel zur Verfügung gestellt. Sein Telefon hatte er angeschaltet auf einem Tisch liegen lassen, damit seine Kollegen die Ereignisse im dem Supermarkt verfolgen konnten, wo der Terrorakt zum Ende kam. Die Geisel kam frei, der Terrorist wurde beim polizeilichen Zugriff getötet.
Tags drauf wurde Arnaud Beltrame nicht nur in der französischen Öffentlichkeit als Held gefeiert. Er hatte sich, so die offizielle und zu Recht bewundernde Lesart, selbst für einen anderen Menschen geopfert. Mehr an Hingabe geht nicht. Die Bereitschaft, im Konfliktfalle sogar sein Leben für andere einzusetzen, ist das Größte, was ein Mensch tun kann. Jesus selbst spricht das im Johannesevangelium ausdrücklich aus (15,13).
Die Frau aber, um die es ging: Für sie ist dieses Opfer schwer, nicht obwohl, sondern weil sie lebt. Sie muss damit zurande kommen, dass ein anderer für sie gestorben ist. Sie muss diesen Einsatz ratifizieren, sich seiner würdig erweisen. Und wenn ihr das nicht gelingt, dann ist das Opfer auf vertrackte Weise umsonst gewesen. Ein Rechtfertigungsdruck lastet auf ihr, den weder der Polizist noch irgendjemand sonst aktiv an sie heranträgt. Er liegt in der Logik des Opfers selbst. Wie aber erweist man sich eines Lebensopfers als würdig? Wer richtet, und wer nimmt die Ratifizierung an?
Ist das mit dem Opfer Jesu anders? Ich glaube: nein. Wie die Geschichte zeigt, ist allzu oft die Hingabe Jesu als betriebspsychologisches Druckmittel verwendet worden: „Das tat der Herr für dich – was tust du für ihn?“ Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jesus seine Hingabe an Gott als pädagogisches Zwingwerk verstanden haben wollte. Sonst wäre auch die Auferstehung kein österliches Wunder, sondern eine nachgereichte Belohnung Jesu für den von ihm geleisteten Aufwand. Nein, für einen Glauben, der im Tod bestehen soll, wäre das zuwenig.

Helmut Aßmann


Gabriel

09. märz 2018

Morgens, wenn ich vom Hauptbahnhof zum Landeskirchenamt gehe – ein Fußweg von ca. 12 Minuten, erlebe ich das Schauspiel einer erwachenden Stadt. Vor den Straßenläden werden noch einmal die Schaufenster geputzt. Berge von Papier und Verpackungsabfall stehen zum Anholen vor den Häusern. Die Handwerker rangieren ihre Lieferwagen in die richtige Position, um Werkzeug oder Material besser anliefern zu können. Die Bettler und Obdachlosen pellen sich aus ihren Schlafsäcken und ordnen ihre mehr oder weniger übersichtliche Baggage, um einem weitgehend offenen Tag entgegenzusehen. Es hat etwas Heimeliges an sich, so früh unterwegs zu sein. In der Kälte aber auch etwas Barmendes, insbesondere die Obdachlosen in diesen Stoff- und Kleidungsgebirgen ihre Morgen ergreifen zu sehen. Einer aus dieser Riege, ein alter Mann vom ersten Ansehen her, übernachtet offenbar zwar nicht auf der Straße, steht aber fast jeden Morgen an derselben Stelle und gehört auf diese Weise zum sozialen Inventar des Großstadtmorgens. Er ist mir aufgefallen, weil er auf eine besonders armselige Weise bettelt. Er steht mit einem Stock, deutlich gebeugt, stets zwischen der Sparkassenfiliale und einer großen Hugendubel-Niederlassung, ohne jede Bewegung, ohne Schild oder irgendein mitleiderhöhendes Haustier und hat lediglich eine kleine rote Plastikschale von IKEA vor sich stehen, so ein unkapttbares Dessertschälchen für die Kleinen. Drinnen liegen ein paare Centstücke. Das ist alles. Der Mann tut gar nichts, um Geld einzuwerben. Nicht einmal die kunstvoll verdrehten Scheinlähmungen mancher Bettelvirtuosen hat er sich angewöhnt. Er steht nur da und wartet. Ein Schauspiel, das mich seit vielen Monaten immer wieder anrührt, besonders wenn es kalt ist.

Anfang dieser Woche nun bin ich einmal zu ihm gegangen, hab ihm an die Schulter gefasst und ihn gefragt, wie er eigentlich heiße. Seit langer Zeit, fuhr ich fort, sähe ich ihn hier stehen und wollte nun einfach gerne einmal wissen, um wen es sich da handelte, den ich Morgen für Morgen an meinem Weg zum Arbeitsplatz sehen würde. Als ich ihn ansprach, hob er den Kopf und sah mich an, sichtlich überrascht und auch irgendwie erfreut, dass jemand das Wort an ihn richtet. Seine Antwort lautete: „Gabriel“. Ich war noch einmal mehr gefangen von dieser Szene, musste mich kurz sammeln und fragte weiter: „Gabriel? Wie der Engel?“. Eine Art schiefes Lächeln breitete sich wie in knapper Hauch über seinem Gesicht aus, nur einen Moment lang, und er antwortete mit einem kaum merklichen Nicken: „Wie der Engel…“ Dann erlosch sein Kontakt zu mir, seine Augen wurden wieder leer. Ich legte das Kleingeld, das ich hatte, in diese lächerliche rote Plastikschale und ging meiner Wege.

Gabriel. Er nannte nicht seinen Nachnamen. Nur dieses eine Wort. Als würde es reichen. Und: irgendwie reicht es ja auch vollkommen. Ich glaube, ich hab es verstanden.

Helmut Aßmann


Theater

01. märz 2018

Nun hat es erstens den Schulz und zweitens auch irgendwie die SPD zerlegt. Manches war abzusehen, anderes ist selbst für den jahrzehntelangen Beobachter der nachkriegsdeutschen Regierungsbildungsverfahren nach wie vor verblüffend. Nach der verblendeten 100% Zustimmung bei der Wahl zum Parteichef vor rund einem Jahr stand freilich zu erwarten, dass sich dieser Missgriff rächen würde. Soviel Messianität im politischen Berlin geht einfach nicht. Dass es am Ende aber so brutal für Martin Schulz werden würde, treibt einem das schiere Mitleid in die Seele.
Die gegenwärtigen autoaggressiven Tendenzen aber offenbaren auch etwas über die Kulisse, vor der dieses Theater gespielt wird. Die Szenen haben etwas von Gladiatorenkämpfen an sich, weniger von Auseinandersetzungen um eine handlungsfähige Regierung.
Dazu aber trägt die Unterhaltungs- und Infotainmentkultur, an die wir uns gewöhnt haben, einen wichtigen Teil bei. Allein etwa der Umstand, dass unmittelbar nach nervenaufreibenden Siegen oder Niederlagen die Protagonisten vor die Kameras treten müssen, um in irgendeiner meistens wenig ersprießlichen Form dazu Stellung zu nehmen, ist aufschlussreich. Die Leute sind ja nervlich meistens am Ende. Was sollen sie also groß an den Tag legen? Anderes als gestanztes Sprach- und Gedankenmaterial kann da nicht zustande kommen. Und jedes Wort, das gesagt oder vermieden wird, jedes Thema, das umgangen oder angeschnitten wird, kommt umgehend in die mediale Echokammer, wird millionenfach verstärkt und entfaltet dann seine Eigendynamik, die nur begrenzt mit dem zu tun hat, was der Sprecher möglicherweise hat sagen wollen. Das mediale Publikum mischt sich auf diesem Wege aktiv ein und lenkt die Diskussion. Die Talkshowjongleure müssen zudem Quotenvorgaben beachten, ganz unabhängig vom Relevanzniveau der verhandelten Themen.
Klar, das ist Demokratie; so funktioniert freie Meinungsäußerung unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Man kann sich davon nicht einfach dispensieren. Und wenn einer politisch an die Starkstromleitung des öffentlichen Lebens greift, muss er sich nicht wundern, wenn er entsprechende Energieausschläge wegstecken muss.
Nur, wie unbarmherzig dabei Menschenopfer gebracht werden, das hat geradezu religiöse Züge. Der Druck, der durch eine unablässige Beobachtung erzeugt wird, führt zwangsläufig dazu, Fehler zu machen, die Contenance zu verlieren, sich zu vergessen. Das politische Theater wird ein übermenschliches Geschäft. 

Helmut Aßmann


Zeig dich!

19. februar 2018

Die neue Fastenkampagne der EKD lautet: „Zeig dich! – Sieben Wochen ohne Kneifen“. Gemeint ist der Appell, sich in der laufenden Fastenzeit etwas ebenso Einfaches wie Kompliziertes vorzunehmen: nämlich beherzt auf die Dinge zu reagieren, die einem auffällig werden, quer kommen oder einfach jemanden brauchen, der dazwischengeht. Also nicht „kneifen“, d.h. den Mund halten, weggehen oder –schauen, sich auf das Eingreifen anderer verlassen usw. Statt der sattsam bekannten Konfliktvermeidungsstrategien nunmehr Intervention, Engagement und konstruktives Eingreifen. Eine in der Tat selten gewordene Haltung, so scheint es, legen es doch die komplizierten Rechts- und Haftungsverhältnisse in einer überregulierten Gesellschaft nahe, sich weder die Hände schmutzig noch das Gewissen schwer zu machen.
Was das jetzt genau mit Fasten zu tun hat, sei einmal dahingestellt. In Jes.58 findet sich derlei durchaus verbunden, insofern gibt es einen nachvollziehbaren biblischen Hintergrund dieses Bezuges. Den Appell allerdings mit der Aufforderung „Zeig dich!“ zu verbinden, ist wenigstens kompliziert. Auf der einen Seite ist selbstverständlich, dass es um „Gesicht zeigen“ geht. Sich aus der Anonymität der betrachtenden Masse herauszubewegen und als erkenn- und benennbares Individuum das Heft des Handelns zu ergreifen. Das ist der entscheidende Vorgang. Aber wenn ich es andererseits recht verstanden habe, ist eben das ja nicht das Motiv der „Helden des Alltags“. Also derjenigen, die in der Tat in bestimmten Situationen nicht „gekniffen“ haben.  Die wollen, so ist jedenfalls immer wieder in den persönlichen Berichten und Kommentaren nachzulesen, ja nicht sich selbst zeigen, sondern dem Recht, dem Anstand, dem bedrohten Mitmenschen Geltung verschaffen. Was sie zeigen, ist eben das Recht, der Anstand und das Lebensrecht des bedrohten Mitmenschen. Es gibt in dieser Formulierung „Zeig dich!“ eine kleine, aber gemeine Authentizitätsfalle, die das gute Werk der tätigen Nächstenliebe in eine Medaille für gelungene Lebensperformance umwidmet. Das aber ist genau das Gegenteil von tätiger Nächstenliebe.
So ist das mit Appellen: da handelt es sich um tückische rhetorische und thematische Gesellen. Hinten heraus ist in ihnen immer noch einmal ein Subtext zu hören, der möglicherweise etwas ganz anderes verkündigt als der Appell beim ersten Lesen oder Vernehmen zu  behaupten vorgab. Noch ein Grund, bei Appellen vorsichtig zu sein.

Helmut Aßmann


1.Kor.13,14

05. februar 2018

Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Diese Worte im feierlich aufgeladenen Raum gesprochen, dabei den Ring über den rechten Finger gestreift – darüber geht nichts mehr. Und, ganz ehrlich, wahrscheinlich gibt es nichts Erhabeneres und Ergreifenderes, was je über die Liebe von Menschenhand geschrieben wurde.
Als erstes also: ein Hoch auf den Apostel Paulus! Das hat ihm bestimmt ein Engel oder der Geist Gottes in die Feder diktiert. Trotzdem, ich bin der Meinung, Paulus hat noch etwas vergessen. Über all dem großartigen, berührenden und zu Herzen gehenden, tiefen Ernst fehlt da noch etwas. Der Humor. Der Humor fehlt. Ohne ihn wird man von der Bedeutsamkeit der mächtigen Worte erschlagen. Erst der Humor macht das Pathos verdaulich. Andernfalls läuft man Gefahr, an der aufgefahrenen Grandezza besonderer Augenblicke zu ersticken.
Oder um es im Zusammenhang der Brautleute zu veranschaulichen: Was tun, wenn beim Niederknien das wunderbare Brautkleid an unpassender Stelle platzt? Wie es hinnehmen, wenn der Bräutigam in seinem Hochzeitsanzug derartig fremdelt, dass man ihm am liebsten seine Jeans und T-Shirt reichen möchte? Was anstellen, wenn dem selbst ergriffenen Pastor im entscheidenden Augenblick der Trauring in den Heizungsschacht kullert? Alles passiert, da ist nichts erfunden.
In solchen Augenblicken grinst einen der Kobold des Menschlichen an. Breit und fett. Nennen wir ihn an dieser Stelle aber einmal anders. Nennen wir das den göttlichen Humor. Und dessen verschmitzte Botschaft lautet: nimms leicht, mach kein Gewese draus, lass laufen. Du hältst die Fülle des Augenblicks ohnehin nicht zusammen. Schau lieber, was alles noch in dem Moment steckt, den Du da jetzt herbeigeführt hast. Und denk dran: der Ernst des Lebens hat stets auch eine lichtvolle Rückseite. Wenn man sich das Leben von dieser Seite anschaut, kann man sich das Lachen schier nicht verkneifen.

Das gilt übrigens nicht nur für geplatzte Brautkleider und verlorene Trauringe, sondern genau so für schwere Fehler, grobe Patzer und schlimme Entgleisungen. Bei dir und bei den anderen. Sei gewiss: Die Welt wird darüber nicht untergehen, und in jedem bleiernen Ernst steckt auch ein geflügelter Witz. Der Humor ist jene Gabe Gottes, die sich auf diesen Zusammenhang verlässt und deswegen gelegentlich schon dann zu lächeln beginnt, wenn die Zeit noch nicht reif dafür zu sein scheint. Also: denken wir uns einen apokryphen Vers: 1.Kor.13,14!

Helmut Aßmann


Limbic Systems

26. januar 2018

Das limbische System – so nennt man den Gehirnbereich, der im weitesten Sinn für Gefühl, Stimmung und Emotionalität verantwortlich ist. Die neurowissenschaftliche Forschung rückt diesem besonderen Areal in unserem Kopf mit großer Leidenschaft und zunehmendem wirtschaftlichen Erfolg zu Leibe. Denn eines der wichtigsten Ergebnisse ist etwas, das man eigentlich seit Menschengedenken ahnte, aber nicht wirklich belegen konnte: Menschliche Entscheidungen entspringen in erster Linie nicht argumentativen Abwägungen, sondern körperlichen und sinnlichen Empfindungen. Die rationale Vernunft prüft sozusagen nur noch nach, ob eine bereits vorliegende, sozusagen „aus dem Bauch“ getroffene Entscheidung noch nachgebessert werden muss oder nicht.
Wenn man also durch geeignete Verfahren Kunden und potentielle Konsumenten in die richtige Stimmung bringt und sie sinnlich triggert, dann ist es um die freie Entscheidung geschehen – ohne dass wir es verhindern können. Dann wiegt Bekanntheit mehr als die Kostenstruktur, eine gute Atmosphäre reicht weiter als das Argument, und der angedeutete oder offensive Sex-Appeal mehr als der vorgetragene Business-Plan.
Neuer Weltuntergang? Ist da wieder ein böser Geist am Werk, der uns zur Marionette von profitgierigen Unholden macht? Nein, im Gegenteil. Zum einen kann man sich stets gegen das wenden, was einem der Bauch nahelegt. Muss man nicht immer, kann man aber stets und sollte man gelegentlich auch nutzen. Zum anderen ist das auch eine willkommene Entlastung, nicht dauernd komplizierte Glaubenserklärungen, Kirchenrechtfertigungen und Gottesbeweise an den Mann oder die Frau zu bringen. Stattdessen ist eine menschliche Atmosphäre und eine ehrliche Sprache die gediegenste Form überzeugenden Glaubens.

Helmut Aßmann


Lufthansa und das Paradies

18. januar 2018

Als Air Berlin vom Himmel fiel, erhob sich der blaue Kranich in neue Höhen. Die Preise für Inlandsflüge stiegen bei der Lufthansa wie der Airbus 320 auf der Startbahn. Natürlich hatte die Airline kurz vorher das Gegenteil angekündigt. Und natürlich wussten alle, dass das eine Ente sein würde. Die absehbare Fehlinformation war also nicht überraschend. Interessant war vielmehr die Ausrede, die man sich in der Sache einfallen ließ: Die Preissteigerungen, hieß es in einer Presseerklärung, wären nicht vom Konzern veranlasst gewesen, sondern die Algorithmen, die mit der Preisgestaltung betraut waren, hätten das – sozusagen selbsttätig und eigenmächtig – vollzogen. Die Algorithmen, die waren das, keine Manager oder Buchhalter, wie man vielleicht meinen möchte. Das scheinen also interessante Wesen zu sein, die Herren und /oder Damen Algorithmen. Sie bilden wahrscheinlich so etwas wie eine autonome und reichlich geheime Wirtschaftseinheit bei der Lufthansa. Offenkundig darf sich da auch niemand von außen einmischen oder vielleicht ein paar dienliche Hinweise zum allgemeinen Geschäftsgebaren geben. Die Algorithmen würden dann vielleicht gestört bei ihren komplizierten Tätigkeiten. Und wenn die etwas herausgetüftelt haben, dann hat das den Rang eines Gesetzes der Meder und Perser.
Nachdem inzwischen easyjet die Wolken erklommen hat, haben sich die Algorithmen erneut verständigt und wieder niedrigere Werte ausgewürfelt. Na also, geht doch.

Wie allerdings eine ernstzunehmende Airline auf solch eine saudumme Ausrede kommen kann, ist mir ein Rätsel. Diese „ich war’s nicht“ – Nummer hat schon im Paradies nicht funktioniert, und danach nie wieder. Am Ende musste die Schlange damals bekanntermaßen Erde fressen. Für ein Luftfahrtunternehmen ist das keine gute Perspektive.

Helmut Aßmann


Lifta

08. januar 2018

Lifta ist vermutlich der bekannteste der Treppenlift - Produzenten, jener Beförderungshilfen also, die gebrechlichen Menschen den Verbleib im eigenen Haus erleichtern oder gar erst möglich machen. Meine eigene Mutter hat solch eine Vorrichtung in ihrem Scheibchenhaus aus den 60er Jahren einbauen lassen, damit die steilen Treppen gemeistert werden können. Schaut man sich die Werbebildchen für Lifta und vergleichbare Lebenserleichterungssysteme oder Seniorenpharmazie an, trifft man freilich auf lauter gutgelaunte, reichlich fit daherkommende Jungsenioren, denen man die Hinfälligkeit und Unterstützungsbedürftigkeit nur mit Mühe abnimmt. Ähnlich wie bei den derzeit auf Plakaten und werbetrailern allgegenwärtigen Parshippern, bei denen man sich ebenfalls kaum vorstellen kann, dass ihnen ein zielführendes Partnerschaftsanbahnungsmanöver partout nicht gelingen will. Diese Camouflage ist verständlich. Mit leidenden Gesichtern und gebrochenen Herzen kann man für gar nichts werben – da kompromittiert schon die Werbung das Produkt. Andererseits ist es ja nicht so, dass der Lifta-Treppenlift einem Beine macht oder Prostagutt die vergrößerte Prostata wieder auf Normalgröße bringt oder ein Abo bei ElitePartner einem die Gespielen in Scharen zufliegen lässt. Diese besondere Branche hat ein spezifisches Problem: Weil Bedürftigkeit in einer Effizienzgesellschaft üblicherweise als unansehnlich gilt, müssen die Bedürftigen marktgängig konstruiert werden: als solche, bei denen es eigentlich unverändert weitergehen kann, wenn nur die richtigen Unterstützungen angewandt werden, oder als solche, die irgendwann später einmal betroffen sein könnten (der Konjunktiv ist wichtig). Aber reale Gebrechlichkeit gehört eben nicht aufs Plakat oder ins Programm.
Das Leid nicht zu kaschieren und sich stattdessen seinem Zugriff, ja seiner geradezu schamlosen Unverblümtheit zu stellen: das ist eine eigene Kulturleistung. Ohne Konjunktiv und billige Tröstung auf der einen, aber auch ohne Zynismus oder Gram auf der anderen Seite die Dinge zu nehmen, wie sie sind: das ist der Menschlichkeit erster Teil. Daran festzuhalten, dass die Hilfsbedürftigkeit in ihrem Kern sogar eine Kategorie ist, in der uns Gott entgegenkommt: das ist der Menschlichkeit schönster Teil.

Helmut Aßmann


Heiligabend 1968

24. dezember 2017

Am 24.12.1968 umrundete erstmalig ein bemanntes Raumschiff den Mond. Das war Apollo 8. Ein damals immer noch unheimliches Unternehmen, denn so richtig konnte man sich ja nicht sicher sein, was geschieht, wenn die Raumkapsel im Schatten des Mondes Sicht- und Funkkontakt zur Erde verliert. Aber alles ging bekanntlich gut. Und dann präsentierte sich ein Anblick, der in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingegangen ist: der Erdaufgang über der Oberfläche des Mondes. Frank Borman hat diesen menschheitsgeschichtlichen Schlüsselmoment festgehalten: der kleine blaue Planet vor den unendlichen Weiten und der Schwärze des Weltalls. Unsere Heimat, zu der allein wir zurückkehren können, zu der es keine Alternative gibt und auf der wir es dennoch oft genug einfach nicht aushalten können.
Diesen Anblick der zerbrechlichen Erde hat Gott vielleicht vor Augen gehabt, als er sich entschloss, ein Teil davon zu werden. Als Mensch zu erscheinen, der das Schicksal von unseresgleichen teilt, ja, der vielleicht verstehen wollte, wie es sich anfühlt, an diese Erde gebunden zu sein und es doch auf ihr nicht aushalten zu können. Und vielleicht ging es ihm so wie den meisten der Menschen, die diese Fotographie sehen: da ist eine Rührung zu vernehmen, eine Art Schauer aus Glück und Sorge, dass wir dieses Kleinod Erde, auf dem wir zuhause sind, doch bitte nicht zerbrechen, zerstören und ruinieren wie wir das als Menschen so zu tun pflegen bei dem, was wir unter die Finger bekommen. Wenn wir Räume oder Landschaften schützen wollen, weisen wir Nationalparks aus und bauen Zäune um sie herum, damit man die Menschen möglichst fernhält oder nur kontrolliert hineinlässt. Gott hat nun – zum Glück – keine interplanetare Schutzzone eingerichtet, sondern ein Menschsein vorgestellt, das diese Zäune und Schutzmechanismen nicht benötigt. Das ist besser als Kontrolle oder Exklusivität.

Dass Frank Borman dieses Foto an einem Heiligabend hat machen können, mag darauf hinweisen, dass auf dem kleinen blauen Planeten auch Gott sein Zuhause genommen hat. Und er hat seine Zelte bis heute nicht abgebrochen.

Helmut Aßmann


Sündenlehre

12. dezember 2017

Dass die Christen es immer mit der Sünde haben, ist ein gängiger Vorwurf an die Kirchen mit ihrer Dogmatik aus vergangenen Jahrhunderten. Inzwischen wisse man ja nun wirklich eine Menge mehr über die menschliche Seele als Paulus, Augustinus, Luther und meinetwegen noch Ludwig Harms. Es ist nicht nur das Genom entschlüsselt, sondern auch das „sogenannte Böse“ (Konrad Lorenz) entzaubert. Tatsächlich handelt es sich nach Forschungsmeinung wahlweise um Neurosen, Störungen, Hemmungen oder andere klinisch diagnostizierte Zustände, die den Menschen dazu bringen, nicht so und nicht das zu sein, was er sein möchte, sein sollte oder sein müsste. Da ist weder Teufel noch Sünde noch irgendein anderer metaphysischer Unhold am Werk. Insofern solle man sich, so der Vorwurf weiter, doch etwas Besseres überlegen als Bekenntnis, Beichte und Vergebung, wenn man denn ernsthaft im Spiel um die beste Menschendeutung mithalten wolle. Außerdem würde damit eine schwarze Pädagogik betrieben, die dem Menschen mit Negativenergien anfüllt und ihn von Vornherein in einen depressiven und misanthropischen Horizont stellt. Und so weiter.
Lesen wir es doch einmal anders. Alle diagnostischen Fortschritte, alle begrifflichen Umetikettierungen und alle therapeutischen Innovationen haben den Umfang an Hader und Streit, Zweifel und Bosheit nicht im Mindesten verringert. Ob einer aus neurotischen Motiven einen anderen zusammenschlägt oder aus reiner Lust an der Gewalt, ändert für den Geschlagenen gar nichts. Das Tableau menschlicher Ungeheuerlichkeiten hat eine bemerkenswerte Konstanz in den Jahrtausenden. Auf diesen Sachverhalt weist die christliche Sündenlehre hin (übrigens in bemerkenswerter Nähe zu den vier buddhistischen großen Wahrheiten). Wie man die Vorfälle im einzelnen benennt, ist demgegenüber eher nebensächlich. Sie will den Menschen nicht klein, sondern realistisch machen. Etwa in dem Sinne: wundere dich nicht, wenn aus heiterem Himmel eine destruktive Kraft in dein Vorhaben oder auch nur deine Gedanken fällt. Sei nicht überrascht, wenn alles guter Wille auch das Gegenteil erzeugt. Gib dich nicht der Illusion hin, als wärest du mehr als ein Mensch und dein Vorhaben etwas anderes als irdisches Tun, sondern sei wachsam gegenüber dir selbst und allem Tun und Lassen um dich her. Und dann kommt der eigentlich Clou der Sündenlehre: sei dankbar und freue dir ein Loch in den Bauch, wenn etwas gelingt und für einen Moment oder eine geraume Zeit der Böse keinen Zugang bekommt. Herrliche Augenblicke sind das.

Helmut Aßmann


Sicherheitsdenken

29. November 2017

Umfragen zufolge sollen die meisten Deutschen Angst vor Krankheit, terroristischen Anschlägen und Gewaltdelikten haben – in dieser Reihenfolge. Dagegen sollen helfen: Versicherungen, Sicherheitsmaßnahmen und Sicherheitspolitik – in vermutlich dieser Reihenfolge. Es ist davon auszugehen, dass noch niemals in der Geschichte Deutschlands ein solch hoher Sicherheitsstandard in öffentlichen und privaten Lebenssituationen geherrscht hat – von riskanten Berufsfeldern und besonders gefährdeten Stadtteilen einmal abgesehen. Das Ergebnis ist – bekanntermaßen – nicht das beruhigende Gefühl, es unverdienterweise mit diesem Staat und dieser Gesellschaftsordnung ganz gut getroffen zu haben, sondern eher die unterschwellige Sorge, diese Annehmlichkeiten könnten durch irgendeinen unberechenbaren Vorfall wieder zunichte gemacht werden. Mit dem Glück, das einer hat, wächst die Furcht, es wieder zu verlieren. Dieser Zusammenhang ist nicht linear, er ist sogar exponentiell. Das ausgehende Mittelalter zur Zeit Martin Luthers arbeitete sich in an diesem Sachverhalt mit theologischen und metaphysischen Mitteln ab und investierte in Ablässe zur Sicherung des ewigen Heils – das irdische Heil war ohnehin zu unsicher. Unsere Epoche setzt vollständig auf diesseitige Investments und versucht eine noch absurdere Beziehung zu etablieren: gegen die wirtschaftlich berechnete Existenzbedrohung werden entsprechend hoch abgeschätzte Versicherungssummen gesetzt, und zwar ohne ein Wort über die ganz offenkundige Vergeblichkeit dieser Maßnahme. Ein stillschweigendes Übereinkommen überlässt diesen zentralen Umstand der psychologischen Stabilität des einzelnen. Nur: genau an dieser Stelle entscheidet sich, ob einer glücklich leben kann oder nicht. Weil gegen Ungewissheit nicht Versicherungsschutz aufkommt, sondern Vertrauen. In das Leben, in den Mitmenschen, in Gottes Führung und in die Liebe als zuverlässige Kraft dieser Welt. Geschäfte stellen kein Vertrauen her, nirgends und niemals. Weder Ablässe noch Versicherungspolicen können das. Vertrauen – das ist, wenn ich es einmal so verquer ausdrücken darf, die eigentliche Währung Gottes.

Helmut Aßmann


Beyond Borders

21. November 2017

Beyond borders – so heißt ein kleiner Film, der unter diesem Titel bequem auf Youtube auffindbar ist. Er zeigt ein denkbar einfach konstruiertes soziales Projekt: setze zwei x-beliebige Menschen, die sich nicht kennen, auf Stühlen in einem ansonsten leeren Raum einander gegenüber und lasse sie sich einfach in die Augen schauen. Möglichst ohne Worte. Nur fünf Minuten. Und warte ab, was geschieht. Das Ergebnis ist ebenso vorhersehbar wie berührend: Menschen, die einander einfach nur gegenüber sitzen und in die Augen schauen, ohne Maske, Waffen oder Entourage, erkennen, dass sie Menschen sind, gleichen Geschlechts, gleicher Bedürfnisse und Sorgen teilhaftig. Diese Erkenntnis ist groß und schön. Die „Gesprächs“paare nehmen wahr, dass trotz unterschiedlicher Herkunft, Rasse, Geschlechter oder Bekleidung ein Verstehen über all diese Grenzen und Unterschiede hinaus entstehen kann und – das ist das Berührende – tatsächlich entsteht. Als würden sie unter- oder oberhalb der üblichen Kommunikations- und Konversationsgepflogenheiten eine Ebene gefunden haben, die sie verbindet als Kinder des einen Schöpfers.
Man kann das idealistisch nennen. Solche fünf Minuten hat man ja in der normalen Alltagswelt nicht parat. Da ist alles zugetaktet, überformt und verzweckt. Die Maßgabe heißt dann: organisiere das Leben effizient und sieh zu, dass dich nichts von deinen Zielen oder Interessen abbringt. Vermeide Energieverluste, dichte die Möglichkeit zur Ablenkung ab. Verstreue dich nicht im Allotria.
Aber: diese innere Verpflichtung ist ein böser Zwang. In Wirklichkeit ist es ganz einfach. Die fünf Minuten sind ganz gewiss über. Auch jeden Tag. Und im Regelfall gibt es um uns herum immer Menschen, mit denen eine kleine Zeit intensiven Gesprächs genommen und gegeben werden kann. Der kritische Punkt ist nicht die zur Verfügung stehende Zeit, sondern eine Entscheidung, die wir fällen oder auch nicht. Sie lautet: Rechnen wir damit, dass eine solchermaßen menschliche Begegnung wirklich stattfinden kann? Unterstellen wir dem Gang der Dinge, dass er Luft für einen tieferen Kontakt der Seelen hat? Vertrauen wir darauf, dass da jemand uns aufrichtig gegenübertreten kann, ohne Interessen und zielperspektivische Zwecke? Vor allem: Stellen wir uns selbst zur Verfügung – „beyond borders“? Wo nicht, kommt es immer nur zu Geschäften, nicht zu Gesprächen. Theologisch gesprochen: das Reich Gottes, das nahe herbeigekommen ist, wird nur sichtbar, wenn wir davon ausgehen, dass es da ist.

Helmut Aßmann


Jagd

13. November 2017

Die Innovationspartei des Bundestages ist nun also die AfD. Drittstärkste Kraft im deutschen Parlament. Schon vor der Konstitution, ja, sogar am Wahltag selbst machte Alexander Gauland darauf aufmerksam, dass man nun die etablierten Parteien „jagen“, „vor sich hertreiben“ wolle. Ein auffälliger und kreativer Sprachgebrauch, der seither in jedem passenden und unpassenden Interview den Protagonisten der AfD vorgehalten wird. Die Macht der Worte lässt sich an dieser Formulierung wunderbar darstellen und in ihrer dramatischen Konsequenz illustrieren. Denn die „Jagd“ ist es nun, die als Politikmodus der AfD angelastet wird, was immer sie auch zu sagen und zu vertreten beabsichtigt. Nicht die politischen Inhalte werden den Leitton angeben, sondern die Absicht, damit auf Jagd zu gehen und – was sollte man auf der Jagd anderes tun? – die Beuteobjekte zu erlegen und zu Strecke zu bringen. Das ganze Verbalinventar der Waidmannskunst wird parteikriegerisch umetikettiert und als neuer Politikstil inszeniert: es wird geschossen, getrieben und aufgebrochen.
Die Gegenreaktion ist – leider – vorhersehbar. Die AfD bekommt mehr Aufmerksamkeit als je zuvor und wird auf allen medialen Linien eindrucksvoll bedient. Schlachten bieten schließlich mehr Erregungspotential als Kompromisse.  Es ist kein Zufall, dass der neugewählte Bundestagspräsident in seiner Eröffnungsrede darauf hinwies, dass man sich im Deutschen Bundestag nicht „schlagen“ müsse – da ist er wieder, der kriegerische Sound. Auch hier spielen die Inhalte wenig bis gar keine Rolle, sondern der Ton liegt auf dem Modus der Auseinandersetzung. Bis hin zu den unfruchtbaren Auseinandersetzungen, an welcher Stelle im Plenarsaal die Blauröcke sitzen sollen und wer das Missvergnügen hat, als räumlicher Nachbar fungieren zu müssen. Der Verlust der Inhalte zugunsten der Sprachinszenierung ist eine der betrüblichen, vielleicht sogar verheerenden Folgen der Wahlnacht aus dem September. Betrüblich, weil der Weg zu einer ordentlichen, sprich: ordnungsgemäßen Bundespolitik auf jeden Fall weiter und beschwerlicher geworden ist als zuvor. Verheerend, wenn die Jagd-Metapher auf der Ebene aufgenommen wird, auf der sie platziert wurde: als Ersatz für Politik. Warten wir’s ab. Währenddessen ist es hilfreich und wegweisend, der Einsicht des alttestamentlichen Predigers zu lauschen: „Sei nicht schnell mit dem Munde, und lass dein Herz nicht eilen, etwas zu reden vor Gott; denn Gott ist im Himmel und du auf Erden, darum lass deiner Worte wenig sein …“

Helmut Aßmann


Luthers Erbe

05. November 2017

Diese Zeilen entstanden am 31.10.2017, 500 Jahre nach dem Thesenanschlag zu Wittenberg. An diesem Tag wurden in Deutschland und in aller Welt Gottesdienste, Jubiläumsfeste und Erinnerungsfeiern begangen, um des welthistorischen Anfangsereignisses der Reformation zu gedenken. Luther war nicht der erste Reformator, nicht der einzige, nicht der klügste und nicht der klarste. Wir haben weder einen Helden noch einen Heiligen vor uns. Viel literarischer Aufwand ist getrieben worden, um ihn einzugliedern in den Gang der Geschichte und des Geistes. Ebenso viel Aufwand aber auch, um herauszustellen, welch eine besondere Gabe und Feinsinnigkeit hier zur rechten Zeit am rechten Ort im 16. Jahrhundert erwuchs, um den weltgeschichtlichen Lauf der Dinge zu ändern.
Am Vorabend des Jubiläumstages wurde der Berliner Bischof Dröge im „heute-Journal“ des ZDF gefragt, was denn nun der Ertrag der 500 Jahre Reformationsgeschichte sei. Natürlich wurde auf die sinkende Mitgliederzahl der Kirchen und die niedrige religiöse Betriebstemperatur der bundesdeutschen Gesellschaft angespielt. Dröge machte zwei zentrale Dinge als Ertrag reformatorischen Glaubens geltend: „Wertschätzung im Grund meiner Existenz“ und das „gesellschaftliche Engagement“. Diese Botschaft würde, so führte er aus, auch von vielen Menschen, die gar nicht kirchlich gesinnt seien, begrüßt und wohlwollend aufgenommen. Es handelt sich im Kern um eine moderne Übertragung der lutherischen Formulierung: „Du bist aller Dinge frei bei Gott durch den Glauben, aber bei den Menschen bist du jedermanns Diener durch die Liebe“. Ist das dasselbe? Nicht ganz. Der kleine, aber feine Unterschied zwischen dem Zitat aus dem 16. und dem aus dem 21. Jahrhundert besteht nämlich darin, dass Luther die göttlichen Kräfte nennt, um die es geht: Vertrauen und Liebe, Dröge hingegen das Ergebnis bezeichnet, das am Ende herauskommt bzw. herauskommen soll(te): Wertschätzung und Engagement. Womöglich erklärt das, warum und an welcher Stelle wir uns mit dem reformatorischen Erbe so schwer tun: vom Ergebnis her gedacht, enttäuscht die real existierende Kirche notorisch alle Erwartungen. Von den göttlichen Verheißungen her gesehen, hat sie nichts verloren oder abgewirtschaftet. Evangelisch wird ein Glaube immer erst dann, wenn er nicht mehr von den angepeilten oder vermeldeten Resultaten spricht, sondern die Verheißungen predigt, die die Herzen beflügelt und die Gewissen tröstet.

Helmut Aßmann


Ehe für alle?!

09. oktober 2017

Ganz ehrlich: ich weiß nicht genau, was wir gesellschaftlich beschlossen haben, nachdem am 30.6. in einem Hastewaskannste-Akt der Bundestag mit veritabler Mehrheit das Gesetz verabschiedet hat und es am 1.10. mit großer medialer Beachtung in Kraft getreten ist. Das Gesetz „Zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“. Mit sehr vorhersehbaren 393 Ja- und 226 Nein-Stimmen bei 4 Enthaltungen war die Entscheidung in dem Moment gefallen, als die Abstimmung auf die Tagesordnung gesetzt worden war. Klar ist nur so viel: die jahrtausendealte Regel, dass eine Ehe mindestens einen Mann und eine Frau miteinander ins Verhältnis setzte, wurde durch ein anderes Prinzip ersetzt: verbindliche Lebensgemeinschaften mit Fürsorgepflicht und gegenseitig erklärter Zustimmung dürfen von nun an Ehe heißen. Die mit der Ehegesetzgebung im Bürgerlichen Gesetzbuch verbundenen Rechte und Pflichten werden damit auch auf andere Lebensformen übertragen. Natürlich ist damit zunächst einmal die gefühlte „Zweitrangigkeit“ für gleichgeschlechtliche Partnerschaften aufgehoben, ein begrüßenswerter Umstand, was rechtliche Ausstattung und gesellschaftliche Akzeptanz angeht. Was nun aber in Zukunft Ehe ist oder so heißt, wird eher unklar. Da lassen sich viele soziale Arrangements denken. Mir ist die Eilfertigkeit, mit der das Gesetz auch auf kirchlicher Seite begrüßt wurde, nicht erschwinglich. Ich fände es sehr hilfreich, wenn es zu diesem außerordentlich gravierenden Paradigmenwechsel eine ausführlichere Debatte gäbe, sei es in Gemeinden oder Kirchenkreisen oder auf Synoden oder sonstwie. Mir ist die Widerspruchslosigkeit auf evangelischer Seite durchaus ein Rätsel. Es mag daran liegen, dass derzeit jedermann, der sich unterfängt, nicht vorbehaltlos zuzustimmen, sofort in den Verdacht von Homophobie oder Rechtsradikalität gerät. Man kann sich gar nicht vorsichtig genug ausdrücken, wenn man wenigstens um Differenzierungen bemüht sein möchte oder die Bedeutung dieser zivilrechtlich tektonischen Verschiebung in seiner Tragweite zu ermessen sucht, ohne dies in begeisterter Attitüde zu tun. Ganz ehrlich: ich weiß nicht, was wir da alles mitbeschlossen haben. Ich bin nicht so schnell. Vielleicht liegt es am Alter.

Ob Jesus dazu ein Votum hätte? Ich vermute, eher nicht. Denn für das Reich Gottes ist es – zum Glück – nicht wirklich von Belang, welcher standesamtliche Befund den Menschen betitelt, der um Einlass sucht.

Helmut Aßmann


Keynote – Speaker

04. oktober 2017

In einer der überregionalen Tageszeitungen wurde unlängst eine Veranstaltung beworben, auf der ein offenbar bedeutender Mann als professioneller Keynote-Speaker angekündigt wurde. Als keynotes, wenn ich es bislang richtig verstanden habe, bezeichnet man solche Vorträge oder verbalen Einlassungen, in denen gewissermaßen der thematische Ton für eine ganze Veranstaltung gesetzt werden soll. Das macht der angekündigte Mann also professionell. Merkwürdige Berufsbezeichnung, dachte ich. Einer, der anderen den Ton vorgibt, ohne Lehrer, Dirigent oder Pastor, also von potentiell tyrannischer Gesinnung zu sein. Ein Dienstleister für ansonsten offenkundig zu einfallslose oder ungefüge Menschenansammlungen. Zugegeben, eine etwas hässliche Formulierung. Es fallen mir aber rasch vergleichbar seltsame Titel ein. Auch solche Gelegenheitsüberschriften, die sich als Profession tarnen. Ich lese über professionelle Blogger, Gamer, Motivationstrainer, Ermutiger, ja, so hab ich es in einem Blog gefunden, sogar professionelle Sucher und Frager (um jetzt nur einmal im maskulinen Modus zu bleiben). ProSeeker und ProSearcher, sozusagen. Der „keynote-speaker“ ist wohl nicht nur ein feuilletonistischer Ausrutscher, sondern bezeichnet eine Drift in der Welt der Tätigkeiten. Es handelt sich ja augenscheinlich nicht um klassische „Berufe“, zu denen es Ausbildungen gibt oder Lehrpläne. Sondern es sind Beschreibungen dessen, was die Leute tun, um damit ihr Leben zu fristen, Sinn zu stiften, Aufmerksamkeit zu erringen oder auch einfach nur ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Derlei Bezeichnungen würde man vor einer Generation nicht als Professions-Label genutzt haben, sondern bestenfalls als biographische Accessoires, also als etwas, was diese Leute sonst noch so machen, wenn sie nicht gerade ihrem wirklichen Gewerbe nachgehen. Der „Beruf“ ist, so legen es diese Bezeichnungen ganz unironisch nahe, ein gesellschaftliches Auslaufmodell. An seine Stelle tritt zusehends etwas Anderes: eine Beschäftigung. Ihr Sinn vermittelt sich nicht mehr über vorgegebene Tätigkeitsschablonen wie Schlosser oder Informatiker oder Koch, die sozial legitimiert und strukturiert sind, sondern über den, der ihr nachgeht. Oder auch nicht. Die Frage lautet nicht: was bist du von Beruf?, sondern: womit beschäftigst du dich?

Da könnte man sich mittelfristig auch vorstellen, dass jemand angekündigt wird als: Christ.

Helmut Aßmann


Lauter Kreuze

21. september 2017

Das Berliner Stadtschloss geht seiner Vollendung im Jahr 2019 entgegen. Es soll, umgewidmet zum „Humboldt - Forum“, ein „neuer Museumstyp für die gesamte Weltgemeinschaft“ werden, sagt die kulturpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Dabei wird dafür Sorge getragen, so die einvernehmlichen Überlegungen der Initiatoren und Verantwortlichen, dass der Nachbau sich so weit wie möglich an das Original anschließt. Da die barocke Gestalt des Stadtschlosses keine Jahrtausende alt ist, sondern sich in fast fühlbarer zeitlicher Entfernung zur Gegenwart befindet, ist das kein großes architektonisches oder bauliches Problem. Mächtiger Ärger entzündet sich allerdings daran, dass auf der Kuppel ein Kreuz stand und dort auch wieder errichtet werden soll. Das Geld ist da, gespendet von der Familie des Versandhauses Otto.
Grüne und Linke erklären nun, dass das Kreuz eine religiöse Hierarchisierung bedeutet, Touristen verprellt, Muslime verstört und dem Grundgedanken des Humanismus zuwiderläuft. Konsequenz: das darf da nicht hin. Eine ähnliche Debatte, nur anders herum, gab es, als die Oberhäupter von EKD und Bischofskonferenz in Jerusalem im Herbst 2016 um des religiösen Betriebsfriedens willen ihre Kreuze ablegten. Oder, noch einmal anders: als der FC Barcelona aus dem Vereinswappen 2014 das Kreuz entfernte, um eine dreijährigen Kampagne mit der National Bank of Abu Dhabi  unfallfrei lancieren zu können.
Tja, das Kreuz. Unter ihm und in seinem Zeichen und durch seine Botschaft entstand Europa. Das gute wie das schlimme Europa, das des Franz von Assisi und das des Hernan Cortez. Die Geschichte der Welt ist entscheidend durch das Kreuz geprägt. Wenn man es absägt, bleibt die Geschichte dennoch bestehen. Es kommt dann nur eine geschichtliche Vergessenheit hinzu. Was die Kritiker allerdings richtig wittern: die Behauptung, dass das Kreuz von Golgatha eine Wahrheit über den Menschen ausspricht, nicht nur einen Diskussionsbeitrag zur Weltgeschichte darstellt, ist in der Tat eine Zumutung. Die Zumutung, ohne solche Positionen in unserer Welt zurande kommen zu sollen, ist aber das größere Übel.

Helmut Aßmann


Diesel

05. september 2017

„Wir halten es im Grunde genommen für ausgeschlossen, Hardware-Nachrüstungen vorzunehmen“, sagte VW-Chef Matthias Müller auf der Pressekonferenz nach dem Dieselgipfel im Beisein von Dieter Zetsche (Mercedes) und Harald Krüger (BMW), und zwar „einmal des Aufwandes wegen, aber auch, weil die Wirkung fragwürdig ist“. Dann wurde es unversehens theologisch: Man solle sich nicht mit veralteter Technik herumschlagen, sondern sich den neuen Mobilitätsherausforderungen stellen. Will sagen: lass die Vergangenheit ruhen und lieber ins unbeschriebene Feld der Zukunft schauen.
Die Szene hat Format. Da sitzen also die mächtigsten Männer Deutschlands, wissend, dass sie mit Vorsatz betrogen und gelogen haben, und fühlen sich nicht einmal zu einer minimalen Geste der Reue, Entschuldigung oder Bitte um Nachsicht veranlasst. Und wenn nicht sie persönlich, was man fairerweise bei der gegebenen Informationslage in Rechnung stellen sollte, dann doch die Konzerne, für die sie stehen. Empörend finde ich nicht so sehr, dass gelogen und betrogen wurde – das gibt es auf jedem gesellschaftlichen Niveau und in jedem soziologischen Milieu. Da fasse sich jeder an seine eigene Steuererklärung. Erschütternd ist der Umstand, dass es zu diesem ethischen Totalversagen keinen ehrlichen ethischen Kommentar gibt, weder auf Seiten der Autohersteller noch von Seiten der Bundesregierung. Das kostbarste Gut jeder Gemeinschaft, das Vertrauen, wurde hier in Schlips und Kragen vor versammelter Öffentlichkeit als Beiwerk ökonomischer Verpflichtungen verramscht. 1903 hatte Rudolf Diesel ein Buch unter dem Titel: „Solidarismus. Natürliche wirtschaftliche Erlösung des Menschen“ veröffentlicht. Darin plädiert er für eine genossenschaftliche Beteiligung der Arbeiter an den Produktion, Finanzierung und Verteilung wirtschaftlicher Güter. 114 Jahre später findet gewissermaßen das Gegenteil statt.
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie die äußeren Sachzwänge die Gesinnung verderben, wenn es keinen innere Orientierung gibt.

Helmut Aßmann


Naked Attraction

02. august 2017

RTL II ist der Free-TV- Sender fürs Grobe. Von daher ist dort weder ein literarisches Quartett noch eine Tier-Doku auf BBC-Niveau zu erwarten. Beim typisch männlichen nächtlichen Herumzappen auf den üblichen Fernsehkanälen bin ich dort unlängst auf eine Sendung gestoßen, die den Namen „Naked attraction“ trägt. Es handelt sich dabei um einen Vorstoß in eine neue Dimension des Fremdschämens. Darüberhinaus lässt sie sich lesen als eine Veranschaulichung dessen, warum Flüchtlinge und Fremde hierzulande so etwas wie den Ausverkauf letzter Anstandsreste und Intimsphären wittern. Es ist eine Art Casting-Show. Ein Kandidat, möglichst schrill und noch nicht zu alt, soll unter Anleitung einer absolut toleranten und vollständig geistlosen Moderatorin aus sechs Personen verschiedenen Geschlechts eine auswählen, mit der es dann zu einem Rendezvous kommt, das selbstverständlich abgefilmt wird. Der Clou an der Sache: diese sechs Personen stehen jeweils splitterfasernackt in einer Art überdimensionalen Reagenzgläsern im Halbkreis und werden im Laufe der Show in drei Phasen begutachtet. Schritt für Schritt werden die Körperpartien vorgestellt, in dem die ursprüngliche Trübung des Reagenzglases aufgehoben wird; erst die Beine, dann die Geschlechtsteile und Brust, dann der Kopf. Da kann man dann zwei Menschen sich über Beinstellung, Penislänge, Brustwölbung und Haar- oder Tätowierungsfläche sachverständig unterhalten hören bzw. sehen.  Selbstverständlich ist das Ganze genderpolitisch maximal tolerant. Blümchensex und Heteros sind in diesem Kontext museale Geschichte. Zum Schluß darf dann der möglichst schrille und nicht zu alte Kandidat ungeklärten Geschlechts auch selbst seine besten Stücke zeigen. Hurra.
So etwas Unkomisches, Unerotisches und Unanständiges hab ich noch nie gesehen. Es heißt öffentlich zugängliche Unterhaltung und ist ein Zeugnis einer eigenartigen, verzweifelten Langeweile. Weil alles aufregend sein soll, müssen Schamgrenzen übersprungen und Tabus geschleift werden. Davon gibt es aber nicht unendlich viele. Und dann wird es langweilig. Nicht aus unterhaltungsprofessionellem Unvermögen, sondern in Ermangelung von Grenzen. Die sind eben nötig, wenn man irgendwie Gestalt annehmen will.

Helmut Aßmann


Wegbier

17. juli 2017

Unlängst war ich zu einer Geburtstagsfeier in Berlin eingeladen. Übernachtung in einem Hotel in Friedrichshain, neuerdings stark angesagtes Quartier in der hippen deutschen Hauptstadt. So jedenfalls die kundige Info aus dem Munde einer Kellnerin, die uns in später Nacht noch mit Bier und Knoblauchbrot in einer randvoll besetzten Kneipe bediente. Als norddeutsches Landei in der Metropole Berlin fällt einem auf, dass Tausende von jungen Leuten, die durch Friedrichshain und andere Stadtteile flanieren, nahezu ausnahmslos Bierflaschen oder –dosen mit sich tragen. Als Mischung zwischen Accessoire und wirklichem Getränk „to go“. Das sei ein „Wegbier“, erläuterte die besagte Kellnerin, also eine Art alkoholisches Pendant zu den ernährungswissenschaftlich beglaubigten Nuckelflaschen, denen man seit einigen Jahren in Hörsälen, Klassenzimmern und Nahverkehrsmitteln begegnet, so etwas ein Abwehrritus gegen die neuerdings allüberall drohende Gefahr der Dehydrierung. Das Wegbier zeichnet sich dadurch aus, dass man es nicht in Gestalt von Six-Packs oder 1.5 – Liter – Plastikeimern herumschleppt, sondern als Einzelflasche genießt und diese dann irgendwo hinstellt, um sich für die nächste Viertelstunde an irgendeinem Kiosk eine weitere zu besorgen. In einer Großstadt geht das ja umstandslos, weniger vorstellebar ist es in Hodenhagen, Groß Heppenstedt oder Loch im Rheinland. Spontan dachte ich, ökologisch getrimmt, wie ich als evangelischer Christ von Haus aus bin: was für eine hirnrissige Vermüllung der ohnehin nicht gerade aseptischen Großstadt. Dann kam aber, erneut die Kellnerin, die Auskunft, dass das schon sein Gutes habe. Von den überall hingestellten Flaschen lebten die Pfandsammler, die mit großen Taschen oder Einkaufswagen durch die Städte laufen, um genau solches Leergut für ihren eigenen Unterhalt einzusacken. Dafür werden sie sicherlich keine Tütensuppe von Maggi kaufen, sondern, so steht zu vermuten, eher Hochprozentigeres, aber sei’s drum: diese lässige Bierlaune hat vielleicht einen diakonischen Charme. Das Wegbier, auch „Späti“ genannt, ist nicht einfach als Index auf die dekadente Versoffenheit spätmoderner Großstädte zu lesen, besonders, wenn sie von US - amerikanischen Jugendlichen überlaufen werden, sondern auch als Solidaritätsadresse an die, die auf diesem Wege ihr karges Leben am Laufen halten. Denn zwischen dem, der sein Bier auf den Telefonverteilerkasten an der Straßenecke stellt, und dem, der es von dort in seine Sammeltüte steckt, liegt manchmal nur eine unglückliche Entscheidung.

Helmut Aßmann


Helenefischer

07. juli 2017

Die neue Platte von Helene Fischer heißt „Helene Fischer“. Als wäre damit alles schon gesagt. Nicht einmal „Best of“, oder „Betörende Ausblicke“, nein, der Name ist der Inhalt. Das muss man sich erstmal trauen. Aus dem Stand sofort die Nummer eins. Nach Vorbestellungseingängen schon platinveredelt. Sie ist der Martin Schulz der Popmusik, natürlich vor der Wahl im Saarland. Mrs. 100% in Sachen Perfektion, Stilsicherheit, Marketing und Publikumsrecherche. Dass die arme Frau Fischer bei der Halbzeitpause im DFB – Pokalendspiel gnadenlos ausgepfiffen wurde, hatte wohl vor allem etwas mit der unterschätzten Psychodynamik eines Fußballspiels zu tun als mit symbolhafter Ablehnung von Deutschlands größtem lebendem Popstar.
Ich finde die Professionalität und Präzision dieser Helenefischerei wirklich beeindruckend. Auch die Wendigkeit, in der jeder Versuch einer politischen Standortbestimmung ausmanövriert wird. Man kann sich diese Frau auf keiner Demonstration vorstellen, es sei denn auf einer für bessere Unterhaltung, aber selbst da bin ich mir nicht sicher. Auch das würde ja bedeuten, dass es sich auf eine Gegenposition beziehen müsste. Genau das aber scheint in der Öffentlichkeitsperformance von HF ausgeschlossen. 
Manchmal fürchte ich, es könnte so etwas wie eine Helenefischerisierung der Spiritualität geben. Wenn etwa Achtsamkeit, Wertschätzung, Rücksichtnahme und Selbstsorge als Orientierungspunkte neuer Innerlichkeit fixiert werden. Das stimmt einfach immer, dagegen kann man nicht sein. Wenn man aber nicht mehr gegen etwas kämpfen darf, sondern nur noch etwas differenziert anzunehmen hat, stimmt etwas nicht. Wenn der Zorn auf offenkundige Ungerechtigkeit oder Verachtung für irregeleitete Behauptungen ersetzt werden müssen durch verständnisvolles Wertschätzen derer, die als Protagonisten dieser elenden Positionen erscheinen, fehlt etwas in der Welt. Wo keine Kanten oder Grenzen formuliert werden sollen, dokumentiert sich auch keine Kontur. Wenn’s nicht kalt oder heiß gibt, bleibt’s am Ende lau, ob nun gold- oder platinbeschlagen in Sachen Popmusik oder übungsgeadelt in der spirituellen Szene. Die ruppigen Einlassungen Jesu im Neuen Testament verraten jedenfalls soviel, dass bei allzu falscher Sicht der Dinge selbst der Gottessohn  bisweilen den Kaffee auf hatte …

Helmut Aßmann


Hoffnung

26. juni 2017

Boyan Slat heißt der junge Mann, 22 Jahre alt, Niederländer, der sich einem globalen Projekt verschrieben hat – „the great ocean clean up“. Das soll nicht weniger sein als die Säuberung der Ozean von den Millionen Tonnen Plastikmüll, den wir in die Meere einleiten. Das Geld hat er durch Crowdfunding zusammengetrieben, 2018 soll das Projekt starten.
Felix Finkbeiner ist heute 19 Jahre alt. Im Alter von 9 Jahren begann er mit seinem Projekt „Plant für the planet“, mit dem Ziel, eine Billion Bäume zu pflanzen, in allen Ländern der Erde, wo so etwas möglich ist. Er gehört zu den internationalen Trendsettern einer Generation, die mit der Wegwerfgesellschaft der Nachkriegszeit nicht nur verbal, sondern tatsächlich aufhört.
Selbst eine Nobelpreisträgerin gibt es inzwischen, die pakistanische Malala Yousafzai, die 2012 durch die Taliban angegriffen und schwer verletzt wurde, weil sie sich als Schülerin für das Recht auf Bildung in ihrer Heimat einsetzte. Sie ist Jahrgang 1997.
Das sind nur drei Personen, es gibt deren mehr, aber alle haben sie als junge Menschen einen weltweiten Horizont, ein Verständnis für die Menschheit, und sie fühlen eine Verpflichtung, der Ausplünderung und Missachtung natürlicher, menschlicher und geistiger Ressourcen nicht nur steile Worte, sondern Mut, Einsatz und sogar das eigene Leben entgegenzusetzen. Hier meldet sich etwas, ja, jemand anderes zu Wort als die übliche Politshow. Das sind keine offiziellen Mandats-, sondern berufene Visionsträger. Es ist gewiss kein Zufall, dass sich gewissermaßen gleichzeitig eine solche Zahl von jungen Menschen aus der Masse der konsumdressierten Generationen heraushebt und eine neue Qualität menschlichen Bewusstseins anzeigt. In all diesen Projekten ist Hoffnung spürbar, Entschlossenheit, nicht auf andere zu warten, und der Mut, sich wenigstens nicht sagen lassen zu müssen, man hätte es nicht versucht. 

Der Geist Gottes hat womöglich noch ein anderes Repertoire von Erweckungen parat als unsere traditionelle Frömmigkeit sich das vorstellen kann.

Helmut Aßmann


Wahlalter

06. juni 2017

Die hannoversche Landessynode hat auf ihrer letzen Sitzung beschlossen, das aktive Wahlalter für die Kirchenvorstandwahlen von jetzt 16 auf zukünftig 14 Jahre herabzusetzen. Es hat mich einige Mühe gekostet, diesen Schritt zu verstehen. Aber die Mühe war leider vergeblich – ich habe es nicht verstanden. Ganz ähnlich wie bei den Bestrebungen, auch im politischen Zusammenhang das aktive Wahlalter, wo immer möglich, herunterzusetzen, um … ja, was? Andere Wählerschichten zu gewinnen, frühes politisches Verständnis zu wecken, mehr Jugendknowhow in den gesellschaftlichen Prozess zu bringen? Ich weiß es nicht.  Landauf, landab wird beschrieben, dass die Geschlechtsreife und die geistige Adoleszenz immer weiter auseinander driften, bei Jungen noch mehr als bei Mädchen. Von Psychologen, Soziologen, Biologen. Verantwortung zu übernehmen, Risiken abzuschätzen und ein Ethos zu entwickeln – das vollzieht sich entwicklungspsychologisch also immer später, zu den 20er Jahren hin. Nun wird als Maßnahme dazu, dagegen, dabei oder wie auch immer also das aktive Wahlalter aber nach unten geschoben, weiter in die Kindheitsphase, sozusagen, der Geschlechtsreife hinterher. Mir ist diese Logik unerschwinglich. Die Demokratie braucht bewusste, verantwortungsbereite und umsichtige Menschen, aktiv wie passiv. Gewiss. Sie braucht sie in unruhigen Zeiten wie dieser sogar besonders dringlich. Das ist eine Bildungs- ebenso wie eine Orientierungsfrage. Langfristige Angelegenheiten. Die Entscheidungen zum Wahlalter aber sind entweder ausdrücklich, vorsätzlich oder unbekümmert gegen besseres Wissen vollzogen, oder ich habe ein entscheidendes Argument übersehen. Aufhilfe nehme ich gern entgegen. Und sollte im Hintergrund die Hoffnung stehen, auf diesem Wege ein tendenziöses politisches Bewusstsein zu erzeugen oder in einem bestimmten Bevölkerungsklientel höhere Zustimmungsquoten zu gewinnen, sagen meines Wissens auch alle üblichen Umfragen, dass das eine Fehlannahme ist.
Warum tut man so etwas? 

Helmut Aßmann


Kommata

29. mai 2017

Von Berufs wegen habe ich viel mit schriftlichem Material zu tun. Bücher, Zeitschriften, Briefverkehr in allen Darreichungsformen, wissenschaftliche Arbeiten, ein Büroarbeitsplatz halt. Pro gelesener Zeile etwa zwei bis drei Satzzeichen, also Doppelpunkt, Komma, Punkt und Semikolon. Das war früher mal eine Gliederungshilfe, um lange Sätze zu ordnen, große Zusammenhänge sichtbar zu machen und inhaltliche Akzente zu setzen. Inzwischen handelt es sich eher um den graphischen Beifang eines ebenso ungeregelten wie ungezügelten Mitteilungswillens. Unter Twittergesichtspunkten kann man das auch verstehen: jedes Komma macht eines von den möglichen 140 Zeichen zunichte. Deswegen wird man in Sachen Gliederung eher sparsam. Materialer Inhalt frisst formale Ordnung. Deswegen gebe ich meinen Prüflingen im zweiten theologischen Examen inzwischen auch den Rat, sie mögen auf der letzten Seite ihrer wissenschaftlichen Hausarbeit lediglich eine ungefähre Anzahl von Punkten und Kommata (nicht Kommas) notieren, die ich dann selber über die Arbeit verteile – dann kann ich mir wenigstens einen eigenen Reim auf das orthographische Gewürge machen.

Ich weiß, schon wieder so ein kulturpessimistischer Anfall. Erst können die Leute nicht mehr rechnen, dann nicht mehr schreiben und dann nicht mehr lesen, ja, und dann geht das Abendland unter, oder der Herr Jesus kommt wieder. Fehlt nur noch der Hinweis, dass unsereiner FAZ oder NZZ liest. Zugestanden. Ich bleibe aber bei der Forderung, dass die geregelte Unterbrechung des Wortstroms gegen Textüberflutungen schützt. Außerdem hilft sie dabei, den Lauf des Sinns besser zu verfolgen. Ganz abgesehen davon, dass Worte gute Umgebungen brauchen, um wirksam werden zu können.
In diesem Zusammenhang hat die Nachricht, dass die jüngere Generation nach und nach vom Telefonieren ab- und stärker auf das Abfassen von Texten zurückkommt, sogar etwas Verheißungsvolles an sich. Und mit 140 Zeichen ist der Interpunktionsaufwand ja vergleichsweise überschaubar.

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Helmut Aßmann


Rote Krawatte

22. mai 2017

Bemerkenswerterweise trägt Mr. President Donald Trump nicht immer, aber meistens prominent eine rote Krawatte. Im Wahlkampf war es geradezu ein Konflitkasscessoir. Und dann eher in der Länge einer Wäscheleine statt der einer Brustschürze. Nun tragen Personen mit diesem VIP – Ranking ja nicht zufällig ihre Hauswäsche oder Ausgehanzüge spazieren. Da reicht auch nicht der korrigierende Zugriff der häuslichen Mitbewohner. Selbst die in kleidsamer Bescheidenheit nicht zu überbietende Frau Bundeskanzlerin ist durch die harte Presse von Visagisten und Stylisten gegangen; ihre inzwischen notwendige Brille setzt sie, glaube ich, nur bei Fußballspielen auf (bei denen sie zuschaut, natürlich). Die rote Krawatte am Hals des mächtigsten Mannes der Welt wird sicherlich vieles bedeuten: „Sie steht neben Leidenschaft und Liebe auch für Macht, Stärke und Dominanz. Daher wird sie sehr gerne von extrovertierteren Herren getragen. Die rote Krawatte hat immer einen Bonus in der Wahrnehmung“, steht in einer der zahlreichen Internet-Kommentierungen zur Sache. Man wär nicht drauf gekommen… Trumps Vorgänger Barack Obama war eher auf Blautöne spezialisiert.
Die inszenatorische Geste der roten Farbe hat interessanterweise nur bei Primaten rechten Sinn. Die meisten Säugetiere können gar kein Rot sehen. Denen hülfe auch ein grellroter Kaftan nichts, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Das rote Tuch beim Stierkampf ist deswegen auch eher für die Zuschauer geacht, weniger für den Stier. Der interessiert sich mehr für das Gefuchtel des kleinen Mannes vor ihm. Von den Menschenaffen an aufwärts indes wird Rot immer stärker zum Alarm- und Erregungssignal, nicht nur beim kolossalen Hintern der Pavianmännchen. Deswegen die roten Linien, roten Knöpfe und roten Ampeln. 

In den Evangelien wird von Kleiderfarben übrigens fast nie berichtet. Es wäre reizvoll zu wissen, in welche Farbe Jesus gewandet war oder seine Jünger. Geld für große Variationen hatten sie ja nicht. Aber immerhin, ein durchgewebtes Gewand findet Erwähnung, das bei der Kleiderverlosung nicht zerschnitten wird. Es wird naturfarben gewesen sein, nicht rot, nicht blau. Die Bedeutung lag nicht in der Farbe.

Helmut Aßmann


Spannend

08. mai 2017

Wenn es spannend wird in einem Film oder Buch, erhöht sich der Pulsschlag, konzentriert sich die Aufmerksamkeit und verringert sich das Interesse an allem Randständigen. Dann steht ein Kraftfeld im Raum, das vom Ereignis bestimmt und gefüllt wird. Da liegt etwas von Aufregung in der Luft.

Das ist anders bei der Kirchsprechvariante von „spannend“. Dort geht es um eine eher allgemeine Bezeichnung für eine Sachverhalt, dessen Wahrnehmungs- oder Operationsstatus nicht ganz geklärt ist. Spannend sind vorzugsweise „Herausforderungen“, die man als solche identifiziert hat. Dabei ist auch der Term „Herausforderung“ eine Art Containerbezeichnung für alles, was weder Aufgabe noch Routine ist. Wie sich der kirchliche Mitgliederschwund auf die finanziellen Kräfte der Institution auswirkt, das beispielsweise ist eine „spannende“ Frage. Oder wie man den Islam als Religion akzeptiert, aber nicht zugleich als christliche Schwesterpartei hofiert, stellt sich als „spannende“ Aufgabe dar. Ob der Glaube durch die neurowissenschaftlichem Erkenntnisse nicht doch nur ein Erregungsmuster der Großhirnrinde darstellt, kommt natürlich als „spannendes“ Wissenschaftssujet zum Tragen. Spannend ist alles, was nicht selbstverständlich ist. Wenn man nicht sagen mag, dass ein Sachverhalt eklig oder unsinnig ist, nennt man ihn kurzerhand spannend – das klingt wie ein Kompliment, meint aber das Gegenteil. Findet man etwas doof, missverständlich oder einfach jenseits aller Bewältigungsmöglichkeiten, darf man es ebenfalls getrost „spannend“ nennen – es wird bei aller nichtssagenden Inhaltlichkeit immerhin so etwas wie Interesse und Wahrnehmungsbestätigung signalisiert. Dann hat man sich geäußert, ohne preiszugeben, mit welcher Haltung man sich zu positionieren gedenkt. Das Spannende an diesem merkwürdigen Hype um „spannende“ Dinge ist der damit deutlich vorgetragene Verzicht auf eine Wertung. Ich finde Trumps Politik nicht spannend, sondern beängstigend. Die Erosion kirchlicher Kräfte in der Gesellschaft finde ich besorgniserregend, und die digitale Ausspionierung zivilgesellschaftlicher Lebensverhältnisse finde ich widerlich. Spannend finde ich die Frage, ob die Wissenschaft wirklich die Leitkultur der globalen Welt wird oder ob am Ende die Religion die Nase vorn hat. Denn das ist nicht ausgemacht.

Helmut Aßmann


Nach Ostern

02. mai 2017

Man wird damit einfach nicht fertig. Auferstehung von den Toten. Nach drei Tagen, so berichtet das Neue Testament in verschiedenen Varianten und Erzählungen, ist Jesus von den Toten auferstanden. Was aber nicht bedeutete, dass es danach einfach genauso gewesen wäre wie früher, vor der Passion, damals am See, in den goldenen Zeiten.
Wieder da, aber anders wieder da.
Nicht erkennbar, und dennoch derselbe.
Kein Gespenst. Das auf alle Fälle wollen die Evangelisten absichern. Deswegen solche drastischen Episoden wie das Essen von Honig und Fisch. Auch keine wiederbelebte Leiche, das wäre nachgerade gruselig. Und es würde ja auch gar nichts bedeuten. Dann reihte sich der Erlöser nur irgendwo zwischen Herkules und Voldemort ein, all diesen Typen, die kein rechtes Verhältnis zum Tod haben. Da sind dann eben die Wunden, die Erinnerungen, die Geschichte mit dem sogenannten ungläubigen Thomas.
Kein Phantasma oder zu Imaginationen verdichtete Hoffnung, gegen all das sperren sich die Texte. Auf jeden Fall verschwunden, in den Himmel gefahren, wie es in der weltanschaulichen Sprache der Antike heißt, und jedem Zugriff irdischer Kraft, Macht und Erkenntnis entzogen.

Jesus hinterlässt mit seiner Auferstehung einen merkwürdigen Riss in der Weltgeschichte. An dieser Stelle geht nichts mehr einfach auf. Man kommt mit dem Hinweis auf mythische Geschichte nicht wirklich weiter: es handele sich um einen Erlösungsmythos, in dem der Tod oder die Schuld oder das Unheil oder irgendein anderer universalmenschlicher Schade bearbeitet wird. Das ist sicher auch richtig, aber es erklärt nicht das jahrtausendelange Bekenntnis einer physischen, empirischen, leiblichen Qualität, einem rationalen Anrennen gegen die rationale Bestreitung. Und, sicher, historisch ist da nichts mehr zu machen, alles längst nicht mehr aufweisbar. Es ist einfach die Möglichkeit, dass der hermetische Horizont geschichtlicher Möglichkeiten ein Loch hat, eine Lücke, eine Verwerfung, durch die die Engel Gottes und allerlei andere jenseitige Wesen kommen und uns besuchen … können. Warum sie das nicht häufiger tun, das ist derzeit meine vordringliche nachösterliche Frage.

Helmut Aßmann


Prozesse

18. april 2017

Die moderne Welt wird in Prozessen gedacht. In Bewegungen, die nacheinander mehr oder weniger geplant bestimmte Tatbestände hervorbringen, die dann wiederum selber Ursache von weiteren Prozessen werden. Die Produktionsprozesse in der Wirtschaft, gesellschaftliche und politische Meinungsbildungsprozesse, am Ende, ganz universal gedacht, der kosmische Evolutionsprozess, dessen Anfänge uns nicht restlos und dessen Ende uns völlig unbekannt sind, wenngleich sogenannte besser informierte Kreise uns das gerne anders darstellen. Auch wir selbst befinden uns – als Individuen – in einem fortwährenden (wenn es gut geht) Bewusstwerdungs- und (wenn es normal läuft) Alterungsprozess, in dem es keine festen Positionspunkte, sondern nur Etappen, Abschnitte und Verdichtungen gibt. Z.B. wenn jemand einen „Nuller“-Geburtstag feiert, ein Kind bekommt oder den Beruf wechselt. Wir sind nicht, wir werden dauernd. Das gilt für Staaten, Kulturen und die ganze Welt. Man kann (und soll!) auf diese Weise nicht verstehen wollen, wie die Dinge sind, sondern wird bestenfalls erkennen können, woher etwas kommt und worauf es in der nächsterkennbaren Zukunft hinauszulaufen scheint. Prozesse gliedern die Welt nicht statisch, sondern beschreiben Dynamiken und versuchen, im undurchsichtigen Weltgeschiebe einige tragende Bewegungen zu identifizieren, damit man sich halbwegs zurecht findet. Ob es diese Prozesse in einem dinglichen Sinne tatsächlich „gibt“, ist eine schwer zu entscheidende Frage. Es handelt sich ja nicht um feststehende Dinge, substantiell gedacht oder im Resultat beständig. Man kann sie weder anfassen noch in der Zeit einhegen. Sie bleiben dem Feststellungswillen unseres Alltagsverstandes gegenüber ausgesprochen unwillig und kontaktscheu.

Von Christian Lehnert, dem derzeitigen Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts in Leipzig, habe ich den Hinweis, dass der Prozessbegriff im Wesentlichen eine theologische Wurzel hat. In seinen Betrachtungen über die katholische Messe mutmaßt er, dass der Ursprung dieser modernen Betrachtungsform in der trinitarischen Gottesvorstellung des Christentums liegen könnte. Denn deren schönste Vision besteht in den sogenannten „processiones“, den gegenseitigen Hervorbringungen des Vaters, des Sohnes und des Geistes: der Vater zeugt den Sohn, der Sohn bezeugt den Vater, beide bringen den Geist hervor, der wiederum beide bekennt. Die Gottheit als dynamische Einheit in sich und der Welt gegenüber: vielleicht ist hier der Grund für den sagenhaften Veränderungswillen der westlichen Kultur zu greifen.

Helmut Aßmann


100 Prozent

03. april 2017

Inzwischen ist im Saarland gewählt worden. Zum Glück. Die Betrunkenheit, mit der Martin Schulz als politischer Heilsbringer durch die gesellschaftliche Öffentlichkeit getrieben worden ist, war auch nicht mehr auszuhalten. Den Gipfel bot die Wahl zum SPD-Vorsitzenden mit dem sensationellen Resultat von 100% der abgegebenen Stimmen. Das ist kein Ergebnis, sondern eine Verirrung. Den einschlägigen Kommentierungen in den verschiedenen Medien ist diesbezüglich nichts hinzuzufügen.
100% der Stimmen. Da ging es also nicht um Sachverhalte, sondern um ein Gefühl, das alle umfangen oder betäubt hatte. Das macht einen nachdenklich. Sollte nicht politische Vernunft walten, auch innerhalb einer über 100jährigen Ideengemeinschaft? Und macht nicht schon der einfache Menschenverstand deutlich, dass „everybody’s darling“ am Ende in der Regel „everybody’s asshole“ ist? Im Vorfeld der Passionszeit erinnert man sich aus gutem Grund, dass das selbst dem Sohn Gottes so gegangen ist: je höher die Erwartungen, um so tiefer der Fall. Der Fall Jesus lag allerdings anders: der hatte sich nicht zur Wahl gestellt, und die Jubler waren keine Gesinnungsgenossen.
Aber es war eben auf dem Parteitag nicht Sachverstand im Spiel, sondern Hoffnung, Hingabe und Erlösungserwartung führten das Zepter. In solchen Fällen verwandelt sich das Argument in emotionale Kraft, die politische Rede erscheint als charismatisches Ereignis, und die schiere Präsenz transformiert eine parteiinterne Zusammenkunft in eine sakralisierte Glaubensgemeinschaft. Mit Zuschauern, die sich die Augen reiben, welcher Geist denn hier bitteschön gerade die Regie übernommen hat.

Wo die Dinge restlos werden, bekommen sie letzte Verbindlichkeiten und Aussageziele. Da werden die Abweichler zu Null gebracht und anderslautende Meinungen niedergehofft. Da wird es religiös an einer ungehörigen Stelle. Wie schön, dass die Ministerpräsidentin mit dem unaussprechlichen Namen und dem Kürzel AKK das gute alte Wirklichkeitsprinzip in Geltung setzen konnte: 100% gehören in die Abteilung Metaphysik oder sind einfach banal – wenn der Zeiger über die 12 kommt, dann ist der Tag 100%ig vorbei.

Vielleicht wähle ich auf dem Hintergrund dieser Überlegungen aus Barmherzigkeit in diesem Jahr SPD.

Helmut Aßmann


Chillen

20. märz 2017

Das Wort „chillen“ ruft als erstes Aggressionen bei mir hervor. Es ist der Inbegriff systematisch inszenierter Faulheit, die sich mit einem neudeutschen Wort den durchschaubaren Scheinadel von Zeitgemäßheit umhängt. Chillen ist nix: Nichtstun, Daddeln, Rumhängen, den lieben Gott und die aufgeregte Menschheit sich selbst überlassen und die Zeit in einer mir weitgehend unerschwinglichen Form zu genießen. Vorzugsweise mit Handy in der Hand. Lasse ich meiner meist höflich heruntergeregelten Empörung gegenüber „chilligen“ oder „chillenden“ Personen einmal freien Lauf, ernte ich die erwarteten Reaktionen: was ich denn habe, worüber ich denn so erzürnt sei und ich solle erstmal chillen, bevor solche Stoßwellen an charakterlicher Erregung noch die chillige Atmosphäre versaubeuteln. Nach dem Motto: nur keine Anstrengung bitte, keinen Stress, keine überschießende Ambition über den Augenblick hinaus. Ist sowieso alles viel zu anstrengend hier.
Natürlich ist das Generationenschelte, ich weiß. Bekannt seit den alten Ägyptern. Meine Mutter hat sich über meine langen Haare, das im Arm getragene Transistorradio (so alt bin ich schon!) und die notorisch herumliegenden Klamotten schließlich auch bis zu Tränen aufgeregt. Am Ende ist dennoch was draus geworden, so alles in allem – sagt sie, inzwischen 81jährig, auch. Vielleicht ist es tatsächlich auch nur das, Generationenschelte. Mag sein. Vielleicht sollte man es aber auch anders sehen: „chillen“ als programmatischer Verzicht auf gezielte Aktivität könnte ja auch eine Anfrage an den funktional- effektiven Overkill sein, den meine Generation sich angewöhnt hat. Die Inpflichtnahme des ganzen Lebens für einen gesellschaftlichen Prozess, an dessen effektivem Ende alles mögliche steht, aber bestimmt kein glückliches Leben. Sich dagegen zu verwahren, ist kein sinnloses Unterfangen, im Gegenteil. Da hat eine Chill-Performance geradezu eine zivilisatorische Aufgabe. Ob diese Verwahrung aber die Gestalt einer Verweigerung haben muss, ist mir gleichwohl eine Frage. Ich gestehe aber zu, dass gerade diese zur Schau getragene Verweigerung den Stachel bietet, durch den die eigene Leistungsdynamik wirklich weh zu tun beginnt.

Frage in die Runde: hätte Jesus „chillen“ können?

Helmut Aßmann


eBike

14. märz 2017

Fahrradfahren ist im Trend. Seit etlichen Jahren. Aus der Wahl zwischen einem tuntigen Damen- und einem vierschrötigen Herrenrad ist ein ganzer Kosmos von Fortbewegungsmitteln entstanden, die nur eines vereint: die Aufwendung eigener Körperkraft, um auf dem Weg (im strengeren Sinn des Wortes) voranzukommen. Jeder Kilometer ist den eigenen Schenkeln und Waden abgerungen, jede Talfahrt durch einen Anstieg erkämpft. Eine einfache, ehrliche Sache, sozusagen. Kommst Du nicht hoch, geht’s auch nicht herunter. Machst Du schlapp, geht’s nicht weiter.
Nun gibt es seit einiger Zeit eine produktive Störung in diesem Themenfeld: Fahrräder mit Elektroantrieb. Aufladbare Fahrgeräte, die einen auch dann voranbringen, wenn man eigentlich aufgesteckt hat. Die einen über Steigungen tragen, die man vorher nicht einmal in Erwägung gezogen hat. Die Geschwindigkeiten möglich machen, zu denen die alten Knochen weder kurzzeitig noch dauerhaft in der Lage gewesen wären. Ein Hybrid zwischen Laufrad und Motorrad, getarnt als ordentliches Verkehrsmittel. Je nach Antriebsstärke handelt es sich dabei um eine Tretunterstützung oder eine Art heruntergeregelten Raketenantrieb.
Aber auch diese Mobilitätsinnovation teilt leider die Ambivalenz all ihrer Vorgänger: sie verringert die Mühe des persönlichen Transportes, es erhöht sogar den Gesundheitswert der Fortbewegung, das hat indes auch seinen Preis. Die guten, alten Signale der körperlichen Leistungsgrenzen können sprichwörtlich überfahren werden, und dann fährt man mit dem elektrobefeuerten Pedelec schnurstracks in den nächsten Straßengraben oder die Oma mit Rollator über den Haufen. Zum Glück meistens mit Helm, immerhin. Wer sich Technik an den Körper hängt, muss auch technische Instinkte ausbilden, sonst verschlimmbessert sich die Situation. Es wird gewiss noch eine Weile dauern, bis die enthusiastischen Biker mit Akku im Rahmen ihre Geräte beherrschen oder einen altersgerechten Führerschein machen. Bis dahin heißt es: Augen auf im elektrischen Straßenverkehr!

Übrigens: Unlängst ist in Hannover ein ganzes Parkhaus abgebrannt wegen eines explodierten Fahrradakkus. Wenn das mal kein Zeichen ist ….

Helmut Aßmann


Was vor Augen ist

06. märz 2017

Vor einiger Zeit entdeckte ich an einem Kollegen ganz unbekannte Seiten. Ein eher unauffälliger, dezenter, geradezu scheuer Mensch, bei dem man den Eindruck hatte, er wäre vor allem dankbar, wenn er ins eine eigenen vier Wände zurückkehren und en lieben Gott einen guten Mann sein lassen könnte. Gepflegte Erscheinung, distinktes Auftreten, höfliche Umgangsformen, aber eben nichts zum Pferde stehlen, einen Zug durch die Gemeinde machen oder einfach mal die Sau rauslassen.
Nun erfuhr ich, dass dieser Mensch alle Segelflugscheine dieser Welt besitzt, soweit sie in deutscher Sprache ausgefertigt werden können. Jahrzehntelang auf den Pisten der Segelflieger unterwegs, hin und wieder auch mal auf großer Tour, aber immer so, dass kaum einer etwas davon weiß. Er hat darüber nie ein Wort verloren. Ich hätte mir eine gigantische Briefmarkensammlung vorstellen können oder eine Expertise in Sachen Essigherstellung, vielleicht auch, wenn es hoch kommt, eine gründliche Kenntnis der Schweizer Gebirgswanderwege um das Engadin herum, aber Segelfliegen: nein, das war eine echte Überraschung. Irgendwie sogar ein Schock, denn auf der Stelle musste ich all meine diesbezüglichen Phantasien eines betulichen, leicht angestaubten und untertourigen Freizeitasketen umwerfen und gründlich überarbeiten. Es entstand einer neuer Mensch vor mir, der zwar genau so aussah wie der bereits bekannte, aber sich „von innen“ deutlich anders anfühlte. Da gab es offenkundig eine gut verborgene Dynamik, die meiner Vorstellung des ersten Augenblicks, aber auch der jahrelangen Bekanntschaft entweder entgangen war oder von ihr nicht wahrgenommen werden wollte.

Es ist offenkundig ratsam, auch bei den Menschen, die man lange kennt, einen Vorbehalt mitzuführen: es gibt immer noch einmal andere Seiten. Wir erkennen nur, was vor Augen ist, den ganzen Rest sehen wir nicht, und das Ganze sehen wir nie. Das ist ein Privileg Gottes, das ihm kein menschliches Urteil streitig machen kann. Unser Privileg ist es hingegen, die Komplexität menschlichen Daseins ein ganzes Leben lang sich entwickeln zu sehen.

Helmut Aßmann


Unpresidented

14. februar 2017

Am 17.12. des vergangenen Jahres ist die englisch-amerikanische Wortkreation „unpresidented“ in die Welt gesetzt worden. Ihr Urheber: Donald Trump, damals noch president-elect der USA. Anlass: die Kaperung einer US-Wasserdrohne durch chinesisches Militär. Diesen Vorgang nannte Trump einen „unpresidential act“ – und landete damit einen rhetorischen Rohrkrepierer besonderer Güte. Gemeint war – wahrscheinlich – ein „unprecedential act“, also einen Präzedenzfall, ohne Beispiel in der Vorgeschichte. Aber ob es wirklich nur ein Versprecher bzw. – es handelte sich ja wie immer um einen Trump-Tweet – Verschreiber war, ist so sicher nun auch wieder nicht. Das Selbstverständnis, aus dem heraus seit dem 20.1.2017 im Weißen Haus Politik betrieben wird, würde zu solch einer verquasten Wendung durchaus passen: die Vereinnahmung militärischen Geräts im chinesischen Meer ist in dieser Gesinnung ein Vorgang, der als persönliche Beleidigung des Präsidenten aufgefasst werden muss. Jedenfalls ist das Wort umgehend als „word of the year“ vom „Guardian“ nominiert worden.
Symbolische Handlungen, seien es eklatante Fehlleistungen wie diese oder epochale Szenen wie der Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau, entstehen aus dem Augenblick und verraten blitzlichtartig eine ganze Welt, die darin unvermittelt zum Vorschein kommt. Es geht nur um eine kurze Sequenz im Laufe eines Tagesverlaufs, eine Winzigkeit an Geschichte, aber sie verdichtet eine ganzes Leben, eine ganze Haltung, eine ganze Epoche. Dabei ist es nicht so, dass sich der jeweilige Protagonist der Handlung lange überlegt hätte, was er tun, lassen, sagen oder anstellen sollte. Das mag es je und dann auch geben. Zumeist aber folgt sie  einem Drehbuch, das ein anderer Geist geschrieben hat, der einen besser kennt und genauer versteht als die handelnde Person selbst. Wes Geistes Kind einer ist, sagen weniger die programmatischen Einlassungen, die er öffentlichkeitswirksam in die Welt setzt, als vielmehr die symbolischen Gesten, die einem von der Zunge oder der Hand gehen. Über die mus man nicht eigens reden. Sie sagen dennoch deutlich und meistens unmissverständlich, was gesagt zu werden hat. Und wer Ohren hat zu hören, der hört es auch.
Deswegen also auch: „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder“.

Helmut Aßmann


Predigtverbot

06. februar 2017

In Lettland haben sie im vergangenen Jahr die Frauenordination verboten, d.h. konkret: Sie wurde nach rund vier Jahrzehnten wieder abgeschafft. Nicht bei den Katholiken, nein, bei denen geht es selbstverständlich nach wie vor ohnehin nicht. Es war vielmehr eine evangelisch-lutherische Kirche, die diesen erstaunlichen Schritt getan hat. Die bereits im Amt befindlichen Pastorinnen werden allerdings nicht suspendiert, dürfen also weitermachen. Man reibt sich als Angehöriger einer evangelisch-lutherischen Kirche erstaunt die Augen. Eigentlich, so lautet das liberale Credo des gesellschaftlichen wie kirchlichen Fortschritts, entwickelt sich eine nicht unterdrückte und aufgeklärte Gesellschaft ja immer in eine Richtung: Abbau von Tabus, Verflachung von Hierarchietürmen und Auflösung von kommunikationshindernden Grenzen. Und was in der Gesellschaft geschieht, vollzieht sich mehr oder weniger irgendwann auch in der evangelischen Kirche, wenn die üblichen theologischen  Diskussionen sich abgekühlt haben. Siehe Umgang mit Beziehungsfragen, Kleidungsgewohnheiten und Musikgeschmack. Und nun das: die lettische lutherische Kirche macht einen religionspolitischen Salto rückwärts und landet in der liturgischen Vorkriegszeit. Zwischen Empörung und Ratlosigkeit schwanken die Reaktionen der anderen protestantischen Kirchen Europas. Wo es doch selbst in Tansania anders geht …
Da erhebt vor aller Augen eine alte Versuchung ihr unschönes Haupt: die Rettung der Kirche durch Restauration und Beschwörung von vermeintlich gottgegebenen Privilegien. Sie wird als Gegenwelt ausgerufen, in der man nicht nur nicht mehr alles mitmacht, was die böse Welt an wachsender Verdorbenheit präsentiert, sondern anderen Prinzipien folgt, die aus der Schrift abgelesen sein sollen. Nun, Schriftzitate sind immer schnell bei der Hand, für so ziemlich jede Ideologie. Skeptisch sollte man immer dann sein, wenn die angestrebte Rettung der Kirche allzu offensichtlich zu Lasten einiger weniger geht. Vor allem, wenn es sich (mal wieder) um Frauen handelt. Das ist dann offenkundig weniger Gottes Wille als Programm der machtbeflissenen Patriarchen. Vorsicht, wenn die Angst das Zepter führt!
Aber machen wir uns nichts vor: In unsicheren Zeiten werden kirchengeschichtliche Ladenhüter ausgesprochen attraktiv …

Helmut Aßmann


500 Jahre Reformation

30. januar 2017

Nun ist es also im Lauf, das Reformationsgedenkjahr Nr. 500. Der Reformationstruck braust durch die europäischen Lande und besucht Orte von reformatorischer Geschichtsbedeutung. Das Pop-Luther-Oratorium tourt durch Deutschland. Ein gewaltiger Kirchentag steht in Vorbereitung, und Städte wie Erfurt, Eisenach und Augsburg haben sich auf reformatorischen Hochglanz poliert. Luther dringt auf allen Medienkanälen in die Öffentlichkeit, gerade so wie vor 500 Jahren, als für einige Jahre fast ein Drittel aller gedruckten Schriften deutscher Sprache aus seiner Feder kam und er zur alles beherrschenden Persönlichkeit im Reich wurde. Zentrum der Biographie Luthers allerdings ist Wittenberg. Es wird in den Sommermonaten so mit Kirche und Geschichte und Jubiläum vollgesogen sein, dass man es kaum wiedererkennen dürfte. Das verschlafene Nest in Sachsen-Anhalt wird von jetzt auf gleich in die Weltöffentlichkeit katapultiert, und man wird gespannt sein dürfen, was von all dem Religions- und Wallfahrtshype am Ende übrigbleibt. Merkwürdig berührt mich immer wieder, dass die Region um Wittenberg vermutlich der atheistischste Fleckchen Erde auf dem ganzen Globus ist, mit weniger als 10% Kirchenzugehörigkeit für beide Konfessionen. Ausgerechnet. Wittenberg, die Stadt, die zu Luthers Zeiten schier auseinanderbarst vor Studenten und Gelehrten, Neugierigen und sensationslüsternem Volk. Alles dahin. Als würde von der reformatorischen Glut des 16. Jahrhunderts nach den Wechselfällen der Geschichte nur noch ein Häufchen Asche übrig geblieben sein, das an den großen Brand Europas erinnert. Oder: als würde von der großen Erfahrung der Rechtfertigung allein aus Glauben aus guten Gründen möglichst wenig zum Berühren und Schauen verblieben sein, damit niemand wieder mit Wallfahrten, Reliquien, opulenten Kathedralen und derlei Hinterlassenschaften anfangen möge. Damit der Glaube sich an nichts als das Wort des Herrn Christus binden kann, soll sich auch keine Energie an Stein, Holz oder Stoff verlieren. In Wittenberg nicht, und auch in der ganzen übrigen Welt nicht. Das macht den evangelischen Glauben ebenso leicht wie flüchtig. 

Helmut Aßmann


Unbedeutend

23. januar 2017

Das Bundesverfassungsgericht hat ein erstaunliches Urteil in Sachen NPD gefällt. Es handelt sich bei ihr nach höchstrichterlicher Einschätzung um eine eindeutig verfassungswidrig eingestellte Partei, ideell ausgestattet mit allerlei weltanschaulichen Ungeheuerlichkeiten und repräsentiert durch eine Reihe von nachweislich strafrechtlich auffälligen Mitgliedern. Die Karlsruher Konsequenz dieser eindrücklichen Bestandsaufnahme ist aber nun – erstaunlicherweise – kein Verbot. Stattdessen wird in der Begründung hinzugefügt, die Rechtsaußentruppe sei so unbedeutend, dass sich das Verbot sozusagen verwaltungsenergiepolitisch nicht lohnt. Will vermutlich sagen: dann müsste man jeden einschlägig geprägten Gesinnungsverein ebenfalls verbieten. Das käme am Ende einer Meinungsschnüffelei  gleich, die nicht zu betreiben eben Ausweis eines Rechtsstaates sei.
Zunächst: Wegen evidenter Unbedeutendheit nicht verboten werden zu müssen, ist vermutlich noch niederschmetternder als wegen gegebener Straftatbestände verurteilt zu werden. Dieses Nichtverbot ist eine in juristische Sprache gefasste Ehrabschneidung. Damit muss die NPD klarkommen. Das wird ihr sicherlich gelingen. Kleine Zahlen haben Überzeugungstäter noch nie abgeschreckt. Dass das Gericht aber die mögliche Wirksamkeit einer Gruppe über die festgestellte Rechtswidrigkeit stellt, wenn es um deren juristische Würdigung geht, hat nahezu theologischen Rang. Die Wirkung zählt, nicht die Ursache. Ob es etwas Böses tut, ist von Belang, nicht, ob es etwas Böses ist. Der Verzicht auf die Sanktionierung der Verfassungswidrigkeit dokumentiert eine erstaunliche Verschiebung der politischen Optik: Wir reagieren nicht auf Gesinnungen, sondern vor allem auf nachweisbare Handlungen, die der Partei als solcher zugeschrieben werden können.  Ob das dem Gemeinwesen dient, wird sich weisen. 

Der Umstand allerdings, dass immerhin über eine Million Euro in die Wahlkampfkampagnen einer Partei fließen, die genau dieses politische System abzuschaffen bemüht ist, macht deutlich, wie heikel das Unternehmen ist: Ja und Nein sollte man nach Möglichkeit nicht zugleich sagen.

Helmut Aßmann


Sicherheit

16. januar 2017

Alle politischen Parteien punkten derzeit mit dem Thema „Sicherheit“, namentlich als „innere Sicherheit“ präzisiert. Das Sicherheitsbedürfnis entspringt den Beunruhigungen, die durch eine verwirrende Zahl unüberseh- und undurchschaubarer Bedrohungslagen ausgelöst werden. Ich erinnere kaum einen Jahreswechsel, in dem öffentlich wie privat so verhalten, sorgenvoll und bedenkenreich erwogen, diskutiert und in Aussicht genommen wurde, was das neue Jahr wohl bringen wird. Es ist ja auch beeindruckend, wieviele Säulen öffentlicher Ordnung ins Wanken geraten. Nicht nur dass die Flüchtlingsfrage ganz Europa durcheinanderbringt oder Russland unverhohlen den Weltcowboy spielt – nun kommen Sachen wie fake news, Infragestellungen der NATO oder gar Abgesänge auf die Demokratie als tragende Staatsform hinzu. Was soll man da glauben, wem trauen, wo mitmachen und wie begreifen?
Diese lauthals propagierte Sicherheit ist allerdings ein Sehnsuchtswort. Als Kampfbegriff ist sie schwach, auch argumentativ. So sicher, wie heute die Straßen und öffentlichen Räume sind, waren sie in den 70er Jahren nicht. Man mag es kaum glauben, aber die erhobenen Zahlen sagen das. Verkehrstote, Umweltverschmutzun, Gewaltdelikte: alles zurückgegangen seither. Nur das Gefühl der Verunsicherung nicht. Als ginge es bei der Sicherheitsdebatte selbst auch nur um eine postfaktische Angelegenheit. Will sagen: nicht nur den sogenannten Fakten ist nicht zu trauen, sondern auch den eigenen Gefühlen nicht. Das vergrößert den Sicherheitsbedarf sogar noch. Und signalisiert einen tiefergehenden Bedarf.
Die reformatorische Theologie hat deswegen von Vornherein auf die Unterscheidung von „Sicherheit“ und Gewissheit gesetzt. Sicher ist man einer Sache nie. Zuviel fake Potential in den Fakten. Gewissheit hingegen kommt aus einer anderen geistigen Welt. Sie insistiert nicht auf der Belastbarkeit unserer Erkenntnis oder Argumente, sondern beheimatet sich in einer Zusage, einer Bejahung. Das macht die Welt nicht sicherer, aber die Seele ruhiger.

Helmut Aßmann


Genau

21. dezember 2016

Früher sagte unsereiner, wenn ihm gerade nichts einfiel oder gewisse Wortfindungsstörungen zu überwinden waren, solche sinnlosen Kürzel wie „ehm“ oder „äh“ oder, so ein inzwischen verstorbener Kirchenfürst der hannoverschen Landeskirche, „erne“, ein echtes Kuriosum unter den Verlegenheitsgesten. Bedeutete nichts, außer dass man gerade kurzfristig nicht auf Sendung war, aber in Bälde wieder sein würde. Seit geraumer Zeit ist „äh“ out. Genau. Stattdessen werden einigermaßen ordentlich formulierte Sätze an beliebigen Stellen durch eben dieses Kürzel, also „genau“, unterbrochen, ohne dass man recht feststellen könnte, zu welchem Zweck. Bei unordentlichen Sätzen geht es natürlich auch. Meistens sogar noch besser. „Genau“ passt nämlich immer. Braucht keinen Anschluss nach hinten oder nach vorn. Zwar hat „genau“ ja einen ursprünglich eigenen Sinn, so etwas wie „genau“,  was man bei „äh“ und „ehm“ eher nicht behaupten kann. Genau. Aber das bedeutet nicht, dass dadurch der Satz genauer, die Aussprache besser oder die Verständlichkeit erschwinglicher werden würde. Mit „genau“ kann man lediglich so tun, als wäre es so. Ein echtes Sprachfake. Das ist wahrscheinlich seine sehr genau verborgene Bedeutung. In einer hoffnungslos überkommunizierten und -informierten Gesellschaft bedarf es gelegentlicher Verstärkungsmittel, um selbst ernst zu nehmen, was man da sagt. Genau. Und wenn die anderen es einem nicht sagen, muss man es eben – genau – selber sagen. In der Kirche sagt man ja auch an jeder halbwegs passenden Stelle „Amen“, ohne dass sich damit schon erschließen würde, was damit genau gesagt sein sollte. Auch hier also eine Mischung aus: „klar, hab verstanden“ und „ist in Ordnung“. Nur, dass es sich um ein hebräisches, kein deutsches Wort handelt. Da kann man – Amen – eigentlich noch unbekümmerter sein. Es sei denn, dass Worte überhaupt etwas bedeuten sollen, genau. Wäre ja auch mal eine Alternative. Echt jetzt.

Helmut Aßmann


Weihnachtsmarkt

12. dezember 2016

Dieses Jahr war ich wieder einmal auf dem Weihnachtsmarkt, nach längerer Abstinenz. Ich gehöre nicht zu den Intensivtätern in dieser Sache. Es war ziemlich warm, Freitagabend, Wochenendatmosphäre mit Kaufanfällen in den verschiedensten Branchen. Was es auf dem Markt gab: Nun, das übliche, Schmalzgebäck, Wurststände, Weihnachtsschmuck, Krimskrams, den man auch auf den Wochenmärkten finden kann, nur nicht so stimmungsvoll drapiert. Sagenhaft viele Menschen, die sich über die üblichen Themen des Alltags und des Lebens unterhalten, übergossen mit Lichtfluten, die aus allen möglichen Quellen herausströmen. Weihnachtsmarkt als kreativer Lampenladen. Als stumme und steife Teilnehmer dieser kollektiven Wohlfühlperformance stehen, liegen und sitzen allenthalben die üblichen Weihnachts- und Adventsvertreter herum: der Weihnachtsmann in Coca Cola – Version, Rentiere und allerlei anderes Polargetier, Engel in allen Varianten. Die Originalmannschaft des Weihnachtsabends ist hierzulande eher auf Urlaub: die Heilige Familie, die Weisen aus dem Morgenland und Ochs samt Esel tauchen auf den Weihnachtsmärkten nicht mehr auf. Die haben sich in der Regel in die Weihnachtskrippen zurückgezogen, die in den Kirchen aufgestellt werden. Wenn der Weihnachtsmarkt um die Kirche in der Dorf- oder Stadtmitte herumgestellt ist, hat das sogar einen gewissen Charme. An diese großen Gebäude kann man sich anlehnen, mit allem, was der Tag so vorbeischiebt. Und selbst wenn man nicht mehr weiß, warum es überhaupt so etwas wie Weihnachten gibt, trägt die Kirche in sich das Kraftzentrum eines erfüllten Lebens für den, der sich erinnern möchte, einfach weiter. Jahr für Jahr, Weihnachtsmarkt für Weihnachtsmarkt.

Helmut Aßmann


O bot o bot

30. november 2016

An Anrufbeantworter und Callcenter haben wir uns inzwischen gewöhnt. Wer hinreichend Zeit hat, kann den Anweisungen der Kommunikationsmaschinen folgen und irgendwann – nach dem Drücken der Tasten zwei, sieben, fünf und einer persönlichen Kennziffer - einmal auf einen lebendigen Menschen treffen. Idealerweise kann man – am Telefon – noch sicherheitshalber fragen: „Sind Sie ein Mensch oder ein Programm?“ Die dann erfolgende Antwort lässt einen zumeist über den Status des Gegenübers gewiss sein.
Anders ist es bei den social bots, diesen kleinen Sozialprogrammen, die sich im Netz gebärden wie richtige Menschen und aus selbstprogrammiertem Antrieb heraus ganze Scheinwelten an Meinungsbildung und Informationsausstoß in Gang setzen können. Gerne genommen, um politische Interessen zu positionieren, Unternehmensphilosophien zu verschleiern oder einfach nur auf den Rankings der Suchmaschinen nach oben zu gelangen. Die antworten wie richtige Menschen, lernen mit jeder Kommunikationsaktivität dazu und können, wie einschlägige Experten sagen, kaum noch von realen Usern im Netz unterschieden werden. Ebenso beeindruckend wie bedrückend: Gespräche mit einem digitalen Niemand, unterhaltsam, kenntnisreich und stilgerecht.

Will man sichergehen, ob das kommunikative Gegenüber wirklich ein Mensch ist, muss man schon hingehen und ihn anfassen. ePost reicht nicht, Fotos reichen nicht, auch Stimmen am Telefon reichen nicht – die sind mittlerweile ebenfalls bestens nachgebaut und programmiert. Hilft alles nichts: ob das, mit dem man da umgeht, ein Mensch ist, muss mit den eigenen Sinnen festgestellt werden. Menschsein verschwindet in einer Wolke von ambivalenten Kommunikationsspuren, wenn da nicht Fleisch und Blut Widerstand leisteten. Menschwerdung – dieser Glaube entfaltet unter den Bedingungen einer durchdigitalisierten Welt eine erstaunliche Modernität. Jesus ist ein Mensch und kein spiritueller social bot.

Helmut Aßmann


Postfaktisch?

21. november 2016

Spätestens seit der Wahl des neuen US- Präsidenten Donald Trump macht das Wort von der „postfaktischen“ Ära die Runde. Statt verlässlicher Fakten werden vielmehr unberechenbare Stimmungen als Begründung für politisches Handeln herangezogen. Die seriösen Blätter der Republik beklagen das einhellig als einen Rückfall in vormoderne Betroffenheitspolitik oder sehen die politische Stabilität unserer Gesellschaften in Gefahr. Wenn beispielsweise die eindeutigen Messdaten zum Klimawandel kurzerhand als Panikmache abgetan werden – wie soll man dann eigentlich begründbare Klimapolitik machen? Die politischen Verschiebungen auf dem Klimagipfel in Marrakesch zeigen auf, welche Dynamik mit solchen Entscheidungen ausgelöst werden kann.
Nur, so einfach ist die Sache nicht. Die Daten sind das eine. Ihr Umgang damit ist ein anderes. Was die Daten sagen und als politisches Signal auslösen sollen, ist schon immer eine umstrittene Angelegenheit gewesen. Das politische Gezänk um die Auswertung von Statistiken geht einem Nichtfachmann immerhin seit Jahrzehnten auf die Nerven. Alle Interessenverbände berufen sich auf wissenschaftliche Daten, und am Ende kommt kurioserweise regelmäßig das heraus, was vorher schon vermutet worden war. Es ist nicht wirklich ein Wunder, dass auf die Länge der Zeit die Daten selbst in Frage gestellt werden und dafür ein gewissermaßen datenunabhängiges Weltbild an ihre Stelle tritt. So etwas ist einfacher zu vertreten und zu vermarkten, und es kann sich der eigenen Empfindungen rückhaltlos bedienen, von keiner Messung und Experimenterfahrung behindert.
Um es noch komplizierter zu machen: Überzeugung ist eine mindestens doppelte Sache. Der Verstand beugt sich gemeinhin den Daten, das Herz tut es nicht. Schwung gewinnt eine Sache, wenn sie eine visionäre Perspektive hat. Jeder Glaube ist ein Beleg dafür. Wissenschaftlich hätte das Christentum nie eine Chance gehabt.

Was mich beunruhigt an diesem „postfaktischen“ Hype, ist weniger die Geringschätzung der Fakten, es ist vielmehr der Hochmut, Recht haben zu wollen.

Helmut Aßmann


Volkstrauertag

14. november 2016

Wie feiert man so was? In den 60er Jahren wurde weithin noch unbekümmert von „Heldengedenktag“ gesprochen, als einer Erinnerungsgelegenheit für die Gefallenen der Weltkriege, die ihr Leben für ihr Vaterland eingesetzt haben. Geht heute kaum noch, ohne dass allein Begriffe wie „Helden“ oder „Gefallene“ unter Verdacht gestellt werden. Zu Recht. Die nationalen Betrunkenheiten der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte haben in der Tat ausgedient. Als „Volkstrauertag“ ist der vorletzte Sonntag des Kirchenjahres nurmehr ein Zeichen der Klage über die offenbar unausrottbare Neigung der Menschen, die Anwendung von Gewalt als ultimative Problemlösung zu akzeptieren. Alle Bemühungen nach dem zweiten Weltkrieg eine Kultur der Kriegsvermeidung auf dem Planeten zu errichten, sind krachend gescheitert. Es wird gebombt und geschossen, zerstört und massakriert, als hätte es die großen Kriege des 20. Jahrhunderts nicht gegeben. An vielen Stellen der Erde brennt es lichterloh. Alle pädagogische Aufwendungen um friedensethische Positionen und Formate umsonst? Das Herz des Menschen böse von Jugend auf, ist es das?
Ja, sicher. Das ist es auch. Aber das ist nichts Neues. Überraschend ist es vielmehr, dass es so etwas wie die Weißhelme in Syrien gibt. Leute, die unter Lebensgefahr dem Menschsein unter unmenschlichen Bedingungen ein Gesicht geben. Oder die Leute von I.S.A.R e.V. – Rettungsspezialisten, die sich freiwillig als weltweit operierende Katastrophenhelfer zur Verfügung stellen. Oder die Hildesheimer Jugendlichen, die sich aufmachen, um in den Flüchtlingslagern auszuhelfen, einfach, weil sie sich angesprochen wissen. Dass es all diese Leute gibt, macht das Elend in der Summe kaum kleiner. Aber es signalisiert, dass neben der Klage des Volkstrauertages eine Hoffnung noch größer ist: dass Gottes Erbarmen keine Ende hat, nirgends.

Helmut Aßmann


99 Prozent

18. oktober 2016

Es ging durch die Presse, dass niemand Geringeres als der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg plant, in den kommenden Jahren 99% seiner Firmenanteile für einen guten Zweck zu stiften. Das sind immerhin rund 46 Milliarden Dollar. Das ist die Größenordnung. Da stockt einem schon der Atem. Diese Summe übersteigt die Höhe des Bruttoinlandproduktes vieler Staaten auf der Erde. Wahrscheinlich lässt sich von dem verbliebenen Anteil von 1%  immer noch ganz gut leben. Das sei Herrn Zuckerberg und seiner liebreizenden Ehefrau Priscilla bei einem solchen Wohlfahrtsanfall auch herzlich gegönnt. Es wird berichtet, sie habe bei der Abkündigung dieser hochherzigen Ambition Tränen vergossen.
Nachdenklicher muss man werden – finde ich jedenfalls –, wenn man sich den Zweck dieser großkalibrigen Spende anschaut. Es soll um nicht weniger gehen als die Beseitigung aller Krankheiten. Die Beseitigung aller Krankheiten …Jedenfalls schreiben das einige durchaus seriöse Zeitungen. Zuckerberg habe zu Protokoll gegeben, ebenfalls seriöse Wissenschaftler hätten ihm gesagt, dass ein solches Vorhaben sogar langfristig Erfolg haben könnte. Unwillkürlich fragt man sich, wer solch einen kapitalen Quatsch aus seinem Gehirn lassen kann. Denn wenn nur zu einem Prozent richtig ist, dass die meisten Krankheiten stets auch endogene Ursachen haben, also mit dem Lebenswandel der Menschen verbunden sind, müsste folgerichtig die Beseitigung aller Krankheiten mit der gezielten Ausrottung der Menschheit einhergehen. Außerdem kommt einem die unangenehme Frage in den Sinn, ob damit auch all die sozialen, psychischen und körperlichen Krankheiten, die durch Unternehmen wie Facebook allererst verursacht werden, unter die Rubrik der zu eliminierenden Gesundheitsbeeinträchtigungen fällen. Das würde eine Selbstabschaffung der Sauerbruch-Firma bedeuten. Ich sehe einmal ganz davon ab, dass viele Krankheiten als Warnungen und Korrekturzeichen für den betroffenen Menschen daherkommen und eher als gesundheitsförderlich einzustufen sein dürften.

Macht nichts – alle Krankheiten weg. Zuckerberg steckt Jesus, Paracelsus und Ferdinand Sauerbruch strategisch in die medizinische Tasche. Das ist so etwas wie die Zweidrittelerlösung der Menschheit. Es bleiben dann ja nur noch Bosheit und Dummheit, die zu beseitigen wären. Das übernehmen dann vermutlich Jack Bezos und Tim Cook. Das ist dann das kalifornische Paradies.

Mein Gott, wie danke ich Dir für eine solide Theologie! 

Helmut Aßmann


Korallenriff

10. oktober 2016

Die Katastrophe stand bis vor kurzem fest: binnen einer Generation wird das Great Barrier Reef vor Australien verschwunden sein. Bunte Fische, zauberhafte Unterwasserwelten, Myriaden von Lebewesen – alles grau in grau, von Seetang überwuchert, aus mit UNESCO – Naturerbe. Wer noch was davon haben will, sollte alsbald seinen Urlaub dort verbringen. 
Nun lese ich in der Zeitung, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Die andere Hälfte lautet: es gibt Riffe, die gehen tatsächlich kaputt, und es gibt solche, die passen sich an. Da geht die Korallenwelt nicht unter. Einen Augenblick innegehalten, fallen einem gleich ein paar mehr Fakten ähnlichen Inhalts dazu ein. Das Ozonloch ist weitgehend verschwunden – die umweltpolitischen Maßnahmen haben gegriffen, so scheint es. Okay, dafür reißt nun die Eisdecke im Sommer fast bis zum Nordpol auf. Aber das Waldsterben hat irgendwie auch aufgehört. Die Wälder sind in Europa sogar auf dem Vormarsch, zusammen mit Wölfen, Bibern und Luchsen. Der Kanarettist Dieter Nuhr weist in seinem aktuellen Programm darauf hin, dass man seit Jahren in Rhein, Elbe, Ruhr und Emscher wieder Fische angeln kann, wenn man sich nicht gerade erwischen lässt – das, nachdem in dessen Jugendzeit jedes Chemielabor gesundheitsverträglicher gewesen ist als einer dieser Flüsse. Okay, dafür ist nun der Ozean voller Plastik. Aber wir sterben nicht mehr an Mutterkorn, Pest, Lepra und Rur. Ist behandelbar und aus dem Rennen der tödlichen Krankheiten. Bei AIDS, Krebs oder MS sieht es noch finster aus, Unfälle gibt es auch noch, aber die durchschnittliche Lebenserwartung ist in astronomische Höhen gestiegen. Okay, dafür gibt es neuerdings Allergien in unübersehbarer Vielfalt, da kann sich sozusagen jeder eine individuelle aussuchen. Psychische Krankheiten kommen dazu und Nackenversteifungen wegen des tagelangen Auf-das-Handy-Guckens.
Aber irgendwie will die Welt nicht wirklich untergehen. Der Schöpfung fällt immer wieder was ein, um sich an die neuen Lebensbedingungen anzupassen. Und den Menschen fällt auch immer wieder etwas ein, um den Missbrauch der Dinge nicht endgültig ins Kraut schießen zu lassen. Ich weiß, man kann das als Naivität und völlig unangemessenen Hurra-Optimismus brandmarken. Aber vielleicht ist es nur eine Bestätigung des ersten Berichts von der Schöpfung: Siehe, es war sehr gut! Stimmt einfach, bis heute.

 

Helmut Aßmann


Dokumentation

27. september 2016

Unter einer Dokumentation verstand man früher eine Art Tatsachenbericht, entweder in gedruckter oder gesendeter Form. Über die Oderflut von 2002 etwa oder die Entstehung der RAF oder das Gewese von Kleingartenvereinen. Dann sammelte ein investigativer Journalist oder Medienexperte allerhand Materialien und Erkenntnisse zusammen, bis er mit seiner Dokumentation ein leidlich erkenn- und verstehbares Bild der von ihm untersuchten Sache wiedergeben konnte. Selige Zeiten. Wir hingegen sind Zeugen eines gesellschaftsweiten Dokumentationszwangs, dessen tiefster Sinn nicht die Wiedergabe von Realitäten ist, sondern deren Rechtfertigung. In der Sache fühlt sich das alles ganz gleich an. Man schreibt auf oder hält fest, was geschehen ist, wieviel Zeit, Kraft und Material für die eine oder andere Tätigkeit verbraucht worden sind, und macht daraus dann einen Bericht, der irgendjemand Verantwortlichem übergeben wird. Solange der wirklich Interesse an der Sache hat, ist es gut. Dann hilft es, die Dinge zu verbessern und zu entwickeln. Sobald es darum geht, wirtschaftliche Fragen damit zu klären, wird aus der Dokumentation eine Überlebensstrategie. 
Weil das ökonomische Paradigma aber als Leitidee inzwischen alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt, wird ums Leben dokumentiert; Die Beratung des Arbeitslosen, das Gespräch mit dem Suchtkranken, der Besuch bei der bettlägerigen Seniorin und die Arbeitslisten in der Steuerverwaltung. Der apokalyptische Fall der Dokumentation ist die Evaluation. Sie macht aus den Daten ein Urteil. Mit ihr verliert die Begleitung eines Arbeitsprozesses seine Unschuld. Kommen dann noch die furchtbaren Reiter der dokumentativen Endzeit hinzu: das Qualitätsmanagement, die work-life-balance, der break-even-point of investment und das Alleinstellungsmerkmal, dann ist das Ende aller Freude nahe herbeigekommen. Dann wird nicht mehr gearbeitet, sondern dokumentiert, nicht mehr entschieden, sondern evaluiert, nicht mehr gelebt, sondern selbstoptimiert.

Hätte jemand versucht, das Leben Jesu zu dokumentieren, wäre ihm wahrscheinlich wegen der katastrophalen Ineffizienz der Stift verglüht. 

 

Helmut Aßmann


Erfolgreich scheitern

12. september 2016

Ratgeber zu diesem eigenartigen Thema gibt es zuhauf. Die Klicklisten bei den einschlägigen Anbietern geben sattsam Auskunft darüber. Dabei weiß man nicht so recht, was genau gemeint ist. Soll man sich darauf freuen, dass die eigenen Pläne in die Binsen gehen, weil man erst dann so richtig loslegen kann? Nach dem gängigen Sprichwort: „Aus Schaden wird man klug“? Erfolgreich scheitern hört sich unter diesem Gesichtspunkt fast so an, als würde das Scheitern selbst schon der Teil des somit gesicherten Erfolges sein. Als würde es lediglich darauf ankommen, die richtigen Schlüsse zu ziehen, und schon hätte man sein Schäfchen im Trockenen.
Selbst die Bibel spielt mit diesem Gedanken. Möglichst viel sündigen, damit sich Gottes vergebende Gnade um so mächtiger erweist: Dem Sinne nach hat der Apostel Paulus solche Erwägungen durchaus vorgetragen. Diese gedankliche Figur wäre zudem eine prima Anleitung für heranwachsende Menschen, die die elterliche Fassungskraft austesten wollen: Den Alten möglichst intensiv auf die Nerven gehen, weil dann die schlussendliche Versöhnung um so herzzerreißender ausfallen kann.
Spätestens an dieser Stelle wird es einem – wegen der unmittelbaren Anschauung – blümerant. Gelingendes familiäres Leben funktioniert so auf alle Fälle nicht. Und Paulus beendet seine Gnadenspekulation schließlich auch mit dem entschiedenen Satz: Bloß das nicht! Denn Scheitern ist nun einmal in erster Linie nichts Schönes, sondern eben eine richtige, schmerzhafte, gelegentlich nachhaltig wirksame Niederlage. Fühlt sich nicht gut an, tut weh und macht einen schlechten Eindruck. Sie ist kein Beitrag zur Karriereleiter, sondern ihr Gegenteil. Es handelt sich nicht um das Kernelement einer Optimierungsstrategie. Weder religiös noch wirtschaftlich wird man das ernsthaft behaupten können.

Wer von einem „erfolgreichen Scheitern“ spricht, tut nämlich so, als könnte er in die Zukunft sehen und schon erkennen, wie man aus den Scherben der Vergangenheit das Porzellan für die Zukunft zusammenklebt. Erstens ist das Unfug. Und zweitens: Als ginge das ohne Ansehen des Gescheiterten einfach auf dem Wege einer Handlungsanweisung in zehn Schritten. Irrsinnigerweise heißen diese Ratgeber gelegentlich auch noch so: in x Schritten zum Erfolg. Denn es ist ja die Person gescheitert samt dem Projekt. Das eine bekommt man möglicherweise wieder hin, aber das andere ist eine unvorhersehbare Unwägbarkeit: der Mensch als sein eigenes Geheimnis. Die zentrale Frage, vielleicht besser: das zentrale Bedürfnis nach dem Scheitern liegt vermutlich nicht darin, das vor Augen stehende Desaster zur Grundlage einer bahnbrechenden Neuorientierung umzuetikettieren, als vielmehr darin, dass einem geholfen wird. Da geht es um Trost, nicht um Trotz. So schlicht etwa. Ob der Erfolg, irgendein Erfolg noch hinterherkommt, sei dann dahingestellt.

Helmut Aßmann


Missverständnisse

02. september 2016

Missverstanden zu werden, ist in der Regel etwas, das man vermeiden möchte. Sprache ist ja gemeinhin dazu da, dass man über kurz oder lang darin übereinkommt, dasselbe verstanden zu haben. Angesichts der Doppeldeutigkeit von Worten, Wendungen und Weltsichten ist das keineswegs ein trivialer Akt, der sich nebenbei und von selbst ergibt. Vielmehr gehört es – finde ich – zu den menschlichen Grundpflichten, nach bestem Wissen und Gewissen sicherzustellen, dass die eigenen Worte und Überlegungen verstanden werden können. Missverständnisse entstehen von allein schnell genug. Ob nun Schwerhörigkeit dahintersteckt, unzureichende Ausdrucksmittel dafür verantwortlich zeichnen oder einfach komplizierte Sachverhalte in Rede stehen, ist für das Resultat einerlei.
Man kann aber auch aus eigenem Antrieb künstliche Verstehenshürden errichten. Wer das tut, hat Gründe, und meistens keine guten. In der diplomatischen Kunst mag diese Methode zu den durchaus üblichen Verhandlungsinstrumenten gehören, aber sie indiziert Misstrauen und Doppeldeutigkeit in der Kommunikation. Insofern mag sie auf der politischen Bühne ihren Platz haben. In den Raum persönlicher Verständigung gehört sie von Haus aus eher nicht.
Aber dann gibt es noch eine besondere Variante des Missverständnisses, eine perfide sozusagen. Das ist das gezielt und bewusst herbeigeführte Missverständnis. Man kann ja tatsächlich missverstehen wollen und jedes Wort in der Vielfalt seiner Anwendungsmöglichkeiten und geschichtlichen Anwendungen als Waffe umfunktionieren. Spricht jemand von „Führung“ oder gar einem „Führer“, ist er, da kann er sagen, was er will, ein Nazi. Gut, möchte man hinzufügen, bei solchen verbalen Eseleien hat es der Redner in Deutschland auch nicht anders verdient. Aber wenn beispielsweise eine „israelkritische“ mit einer „antisemitischen“ Bemerkung in eins gesetzt wird, um daraus terminale Vorwürfe zu entwickeln und Gewissensdruck zu erzeugen, wird der Diskurs vergiftet. Und sollte die Kirche einmal vergessen haben, sich als erstes für alles Mögliche zu entschuldigen, ist das ein neuer verquaster Grund, sie als abgängig zu brandmarken – auch so eine maliziöse Masche, sich um ein ehrliches Verstehen herumzudrücken.

Missverständnisse solcherart sind rhetorische Kriegshandlungen. Eine hochwirksame und deswegen höchst unwillkommene Form von intelligenter Bosheit, die wir in den sozialen Netzwerken als neue Form gesellschaftlicher Selbstbeschäftigung zu gewärtigen haben.

Helmut Aßmann


Gottesproduktion

06. august 2016

„Wer braucht Gott?“ – so titelte kürzlich die ZEIT. Die Ausgabe kam sinnigerweise in just dieser Woche wegen des Fronleichnamsfestes einen Tag früher als sonst. Aber das nur nebenbei. Der Artikel selbst wandte sich vor allem an die großen Kirchen, sie sollten sich bitteschön nicht dauernd im Jammern über die sinkenden Mitgliedszahlen üben, sondern gefälligst anstrengen, um ihr metaphysisches Produkt markt- und mundgerechter zu platzieren. Wenn die Leute nicht mehr an Gott glauben, stimmt ja offenkundig etwas im kirchlichen Vertriebssystem nicht. Entweder sind die Predigten schlecht oder die Kirchen sind kalt oder die Sekretärinnen sind unfreundlich oder der Bischof ist zu blass. Irgendwas ist immer, was sich verbessern lässt. Damit hat jedes Unternehmen zu kämpfen, also auch des Himmels irdische Filialen. Ist ja logisch.
Leider ist Gott an keiner Stelle des Lebens wirklich unverzichtbar. Man kommt, genau genommen, ein ganzes langes Leben ohne ihn aus. Da können die Geistlichen predigen, was sie wollen: anders als bei den Wasserwerken oder der Stromversorgung, anders als im medizinischen Sektor oder beim Finanzamt gibt es keine gesellschaftliche Aufgabe, an der ein nicht vorhandener Gottesglaube unmittelbar und nachweislich zu einer politischen oder humanitären Katastrophe führen würde. Wir haben immerhin Religionsfreiheit in unserem Land. Das propagieren mit Nachdruck ja auch die Kirchen. Das ist doch als solches schon der Nachweis, dass Gott nur eine Option, keine Obligation ist. Das aber bedeutet für das Produktplacement der Kirche eine schwierige Aufgabe: etwas zu verkaufen, dass man nicht notwendigerweise braucht, und das Ganze auch noch in einer überzeugenden Geste so darzustellen, dass es sich so anfühlt, als müsste man es brauchen. Als eine Art Beitrag zur Ästhetik des geistigen Lebens oder so.

Kurzum: auf die Frage: „wer braucht Gott?“ kann man keine sinnvolle Antwort geben. Das ist so ähnlich, als ob jemand sich danach erkundigte, ob wir den Tod benötigen oder die Liebe oder den Geist. Es geht immer auch alles ohne, jedenfalls für eine ganze Weile. Und beider Frage „wer braucht mich?“ wird es dann ganz heikel.  Jedenfalls ist soviel deutlich: wer fragt, ob einer Gott braucht, der braucht ihn nicht, jedenfalls nicht im Augenblick. Und ob der Gott, den man brauchen kann, zu gebrauchen ist, ist noch einmal eine andere Frage.

Helmut Aßmann


Tempo

28. juli 2016

Im Nationalpark Jarmund auf Rügen ist mir das Erlebnis der Geschwindigkeit geradezu gebieterisch nahegerückt. Es gibt dort eines der letzten Buchen-Urwaldgebiete Europas. Naturbelassene Wälder, die kein Mensch je gepflegt und geformt hat. Wir fuhren mit dem Rad auf einem der zahlreichen Wanderwege mitten durch diese kathedralenhaften Waldgebiete, langsam, immer wieder nach links und rechts schauend, aber auch vorsichtig wegen der schlechten Wegqualität. Schlecht? Zum Glück war sie schlecht. Denn die Stille des Waldes und die lichte Qualität dieses Bewuchses zwangen einen geradezu, jetzt nicht weiter zu fahren, auch keine Geräusche zu machen, sondern am besten stehen zu bleiben und für einen langen Augenblick die unermessliche Lebensdichte, die sich zwischen den Stämmen und unter dem Laubdach ausbreitet, nur zu beobachten und, ja, irgendwie ein Teil von ihr zu werden.
Das hört sich alles halbesoterisch und romantisch-verblasen an. So wie eben Klein- oder Großstädter sich Natur vorstellen und in Erhabenheit versinken, wenn sie einmal zur Kenntnis nehmen können, dass es ein Leben außerhalb vom Bäcker um die Ecke, einigen Singvögeln in den Hecken und nachbarschaftlichem Smalltalk wirklich möglich ist. Alles zugestanden. Nichtsdestoweniger war die Strenge dieses Anrufs zur Langsamkeit und Stille überraschend, für mich jedenfalls. Damit verbunden die Ahnung, dass alles das, was wir nur zur Kenntnis oder wahrnehmen, aber nicht mit uns verbinden können, über den Status eines Verbrauchsobjektes nicht wirklich hinauskommt. Wir verdichten Erfahrungen zu Erzählungen, Erlebnisse zu Erinnerungen, ordnen sie in Fotoalben, und Bilderstrecken ein, verstauen sie in einer Art Bedarfsgepäck, das wir bei entsprechender Gemüts- und Geselligkeitslage auskramen und in einer Mischung von Unterhaltung und Betroffenheit den jeweils Interessierten präsentieren.

Teil von etwas zu werden und, umgekehrt, etwas Teil an sich selbst werden zu lassen, ohne daraus eine Geschichte zu machen, ist schwer. Langsam. Auch immer umlagert von der Skepsis, ob das eigentlich zu irgendetwas gut ist. Weil es nicht um einen Gedanken geht, nicht einmal ein Gefühl oder eine Stimmung, sondern um etwas, das wir selber sind, sinnlich, geistig, spirituell. 

Deswegen gibt es keinen Glauben „light“, keine Gottesbegegnung auf die Schnelle, keine Selbsterkenntnis nebenbei. Das ist immer langsam, schwerfällig und streng. Wie die Buchen im Jarmund – Nationalpark.

Helmut Aßmann


Bahnhofsgeruch

11. juli 2016

Seit gut einem halben Jahr gehöre ich ja nun in die Abteilung „Pendler“. Täglich mit der Nahverkehrsbahn Hildesheim-Hannover und zurück. Es gibt einen Moment am Morgen, auf den ich mich fast immer freue, ausgenommen nur die wenigen Tage, in denen schon der Auftakt gründlich missraten ist: der Moment, an dem ich vom Bahnsteig die Treppen hinuntersteige und mir der unverkennbare und vertraute Duft aus Kaffeedampf, Backwerk und etwas Odeur von Gebratenem entgegenkommt. So, dass einem zwar nicht das Wasser im Mund zusammenläuft, aber dennoch die Eingebung kommt, dass jetzt ein Kaffee oder ein kleines Kuchenstück genau das richtige wäre. Eine Art Mega-Frühstücksgefühl wabert als Atmosphäre durch die zergliederte Zugangslandschaft zu den Gleisen. Eine Riech-, Ess- und Schmeckgemeinschaft, die alle Unterschiede in Herkunft und Zukunft ohne knallige Geräusche oder schrille Beleuchtung überwindet. Am Tresen bei „Ditsche“ bist du unter deinesgleichen, wer immer du auch sonst bist, was immer du auch sonst willst oder kannst. Du bist einer der Tausenden von Morgenmigranten, die eine Komm- und Geh-Community bilden, punktweise versammelt um die Auslagen, Schanktresen und Stehplätze zwischen de Gleisen 1 bis 14. 
Man lernt einander nicht kennen bei dieser bunten Rush-hour-Gemeinde, schaut kaum je in die Gesichter, die einem entgegenkommen, ist schon halb besetzt von den Herausforderungen des Tages, die einen bereits von ferne erwarten. Und dennoch bildet sich eine wohlig unbestimmte und unaufdringlicheVertrautheit aus, die einem Ordnung gibt: der „Asphalt“-Verkäufer, der stets am Eingang der Rolltreppe zur Straßenbahn steht, die rothaarige junge Frau mit der markanten Zahnlücke, die meinen Weg von Gleis 3 zum Hauptausgang regelmäßig kreuzt, oder auch der stets gut aufgelegte Brezelverkäufer, den ich von seiner Landsmannschaft als Pakistani vermuten würde. Auch die uniformierten Anzugträger der Sorte “ich-bin-wichtig-und-muss-immer-telefonieren“ gehören dazu. Sie säumen den Auftakt zu einem großen oder kleinen, gelungenen oder missglückten, normalen oder exzeptionellen Tag und atmen mit mir diese vielgeschmackliche Bahnhofsluft.

Es gibt Tage, da bin ich einfach dankbar, dazuzugehören.
 

Helmut Aßmann


Gebote und Infarkte

04. juli 2016

Die Zehn Gebote vom Sinai sind im wesentlichen Verbote. Ein paar sind als erkennbar positive Imperative zu erkennen: Heiligung des Feiertages, Achtung der Eltern, Anerkennung des einen Gottes. Aber das war es auch. Dann beginnt das, was man beim besten Willen nicht umdeuten kann zu positiven Lebensregeln. Darauf wird zwar immer wieder gern unter Hinweis auf die evangelische Lesart der Heiligen Schrift hingewiesen. Aber, nein, siebzig Prozent der Gebote Gottes sind Verbote.

Um es mit dem nichtssagendsten aller Kommentierungen zu unterstreichen: das ist gut so. Denn es ist allemal klüger, einfacher und zielführender, einem Menschen etwas zu verbieten, als ihn lediglich dazu anzuhalten, sich selbst seinen Raum zu suchen, zu füllen und etwas aus sich zu machen. Ein Verbot setzt eine äußere Struktur, an der man sich abarbeiten, gegen die man opponieren oder der man Gehorsam leisten kann. Ein Selbstverwirklichungsappell hingegen öffnet nichts eine grenzenlose Fülle an Möglichkeiten ohne jede Kontur, die dann auch noch mit Bordmitteln begründet, ausgemessen und repräsentiert werden soll. Die meisten Menschen, mich eingeschlossen, überfordert das.

Der Einwand, das sei „schwarze Pädagogik“, ist rasch bei der Hand. Verbote erzeugen Neurosen, Angst und Drückebergertum. Klar, das kann passieren, wenn man die Sache überzieht. Wie bei allen menschlichen Maßnahmen. Aber so entstehen Positionen und Orientierungen, die für alle Entscheidungen so unerhört wichtig sind.

Die Rücknahme der Gebote und die Aussetzung des Menschen im Universum der Möglichkeiten hingegen erzeugt etwas viel Schlimmeres als Neurose und Angst: einen Infarkt. Angefangen von der Wahl des Brotes über die Bestimmung des Berufes bis hin zur Entscheidung für das Geschlecht, die Religion oder die Ernährungsweise: solchermaßen als unbeschriebenes Blatt sich selbst zu beschreiben und als „Mensch ohne Eigenschaften“ sich selbst zu erfinden, kann nur schiefgehen.

Genau das passiert allenthalben um uns herum: überforderte Individuen, wohin das Auge reicht. Herzinfarkte, Burnout-Diagnosen und Depressionsformate in vielerlei Gestalt dokumentieren eindrücklich, dass es leichter ist, seine Grenzen zu kennen als sie zu setzen. Dass ist lebensdienlicher ist, Vorgaben zu bekommen als Vorhaben aus der hohlen Hand zu lancieren. Dass es menschlicher ist, eine überschaubare Anzahl von Wegen abzuschreiten als eine unendliche Vielzahl von Welten zu erschaffen.

Man kann den neutestamentlichen Mahnworten nur zustimmen: seine, also Gottes, Gebote sind nicht schwer. Selbstverwirklichung hingegen schon.

 

Helmut Aßmann


Kompetenzirrtum

28. juni 2016

Nichts braucht ein Mensch auf seiner Lebensreise so sehr wie Kompetenzen. Das sind keine Nahrungsmittel, sondern Werkzeuge im strengen Sinn. Hilfsmittel also, die einem das ermöglichen, was man mit bloßen Händen, reinen Gedanken und sehnsuchtsvollen Hoffnungen nicht erreichen könnte. In der handwerklichen Tradition ist das eigentlich ganz vertraut: zum Erwerb der innungseigenen Fertigkeiten gibt es eine Lehre, an deren Ende der Gesellenbrief steht. Und der bescheinigt einem in der Freisprechung die Kompetenz, die einschlägigen handwerklichen Herausforderungen zielstrebig und unfallfrei bewältigen zu können. 

Aber die „Kompetenz“ ist inzwischen in das soziale Universum ausgewildert worden. Bei Ausschreibungen für Lehrer, Managerinnen, Sozialarbeiter oder Verwaltungsangestellte werden in wachsender Anzahl Kompetenzen erwartet, die alle sinnliche Qualität verloren haben. Konfliktkompetenz zum Beispiel. Das meint, das nur zur Klarstellung, nicht das Vermögen, möglichst rasch einen Streit vom Zaun brechen zu können, sondern das Geschick, einen solchen Streit entweder gut durchzustehen oder zielorientiert zum Ende zu bringen. Oder, immer unvermeidlich, Kommunikationskompetenz. Dieses Wortmonstrum beschreibt eine ebenso unmittelbar einleuchtende wie in der Praxis unbewertbare Qualität, das einer sich irgendwie verständlich machen und andere rasch verstehen können soll. Man kann so fortfahren: Entscheidungskompetenz, Empathiekompetenz, Steuerungskompetenz. Fast jedes zusammengesetzte Was-Wort der deutschen Sprache lässt sich mit dem Affix „-kompetenz“ in den sozialwissenschaftlichen Adelsstand heben.

Dazu gibt es dann die passenden Institute und Fortbildungseinrichtungen, in denen einem diese Kompetenzen schockweise und ergebnisgarantiert verabreicht werden. Am Ende mit einem Zertifikat, das die von nun gewährleistete Leistungssteigerung halbamtlich verbrieft. Je dicker die Zertifikatsmappe in der Bewerbung, um so kompetenter die dahintersteckende Person. Im Idealfall ist die hinter den Kompetenzen eingeschlossene Person als solche auch nicht mehr interessant, da ja die Leistungsnachweise in den Zertifikaten für alles gut stehen, was in der Stellenanforderung zu lesen war. Die Funktion, die es auszufüllen gilt, braucht in erster Linie Kompetenzen, keine Gesichter.

Das ist eben der Irrtum.

 

Helmut Aßmann


IS-Sympathisant

20. juni 2016

Ein IS-Sympathisant hat das Blutbad in Orlando angerichtet. Ein anderer IS-Sympathisant hat zwei französische Polizisten ermordet. Batterien von IS-Sympathisanten hocken in Europa und anderswo und warten auf irgendeine Eingebung, die Ihnen den Auftrag gibt, Menschen vom Leben zum Tode zu bringen, sich selbst dabei in eine Märtyrerpose zu begeben und eine immer stumpfere Gesellschaft zu einer Angst- und Betroffenheitsreaktion zu treiben. Ob die Jungs etwas mit dem IS zu tun haben, ob sie wenigstens von den handwerklich gut gemachten Propagandakampagnen des IS berührt sind oder ob sie einfach nur psychisch dysfunktional sind – wer weiß das?

Beunruhigend an dieser Sympathisantenszene finde ich zweierlei. Zum einen die Begeisterung, mit der diese Formulierung medienseitig aufgenommen wird. Diese raunende und unheilsschwangere Verdachtslust leistet einer Großmachtsphantasie Vorschub, die von der Realität der IS-Handlungen nicht von ferne eingeholt wird. Schaut man sich die realen Machtverhältnisse im Nahen Osten an, so lebt das Terrornetzwerk maßgeblich davon, dass zwischen den verfeindeten Realmächten des Nahen Ostens hinreichend Raum und Wirrnis geschaffen wird, um den IS wachsen und werden zu lassen. Man sollte die IS-Leute nicht an jeder Bushaltestelle wittern. Es gibt schon genug durchgeknallte Typen. Mit denen allein ist es schon schwer genug.

Die andere Beunruhigung ist die offenkundige Verführbarkeit erstaunlich vieler Menschen, Männer wie Frauen, für solche hirnrissigen Mordphantasien, wie sie in den IS-Medien verbreitet werden. Allen globalen, nationalen und smarten Bildungsbemühungen zum Trotz. Die Nazis haben ja vorgemacht, wie man ein ganzes Volk politisch betrunken macht. Modern waren die damals, modern ist der IS heute auch. Aber das steinzeitliche Weltbild, das die beiden politischen Vorstellungswelten verbindet, ist offenkundig religionsunabhängig, weil es menschliche Instinkte aufruft, die tiefer reichen als alle Erfahrung. Angst vor Uneinheitlichkeit, grausamer Kampf gegen Abtrünnige. Am Ende die Apokalypse.

Das ist die Gefährdung des Menschen: die Angst, nicht mehr zu wissen, wer er ist und was er soll. Eigentlich gute Zeiten für den guten Glauben.

Helmut Aßmann


Gesenkter Blick

09. juni 2016

Dass der Handygebrauch allerlei geistige Verödungs- und Ablenkungseffekte nach sich zieht, ist allenthalben bekannt und beklagt. Die Leute können sich nicht mehr selbst orientieren, sondern laufen nur noch mit Handynavigation zur Pizzeria um die Ecke. Kopfrechnen ist ein inzwischen weithin ausgestorbenes Kulturgut. Der internetgestützte Bildungseifer versagt umgehend, wenn sich der Akku verabschiedet oder der Netzempfang zusammenbricht.

Ein physisch bislang weithin unbeachteter Effekt ist das Senken des Blickes, das sich unweigerlich einstellt, wenn man sich mit der kleinen Flimmerkiste beschäftigt. Ein unvoreingenommener und, vor allem, smartphoneunabhängiger Blick in das öffentliche Alltagstreiben zeigt unmissverständlich, dass auch der gerade Blick in die Augen oder in die Umgebung ein von Aussterben bedrohtes sinnliches Gut ist. Was die Gleitsichtgläser der Bestager an Kopfhebungen verursachen, das drückt das Smartphone mit sanfter Gewalt wieder herunter. So schauen ganze Straßenbahnladungen von Menschen vor sich her und hin und nehmen tatsächlich vor allem das wahr, was ihnen die Oberfläche ihres elektronischen Tausendsassas auf die Netzhaut treibt.

Die damit freiwillig in Kauf genommene Reduzierung des natürlichen Horizontes ist es, die einen nachdenklich macht. Als wolle man den Rest der Welt nur noch in kleinen Ausschnitten zur Kenntnis nehmen, weil die nichtvisuellen Sinnesorgane sowieso nicht wirklich wichtig sind und die Augen nur ein kleines Kernfeld zu besorgen haben. Und der Blick in die Augen des anderen ist nach wie vor die eigentliche Urbegegnung menschlichen Daseins. Kein noch so hochauflösendes Pixelbild ersetzt diesen Vorgang. Das Alte Testament hatte nicht ohne Grund das „Angesicht Gottes“ als lebensspendendes Gegenüber menschlichen Lebens bestimmt und das menschliche Angesicht dem gleichgebildet. Das vollendetste Handy wird daran nichts ändern, es sei denn, wir schauen zuviel darauf.

Helmut Aßmann


Mut, Dopen, Pimpen, Tunen

30. Mai 2016

Nun ist es also höchst wahrscheinlich, dass Russland nicht nur gelegentlich durch die aufsichtigen Finger sieht, wenn es an die Dopingkontrollen bei den großen Sportereignissen geht. Sondern dass in großem Stil, auf politische Veranlassung hin und mit wissenschaftlichem Ehrgeiz die Sportwelt vorsätzlich hintergangen wird. Doping als sportpolitische Staatsräson.
Vergrößern wie die Brennweite unserer Optik. Doping ist im Turniersport strafbar, im Fitnesscenter um die Ecke nicht. Da ist es nur gesundheitsschädlich. Aber die Aussicht, mehr zu können, als man kann, und mehr zu schaffen, als möglich ist, beseelt eine ganze Zivilisation. Eine ganze Industrie hält diese Aussicht hoch und verkauft sie als einen halbwegs mach- und beschreitbaren Weg zum persönlichen Glück. 

Geht es um Sachgegenstände, nennt man diesen Vorgang „tunen“, im Kern auch eine Leistungsverstärkung, die durch Zuhilfenahme von entsprechenden Teilen, Geräten oder Verfahren erzielt werden kann. Wenn es nicht um Leistung geht, sondern um Schönheit, Ansehnlichkeit, Angesagtheit oder andere eher im weichen Kompetenzbereich des Lebens angesiedelte Parameter, findet sich das neudeutsche Wort „pimpen“. Nicht zu verwechseln mit dem unanständigen Nachbarn „pimpern“, auch wenn die Wurzel beider Worte in eine anrüchige Richtung weisen. „Pimp my irgendwas“ heißt so viel: motz es auf, mach es krass, lass es etwas herzeigen.

Dopen, pimpen, tunen – Dasein und Sosein reichen nicht. Auch Üben und Trainieren reichen nicht. Es müssen andere als nur Bordmittel her, um das erträumte oder vermeintlich notwendige Ergebnis der Lebensperformance zu erreichen. Die eingegangenen Risiken, sie seien technischer oder gesundheitlicher Natur, gehören zum Steigerungsgeschäft, sind sozusagen das Kleingedruckte im ungeschriebenen Optimierungsvertrag.
Kein moralischer Einspruch an dieser Stelle. Die Übergange zwischen Training und Doping sind allemal fließend. Aber sich ein einigermaßen verlässliches Empfinden dafür zu bewahren, dass die geschaffenen Dinge auch schon als solche eine gute Qualität haben können, gehört zu den geistlichen Grundübungen modernen Glaubens.

Apropos: es gibt auch so etwas wie spirituelles Doping. Wenn man Erfahrungen erzeugen möchte, die einem nicht geschenkt werden.

Helmut Aßmann


Pfingsten

17. Mai 2016

Das vorletzte Christusfest des Jahres ist Pfingsten. Danach kommt nur noch Trinitatis, und dann wird die lange Sommerpause der Zählsonntage eröffnet. Mit allerlei kuriosen Sonntagswidmungen, vom Männersonntag bis zum Volkstrauertag. Das klingt ein wenig herablassend, aber Vorsicht: Pfingsten ist im Grunde auch nur ein Zählbegriff. Durch wenigstens zwei Lautverschiebungen ist aus dem griechischen „Pentecoste“ das deutsche „Pfingsten“ geworden, also schlicht und ergreifend der 50. Tag. Das deutsche Adjektiv „pfingstlich“ ist deswegen so gut wie nicht übersetzbar, denn was soll man mit einem „fünfziglich“ schon anfangen? Diese eher einfallslose Bezeichnung für ein christliches Hochfest in der Würde zweier gesetzlicher Festtage stammt schon aus dem jüdischen Zusammenhang: Schawuot, das „Wochenfest“, heißt eigentlich auch nur „Sieben“, nämlich sieben Wochen nach dem Pessach – Fest. Inhaltlich ist es ein Gedenken an die zweite Überreichung der Tora an das Volk Israels (die erste Überreichung hatte durch die Sache mit dem Goldenen Stierbild und die Zornesaufwallungen des Mose ja bekanntlich eine unerfreuliche Wendung genommen). Begangen wurde bzw. wird es wesentlich als ein Erntefest. 

Interessant, dass sowohl das jüdische Wochenfest als auch das christliche Pfingsten von Empfangsereignissen handeln, aber keinerlei Spur davon in der Bezeichnung mit sich führen. Dabei sind die Tora ebenso wie der Heilige Geist die zentralen Inspirationsgrößen für die jüdische und die christliche Tradition, also kein theologischer Beifang. Aber eine markige Nomenklatur haben sie nicht abbekommen. Stattdessen: simple Zahlen. Fünfzig bzw. sieben. Keine gestalterische Mühe im Begriff zu erkennen.

Es wird damit zu tun haben, dass es sich nur um abgeleitete Feste handelt. Hüben wie drüben. Tatsächlich ist es so, denn die eigentlichen Ursprungsereignisse des jüdischen wie des christlichen Glaubens liegen eben an Ostern bzw. Pessach: der Exodus aus Ägypten und die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Damit beginnt alles. Und das bedeutet im Grunde auch alles. Pfingsten und Schawuot kommen erst danach, sind sozusagen liturgisch-festliche Kollateraleffekte. Sie leben denn auch nicht aus sich, sondern von ihren Ursprüngen her. Das macht sie nicht zweitrangig, aber gibt ihnen einen Sinn, den man nicht von irgendwoher nehmen muß.

Helmut Aßmann


Satire

12. april 2016

Für viele Beteiligte ist Jan Böhmermanns Schmähkritik – Nummer wahrscheinlich ein willkommener Ausritt in ein Land ohne unmittelbare Kriegsgefahr, ohne Parteiengezänk. Das hat auf verdrehte Weise irgendwie etwas mit Geist zu tun, mit interessanten und verzwickten Fragestellungen, die von den üblichen lautstarken Gepolter von Machtgesten und Kampfansagen deutlich abstechen. Gewiss, der Text dieses Gedichts ist geschmacklos, widerlich, ehrabschneidend und indiskutabel – und in dieser Qualität hat ihn der türkische Präsident ja auch vollkommen zu Recht und punktgenau verstanden. Aber immerhin: der Hinweis, dass das, was jetzt kommt, in Deutschland verboten ist, hält alle eilfertige Bewertung gleich am Anfang auf. Das ist wie der berühmte Satz in einem ansonsten leeren Buch auf Seite 27: der Satz auf Seite 27 ist falsch. Was aber damit anfangen? Solche hermeneutischen Tanzfiguren haben trotz ihrer Finessen auch etwas Lächerliches angesichts von Millionen Flüchtlingen, um die es im Hintergrund immer wieder geht.

Mich beeindruckt die Kaltschnäuzigkeit, mit der ein Satiriker (oder wie immer man die angemessene Berufsbezeichnung wählt) mitten in einer hochexplosiven politischen Situation Feuer an eine ungesicherte Lunte legt. Ist das ein geistesgegenwärtiges Verdichten einer ethisch fragwürdigen Situation, in der sich die EU von einem außerordentlich zwielichtigen Partner an der Nase herumführen läßt? Handelt es sich um ein politpsychologisches Experiment, um die Unterströmungen eines aufgeregten Gemeinwesens ansichtig zu machen? Ist es womöglich nur eine eitle Maßnahme, um auf dem Altar der eigenen Gescheitheit ein immerhin kontinentalpolitisches Großprojekt zu opfern?

Gesetzt den Fall, die Türkei verbindet ihren EU – Deal mit der Forderung nach strafrechtlichen Konsequenzen: wer ist dann der Verantwortliche für die ins Haus stehende Verwerfung? Überhaupt: spielt Verantwortung eine Rolle in diesem merkwürdigen Keifspektakel? Die alten Schriften raten nicht umsonst: „Laß deiner Worte wenig sein“. Nicht weil es so schwer wäre, welche zu finden, sondern weil die Wirkung der Worte auf den zurückfällt, der sie in die Welt gesetzt hat.

Helmut Aßmann


Karwoche

23. märz 2016

Wann immer ein neuer Bombenanschlag vermeldet wird, gerate ich zusehends in eine Verlegenheit. Auf der einen Seite die Trauer, das Erschrecken, das Mitleid mit den Opfern. Immer wieder. Aber irgendwie auch immer routinierter. Auf der anderen Seite ein sich verdichtender Argwohn gegenüber Menschen, die aus Ländern kommen oder zu kommen scheinen, in denen der islamistische Terror seinen Ausgang genommen hat. Obwohl ich das nicht will. Und dann gibt es noch ein Moment, das mich überrascht: Langeweile. Die Bomberei in der Welt hat etwas Langweiliges, Schablonenhaftes, Reflexartiges bekommen, ebenso wie die Beteuerungen der politischen Klasse, dass man sich dadurch natürlich nicht beeindrucken lasse. Immer dieselben Pressekonferenzen, immer dieselben Worte, nur die Köpfe sind austauschbar. Es ist so simpel und einfallslos, immer nur zu zerstören. Zerstörungsphantasien zu zügeln, ist üblicherweise eigentlich ein Ergebnis gelungener Sozialisation. Und es ist hinwiederum auch ganz falsch zu behaupten, dass man davon unbeeindruckt wäre. Das Gegenteil ist ja der Fall. Bei einem vollen Bahnhof schaue ich durchaus genauer hin seit einigen Jahren. Mit wachsender Intensität. Die destruktive Wirkung der schlimmen Verbrechen ist doch allüberall zu beobachten, und in der Haut der Polizisten und Ordnungskräfte möchte gewiss kein Mensch gerne stecken. Ja, die schöne neue globalisierte Welt zeigt ihr hässliches Schattengesicht; und es wird deutlich, dass wir damit werden leben müssen.

Was mich trotz allen widerlichen Terrors dennoch beglückt: das Kaputtmachen ist am Ende ermüdend, einfallslos und abstoßend – bei aller spontanen Euphorie, die das bringen mag. Am Ende gibt es immer nur Trümmer und Tote. Aber etwas zu bauen und aus dem Nichts ins Sein zu bringen, ist die bessere und menschlichere, weil göttliche Form des Lebens. Deswegen wird die Karwoche auch mit Ostern beendet. Das ist ein ewiger Vorgang.

Helmut Aßmann


Callcenter

14. märz 2016

Ein Callcenter ist, wenn einem wo nicht weitergeholfen wird, obwohl genau das nach der Geschäftsankündigung eigentlich passieren sollte. Anruf, Warteschleife, der Hinweis, dass zu Auswertungszwecken das Gespräch möglicherweise aufgezeichnet werden könnte, dämliche Musik und dann: Warten. Wenn es schlimm kommt, immer mal wieder unterbrochen durch den Hinweis, dass man jetzt gleich dran wäre, einen Augenblick noch… Die armen Würstchen am anderen Ende, also im Callcenter, wo immer sich das physisch befindet, müssen den Stau gesammelter Verzweiflung, Frustration und Zorneswallungen in Empfang nehmen, falls es unerwartet doch zu einem Realkontakt kommen sollte. Die Armen. Ich frage in der Regel zuerst, wenn sich tatsächlich jemand meldet: „Sind Sie ein Mensch oder eine Maschine?“ Die Antworten fallen verständlicherweise ziemlich unterschiedlich aus. Erst spät habe ich begriffen, dass diese Einrichtungen ja nicht umsonst „Callcenter“ heißen und nicht „Auskunftei“ oder „Helpdesk“. Sie sind sprichwörtlich Zentren, in denen Anrufe auflaufen. Die Erwartung, dass im Ergebnis auch eine Antwort erfolgt, ist zwar naheliegend, aber nicht zwingend. Bei Callcentern soll man anrufen. Was dann passiert, ist Sache der Callcenterbetreiber, nicht der Nutzer. Seitdem ich das verstanden habe, wird mir zwar noch immer nicht geholfen, aber ich kann mit den Mitarbeitern barmherziger umgehen. Sie haben Ventilfunktion für alles das, was man mit den Vertriebsstellen vor Ort nicht klären kann oder was – vermutlich nach uneingestandenem Interesse der Unternehmen – gar nicht klären soll. Eine Neuanschaffung wäre ohnehin viel praktischer und besser für die Konjunktur. Callcenter sind Kommunikationsverweigerungsmaschinen in der Gestalt von 24/7 – formatierten Kommunikationsangeboten. Das nenne ich eine gelungene Täuschung.

Helmut Aßmann


Löcher

08. märz 2016

Inzwischen gehören sie zum Alltagsbild: Hosen mit Löchern und Rissen, die nicht wegen Armut oder Kleidungsmangel getragen werden, sondern als ordentliche Kleidungsstücke gelten. Die Löcher vorzugsweise auf den Knien, aber gern auch an anderen, gelegentlich sogar indezenten Stellen. Gerne auch groß. Man muss das auch gar nicht mehr selber hineinschneiden wie unsereiner in Jugendzeiten; man kann die Dinger schon so misshandelt kaufen. Und neben den Löchern in den Hosen noch die in den Nasen, Ohren, Lippen und Augenbrauen, die sich einen festen Platz im Accessoirbestand aktueller Selbstinszenierung gesichert haben. Ich gebe zu, dass mir diese so massiv vorgetragene Löcherigkeit an Leib und Gewand immer wieder einmal Beschwer macht, gelegentlich schon beim Anschauen. Manches muß ja auch weh tun. Aber das ist gewiss das übliche Generationenfremdeln. Meine Mutter regte sich auch über meine ausgefransten Hosenbeine auf. 

Ungleich wohlwollender betrachte ich den so löcherig gesetzten Widerspruch zu den Hochglanzoberflächen und gewienerten Körperteilen, die uns in der alltagsgängigen Selbstoptimierungsindustrie vorgezaubert wird. All diese perfekten Körper, diese ans Limit gebrachten Ausstattungen von Autos, Computern, Kaffeemaschinen und 5-Klingen-Rasierern haben ja etwas Surreales bis Abstoßendes an sich. Da möchte man gelegentlich gern einmal den Lack zerkratzen, Salzwasser auf die Tastatur gießen oder die Wimperntusche verschmieren, nur um anzuzeigen, dass Perfektion das Gegenteil von Realität ist. Da kommen dann diese ramponierten Modeformate gerade recht, um einem verzweifelten Vollendungsdrang in aller Schnoddrigkeit und Ruhe vorzuführen, dass es auch mit Löchern, Rissen, Fetzen und Fransen ein richtig menschliches Leben gibt. Über Geschmack lässt sich streiten, über diesen Sachverhalt zum Glück nicht.

Helmut Aßmann


Genderei

23. februar 2016

Noch mal was zu den Geschlechtern. Das ist ja ein Dauerthema seit etlichen Jahren, von dem man nie weiß, ab wann es hinreichend bearbeitet worden ist. Früher dachte ich, das wäre der Fall, wenn die Gleichberechtigung in Gehalt, Recht und beruflicher Anerkennung erreicht ist. Inzwischen geht es um mehr: um die Abschaffung der Geschlechter überhaupt. Auf dem Hintergrund der durchaus problematischen These, dass das Geschlecht nur eine soziale Konstruktion, eine Zuschreibung der Umwelt sei. Aber selbst das wird nicht das Ende sein. Denn nach der Abschaffung der Geschlechter steht zwangsläufig die Abgrenzung zum Tier auf der Agenda: ist schon unbestimmt, was für eine Sorte Mensch wir sind, dann allein wegen des Genmaterials noch viel mehr, ob wir überhaupt eine eigene Gattung Lebewesen darstellen. In der Folge wird dann die Frage sein, ob es gerechtfertigt ist, einen Unterschied zwischen Lebewesen und nichtlebendigen Daseinsformaten zu machen. Bei Viren etwa ist man sich da ja bekanntlich schon heute nicht sicher. 

Die Einziehung von Unterschieden ist aber immer eine problematische Sache. Zum einen wird durch eine Begriffsumwandlung nichts in der Sache verändert. Zum anderen werden die Spannungen, die an den Unterschieden entstehen, verdeckt statt gelöst. Und schließlich sind unterschiedslose Systeme langweilig, was ihren Erlebnisreichtum angeht: das trifft auch Hochdruckgebiete genauso zu wie auf Planktonkolonien, Fichtenschonungen oder Nordkorea. In Mitteleuropa gibt es etwa sechzig verschiedene Birkenarten. Die auseinanderzuhalten und sich mit dem Reichtum ihrer Eigenarten zu beschäftigen, ist eine befriedigende Aufgabe. Warum sollten wir uns damit begnügen, dass es am Ende nur den Containerbegriff Baum gibt, und zwar für alles, was einem bis über das Knie reicht? Aber ich bin eben ein Mann, sofern es das noch gibt…

Helmut Aßmann


Prediger

15. februar 2016

Die „heute – show“ gehört zu den Freitagabendterminen, die ich auf jeden Fall wahrzunehmen versuche. Vor allem wegen der Aussicht auf ein paar gelungene Lacher zur Ablenkung von den notorisch schlechten Nachrichtenkolonnen der restlichen Woche. Gelegentlich sind es Oberschenkelklatscher von psychotherapeutischer Wirkung. Was mich allerdings zusehends verwundert, sind die Predigteinlagen in den Comedy-Einlagen. Nicht das ich etwas gegen Predigten hätte, Gott bewahre! Aber ich erwarte sie dann doch an anderen Orten, von anderen Leuten und in anderen Formaten. Ein bisschen kenne ich mich da ja aus. Da wird also dem auf Nonsense oder gehobene Veralberung eingestellten Fernsehzuschauer immer mal wieder ein bierernster Ausflug in die moralische Landschaft der Gegenwart zugemutet; ohne Ankündigung! Wie man das etwa mit den Flüchtlingen zu sehen hätte. Wo da die Bösen, die Guten und die Doofen zu finden seien. Oder worauf es bei der Sicherheitspolitik so wirklich ankommt. Oder wie die Geldausschüttung im sozialpolitischen Bereich stattzufinden habe. Solche Sachen. Gern auch mit inquisitorischen Einlagen durch Reporterszenen. Echt unkomisch. Oliver Welkes Hirtenbrief zur laufenden Woche. Sozialpädagogik als Aufklärungscomic verkleidet. Anleitung zur Meinungsbildung für die, die den Kopf bislang nur als regendichten Halsabschluss genutzt haben. Find ich gut, solange erkennbar bleibt, dass das auch nur ein Teil der Comedy ist. Sonst wird’s churchy, selbst wenn kein Weihrauch oder Altar in der Nähe ist. Andererseits zeigt es an: ohne Pfaffen kommt offenbar selbst die Mediengesellschaft nicht aus. Einer fühlt sich immer berufen zu sagen, wo es langgeht. Eine gescheite Predigt ist schließlich gut fürs Volk. Aber dann bitte nicht als Comedy verstecken und so tun, als wär man‘s nicht gewesen.

Helmut Aßmann


Best practice

09. februar 2016

Gelegentlich bin ich über unaufgeforderte Ratschläge auf den „yellow press“ – Seiten des Internet ganz dankbar. Wie man eine ausgeflockte Sauce Hollandaise retten kann oder ausgenudelte Schraubenköpfe wieder gangbar macht, sowas. Das finde ich hilfreich. Man bekommt einen Rat, und gut ist. Zusehends Kopfzerbrechen dagegen machen mir die sogenannten „best practice“ – Verfahren, zu denen man beruflicherseits eingeladen wird, mit und ohne Internet. Zu irgendeinem Thema finden sich da Vorschlagskolonnen, wie das, was einer macht, noch besser werden kann. Natürlich aus der grundpositiven Überzeugung, dass auf diesem Wege ein Maximum an Knowhow aufgetürmt und allen Interessierten uneigennützig zur Verfügung gestellt wird. Ich kann mir nicht helfen: das Studium von best practice – Listen deprimiert mich. Aus gleich mehreren Gründen. Einerseits bedeutet die schiere Zahl derer, die mit meinem Problem besser klar zu kommen scheinen als ich, einen schweren Verlust an Selbstwertgefühl. Vielleicht ein Männerding, ich weiß es nicht. Zudem sind alle präsentierten Vorschläge am Ende doch nicht ganz genau passend. Irgendein blödes Detail sperrt sich, und viel Zeit geht dabei drauf, es herauszufinden. Drittens sind die Protagonisten dieser Lösungsvorschläge auch meistens andere Typen als ich. Die arbeiten anders; aber ich wollte ja nicht mich ändern, sondern nur ein Problem lösen. Viertens gibt es derweil so viele best practice Listen, dass ich den Eindruck habe, ich sollte am besten gar nichts mehr allein machen. Irgendwer ist ja immer besser. Als ich unlängst in einer einschlägig geplagten Runde vorsichtig diesem meinem Eindruck Ausdruck gab, setzte es stürmischen Beifall, nicht nur von Männern, Gott sei Dank. Ich plädiere hiermit also für die Inanspruchnahme eines guten Rates und klicke alle best practice Seiten von nun an kurzerhand weg. 

Helmut Aßmann


Körper

14. dezember 2015

In einem seiner hinreißenden „Körper“ – Gedichte stellt Robert Gernhardt die ebenso blödsinnige wie brisante Frage: „Wie weiß mein Körper, was ich tu?“ Weiß er es? Weiß ich es? Nur auf den ersten oberflächlichen Blick ist das eine lyrische Einlassung für poetische Gemüter mit meditativer Veranlagung oder Reimbedarf. Unser Körper schaut uns zu. Er spricht mit uns. Er teilt uns mit, wenn ihm etwas nicht gefällt. Durch Lust. Durch Schmerz. Durch Ekel. Ein paar Jahrhunderte lang haben wir gedacht, man könnte sich über diese körperlichen Meinungen und Ansagen hinwegsetzen. Ja, man müsste es geradezu. Schließlich sind wir die Träger des Bewusstseins, des Willens und der Ideen und nicht unser Körper. Da geht es um – identitätsphilosophisch  gesehen – nicht weniger als grundsätzliche, hoheitliche Angelegenheiten. Wir haben zudem herausgefunden, dass man ihn mit ein paar Substanzen und jeder Menge Technik sehr präzise hintergehen, außer Kraft setzen oder ins Belieben stellen kann, um uns von seinen Einreden und Gefühlsregungen zu befreien. Nach und nach finden wir aber auch heraus, dass er das übel nimmt. Genau genommen, nimmt er es nicht eigentlich übel, sondern lässt sich von unserer Willens-, Meinungs- und Bewusstseinsbildung einfach nicht beeindrucken. Er macht vielmehr mit unserem Leben unverdrossen seine eigenen Rechnungen auf. Etwa nach der alten Volksweisheit: wer nicht hören will, muss fühlen. So wird dann gelegentlich schmerzhaft deutlich, dass wir nicht nur einen Körper haben, sondern auch ein Körper sind. Mehr noch, dass unser Bewusstsein, Willen und Gedanke selbst auch von körperlicher Verfassung sind. Wer ist aber der Körper? Nun, wir selbst natürlich. Aber offenkundig nicht ausschließlich. Irgendwie sind wir nicht allein mit uns, wenn wir allein sind. Ich finde das tröstlich.

Helmut Aßmann


Drohnen

30. november 2015

Sonntagnachmittag, Michaeliskirche: ein hornissenähnliches Gebrumm füllt die Luft. Ein erster Blick an den Himmel macht die Ursache offenkundig: zwei grüne Punkte, vier kleine Propeller, ein quadratisches Flugobjekt und ein Flugoffizier am Boden, der mit halboffenem Mund und Blick nach oben vor einigen Zuschauern seine Steuerkünste zeigt. Immer an der Kirche entlang, hoch und runter, hin und her. Eine Drohne und ihre Leitstelle. Männerfunkspielzeuge eben. Beim Elektrogroßmarkt schon für vierzig Euro zu haben, mit Kamerabeschickung entsprechend mehr. In diesem Augenblick wünschte ich mir eine Zwille und das Können, auf größere Entfernung gut treffen zu können. Damit man mich im Erfolgsfalle nicht erwischt. Zugegeben, eine unziemliche Anmutung. Aber ich stelle mir eben vor, dass solch ein Drahtquadrat irgendwo herumfliegt, Fotos macht, Leute stört, Grenzen missachtet, und das alles ohne Erlaubnis derer, die da umbrummt, überflogen und abgefilmt werden. Da ich keine Gardinen mag, ist das ein echter Vorbehalt.

Drohnen sind ja, dem Namen nach, relativ unglückliche männliche Hautflügler, die nicht nur nicht ordentlich arbeiten können, sondern nach der Begattung der Königin auch noch umgehdn ihres Lebens verlustig gehen. Oder aber, falls sie gar nicht zum Akt gekommen sind, von den Bienen erbarmungslos beseitigt werden. Dann krabbeln sie noch ein bisschen unbeholfen herum und verenden schließlich. Also, das mit der Zwille gehört sich natürlich nicht. Aber ich wünsche all diesen Spaßdrohnen, die den ohnehin überbevölkerten Luftraum mit ihrem Gelärm auch noch akustisch verunstalten, ehrlich gesagt, ein Schicksal, das ihren Namensgebern angemessene Reverenz erweist. Und ihre todbringenden großen Brüder, die sich ja großer militärischer Beliebtheit erfreuen, können meinethalben gleich mit auf dem Boden der ungedeihlichen Zivilisationserzeugnisse ihr Ende finden.

Helmut Aßmann


Voyeur

23. november 2015

Das Blaulicht sehe ich von weitem, den Autostau dahinter ahne ich eher. Zum Glück auf der Gegenfahrbahn. Aber auch auf der eigenen Spur muss ich die Geschwindigkeit drosseln. Der Zuschauer wegen, die beim Vorbeifahren wenigstens grob mitbekommen wollen, was sich auf der anderen Seite an Schlimmem ereignet hat. Ein kurzer Beobachtungsstau, dann geht die Fahrt weiter, mit einem bemerkenswerten Gefühls- und Erinnerungspotpourri, das zwar rasch abklingt, aber einen betrachtenden Blick wert ist.
Dankbarkeit ist darin, dass es nicht einen selbst erwischt hat, aber auch, trivialerweise, dass der Stau auf der anderen Seite war. Ein leichter Schauder, wie schlimm es einem ergehen kann, wenn auf der Autobahn mir nichts dir nichts ein tragischer Augenblick das Leben auseinanderreißt. Ein gewisses Maß kaum eingestandener Sensationslust, die sowohl die Dankbarkeit, aber auch den Schauder verstärkt, und die die Geschichten befeuert, die man nach der Ankunft über die Fahrterlebnisse aufmerksamkeitsheischend erzählt. Gelegentlich eine gewisse Nachdenklichkeit darüber, wie zufällig das Leben einem mitspielt, und wie wenig Anrecht wir darauf haben, mit Leib und Leben gesund davonzukommen. Auch Scham stellt sich ein: ich fahre vorbei, lasse andere die mitunter schreckliche Aufräum- und Rettungsarbeit machen und denke manchmal nicht einmal mitleidig über die betroffenen Personen nach. Irgendwer wird schon zuständig sein – ich bin es gerade nicht. Das stimmt objektiv, ist aber trotzdem nicht einfach recht.
Am Ende, ganz am Ende verunfallt jeder. Dann ist die Szenerie so ähnlich, ob mit oder ohne Blaulicht. Einige machen sich dann an uns zu schaffen und tragen Sorge, dass es uns den Umständen entsprechend gut geht. Die anderen warten, bis es alles erledigt ist und fahren dann wieder ihrer Wege, die Ferneren stoppen kurz und erzählen vielleicht noch eine kleine Geschichte.

Helmut Aßmann


Lawine

18. november 2015

Finanzminister Schäuble hat das Wort von der schneeigen Naturkatastrophe als Metapher benutzt. Als Metapher für den Strom von Flüchtlingen, der seit Monaten, inzwischen offenbar in Millionenzahl, die Grenze nach Deutschland passiert. Für die Verwendung dieses Wortes wird der Minister arg gescholten. Es sei eine Herabwürdigung der Menschen, um die es dabei in der Sache ginge. Schneebretter und  Menschenschicksale gehören nicht zusammengedacht, geschweige zusammengesagt.  Ich kann mir kaum vorstellen, dass es verächtlich gemeint war, aber man kann es so lesen.
Lassen wir den konkreten Anlass beiseite. Deutlich ist: Worte werden empfindlich in diesen besonderen Tagen. Und sie machen empfindlich. Ein Umstand, der in einer schnatternden und unaufhörlich vollgequasselten Welt aufmerken lässt. Dass Worte ein „Gewissen“ hätten, hat der Schriftsteller Elias Canetti einmal formuliert. Sie können schuldig werden oder unschuldig bleiben und tragen diese moralische Fracht dann immer mit sich herum. Wer sie verwendet, der muss darauf Rücksicht nehmen, wenn er so verstanden werden will, wie er zu sprechen beabsichtigt. Es ist nicht einerlei, welche Worte im Gespräch über Flüchtlinge, Migranten, Rechtsradikale oder ängstliche Menschen wir verwenden. Was wir sagen, wirkt nicht nur auf andere, sondern auch auf uns selbst. Es wirkt nicht nur, wenn die Hörer da sind, sondern auch dann, wenn wir sie abwesend meinen. Die Worte geben etwas von unserem Wesen an die Umwelt ab. Gut, wenn das kein Unwesen ist. Wenn aber Worte empfindlich sind und empfindlich machen, ist Vorsicht das Gebot der Stunde, um nicht ohne Not Schaden anzurichten. Das kann auch darin bestehen, andere vor unbedachten Äußerungen zu bewahren. Um der Worte, um der anderen und um unseretwillen. Wegen akuter Lawinengefahr.

Helmut Aßmann


Nahrungsmittel

10. november 2015

Ich bin kein Fachmann in dieser Sache. Nur Verbraucher. Aber ich finde es immer wieder bemerkenswert, dass beispielsweise die schlichte Zufuhr von Traubenzucker in Erschöpfungssituationen die Stimmung hebt, einen irgendwie beruhigt, ja, tatkräftiger macht, im umfänglichen Sinne des Wortes. Also keine Witzchen oder die Lektüre von Motivationstexten helfen weiter, sondern einfach der Stoff, Glukose. Und schon geht es einem besser, wenigstens ein wenig. Ein Schluck Kaffee befördert die Aufmerksamkeit. Die Aufnahme von Alkohol verursacht, sagen wir, einigermaßen komplexe geistige Reaktionen. Kurzum: Die Stoffe, die wir da zu uns nehmen, verändern unseren Seelenzustand, unsere Gemütslage, unsere geistige Verfassung. Was doch wohl bedeutet: so ein ganz normaler Mensch ist ein höchst merkwürdiges biochemisches Aggregat, das aus Materie Bewusstsein macht, aus Chemie so etwas wie Geist hervorbringt und die Nährstoffe in Seelenformate umprägt. Man trinkt Wasser und erzeugt Gedanken, isst Brot und schafft Lebensmut, verspeist einen Apfel und bekommt Einsichten. Kein Wunder also, dass alle Kulturen darauf gekommen sind, dass Ernährung etwas mit der mentalen Form des Lebewesens Mensch zu tun hat, und zwar in einem sehr grundsätzlichen Sinn. Es geht nicht nur um ein paar Nährstoffe, damit die Maschine läuft, die wir unseren Körper nennen. Diesen Irrtum sind wir gerade zum Glück dabei, zivilisatorisch abzustreifen. Man kann das merkwürdige Urteil der WHO auch einmal in dieser Hinsicht durchaus wertschätzen. Es ist vielmehr so: Wir essen und trinken mit unseren Nahrungsmitteln stets auch die Rohstoffe unserres Bewusstseins. Diese Rohstoffe können hochwertig sein, und es kann sich um Plunder handeln. Es ist eben nicht nur eine Frage des Geschmacks oder des Preises, sondern des Selbstbewusstseins, was wir uns einverleiben.

Helmut Aßmann


Gebet

02. november 2015

Navid Kermani, diesjähriger Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, hat seine Festrede in der Frankfurter Paulskirche mit einer erstaunlichen Geste beendet: er rief alle Anwesenden dazu auf, zu beten, für Pater Jacques Mourad, Paolo dall’Olgio und die verschleppten Christen oder, falls einer nicht beten mochte, den Frieden in Syrien und den Irak zu wünschen. Dass er in seiner Rede mehr oder minder unverschleiert die militärische Option zur Beendigung der Terrorszenarien im Nahen Osten befürwortet hat, war schon bemerkenswert genug. Aber als zum Ende sich alle Anwesenden, Christen, Muslime und Nichtmusikalische in Sachen Religion auf seine Bitte hin erhoben, war das doch mehr als ein feierliches Accessoire in dieser erlauchten Umgebung. Hätte sich irgendein bekennender Christenmensch als Preisträger, sagen wir Heiner Geißler oder Norbert Lammert, zu dieser Anwandlung verstiegen, was wäre dann geschehen? Er hätte sich den Vorwurf eingehandelt, die Trennung von Politik und Religion als Ergebnis einer jahrhundertelangen europäischen Kraftanstrengung auf dem Altar einer billigen Schlagzeile geopfert zu haben. Erstaunlicherweise nicht bei Kermani. Immerhin, die Süddeutsche Zeitung hat energisch gegen diesen Akt protestiert. Ansonsten allenthalben große Betroffenheit. Natürlich, Kermani hat die Anwesenden mit Bedacht und Vorsatz überrumpelt. Dafür mag man ihn schelten. Politisch korrekt war das nicht. Aber er hat dafür etwas viel Eindrücklicheres fertiggebracht: er hat einen weithin als politisch rubrizierten Konflikt in seiner religiösen Tiefe dadurch kenntlich gemacht. Beim IS geht es nicht nur um Öl oder Macht. Und deswegen fordert der Konflikt nicht nur Diplomatie, sondern auch ein Bekenntnis. Das öffentlich zu inszenieren, ist groß. Und bedeutsam: Am Ende jedes ernsthaften Konfliktes gilt es sich zu bekennen – oder zu gehen. 

Helmut Aßmann


Wunder

06. oktober 2015

Ich finde es überaus bemerkenswert: auf der einen Seite finden Parteien, Feuerwehren und Sportvereine seit Jahren keinen Nachwuchs in den ehrenamtlichen Funktionen, auf der anderen Seite läuft seit vielen Monaten in diesem Land ein unfassbares Engagement in der Flüchtlingsarbeit auf. Dass auch das irgendwann auch seine Grenzen hat, ist klar. Alles hat Grenzen, mit Ausnahme der Liebe, der Sünde und der natürlichen Zahlen. Aber dieser Gesellschaft wurde ja in immer neuen Statistiken attestiert, wie sehr sie kälter, rücksichtsloser, egoistischer und überhaupt irgendwie unmenschlicher geworden ist. Ich habe das immer ein bisschen geglaubt, und in der Zeitung stehen ja auch allenthalben entsprechend missliche Dinge. Und nun – man reibt sich die Augen – brummt das ganze Land vor hingebungsvoller Zuwendung zu den ankommenden Menschen aus aller Herren Länder. Das hätte kaum einer uns Deutschen zugetraut, und wir uns selbst vermutlich am allerwenigsten. 

Was geht da vor? Vielleicht wird hier eine Möglichkeit gesehen, sich wirklich nützlich zu machen, als Mensch, und nicht nur in vorsortierten Handlungsoptionen seinen Dienst zu schieben. Es kann auch sein, dass der Zusammenhang zwischen menschlich sein und glücklich sein konkret entdeckt wird. Vielleicht handelt es sich gar um einen Ausbruch von humanitärer Leidenschaft, weil sonst immer nur professionalitätsgesteuerte Wohlfahrtskonzerne in Sachen Nächstenliebe das Sagen haben und die nur nach unserem Geld, aber nicht nach unseren Herzen fragen. Von Angesicht zu Angesicht einem anderen Menschen zu Diensten zu sein, ist ein Bedürfnis, das ebenso in uns steckt, wie die Versuchung, alles auf sich zu beziehen. Das ist, neben der nach wie vor betrüblichen Ebbe in den anderen ehrenamtlichen Tätigkeitsfeldern, ein kleines Wunderzeichen gegen den Untergang des Abendlandes.

Helmut Aßmann


Leben als Option

25. september 2015

Die Amerikanerin Brittany Maynard hat sich im Alter von 29 Jahren angesichts eines aggressiven Hirntumors, der sie über kurz oder lang umbringen würde, im Kreise ihrer Familie – so berichten es die Medien – das Leben genommen. „Der Wert des Lebens besteht darin, dafür zu sorgen, nichts zu verpassen. Nutze den Tag! Was ist dir wichtig? Folge dem – und vergiss den Rest“ – so ihre programmatischen Worte zum „People Magazine“. Ich kann das nachvollziehen. Dem Leben seine guten Seiten abgewinnen, es dankbar in Empfang nehmen und ihm dann, wenn alles aussichts- und sinnlos wird, in Würde Lebewohl sagen. Als Akt einer letzten Selbstbestimmung. Die Anteilnahme vieler Menschen an ihrem Geschick zeigt, wie sehr auch sie an dieser Frage arbeiten. Das längere Leben, das uns durch Medizin und Wohlstand vergönnt ist, bringt diese Frage auch als sozialpolitisches Problem mit unerhörter Dringlichkeit nach vorn.
Andererseits: wer weiß schon, was das Leben ist? Und wer bestimmt, ab wann und für wen ein Leben lebenswert und sinnvoll ist? Wir bekommen unser Leben geschenkt, wir erarbeiten es uns ja nicht. Und was ist mit den anderen; wir leben ja nicht allein? Vor allem: ist das, was ich als perspektivisch sinnvoll und als menschlich erfüllend ansehe, wirklich schon identisch mit dem, was das Leben für mich als Botschaft und Lebenserfahrung bereithält? Dazu kennen wir es eben zu wenig. Ich weiß, ich habe derzeit gut reden – derzeit keine schwerwiegenden Diagnosen. Außer der einen, die wir alle haben.
Mein Unbehagen ist dies: ich glaube nicht, dass wir das Leben „nutzen“ sollten wie irgendeine Dienstleistung. Also: viel erlebt, gut gelebt. Der Philosoph Arthur Schopenhauer meinte dazu trocken, es ginge vor allem darum, das Leben zu bestehen. Ehrlich gesagt, das halte ich für lebensnäher. 

Helmut Aßmann


200 Moscheen

14. september 2015

Der Focus und andere Quellen haben berichtet, dass Saudi-Arabien bereit sei, für die Flüchtlinge in Deutschland zweihundert neue Moscheen zu finanzieren. Das ist eine interessante Meldung, selbst wenn sie nicht stimmt. Denn dass die arabischen Ölstaaten in der ganzen Welt massenhaft Gotteshäuser und Infrastruktur bauen lassen, um den dort ansässigen muslimischen Gemeinden unter die Arme zu greifen, ist seit langem gängige Praxis. Insofern würde es sich nur um eine bislang in dieser Größenordnung in Deutschland nicht bekannte Investition handeln. Die Meldung rief aber prompt die politischen Schatzmeister auf den Plan. Mit dem moralischen Allwetterargument, dass man dieses Geld doch auch direkt und viel sachgemäßer als Unterstützung für die Arbeit an den Flüchtlingen in Europa verwenden könnte. So ähnlich hatte schon Judas argumentiert, als eine Frau die Füße des Gottessohnes zwar voller Hingabe, aber unziemlicherweise mit kostbarem Parfum übergoss: man könnte das Geld für den Duft doch den Armen geben. Also auch hier der Verschwendungsvorwurf. Das ist aber ein dummer Einwand, damals wie heute. Denn wenn einem etwas wertvoll ist, macht einen das – Gott sei Dank! – freigebig und großzügig, aber nicht vernünftig. Den Ölstaaten ist eben die Religion wichtig, deswegen bieten sie Moscheen an, keine Kinderspielzeuge oder Winterdecken. Damit servieren sie dem säkularisierten und glaubensfremdelnden Westen eine Sicht der Dinge, die dieser unangebrachterweise für unangebracht hält: Religion ist kein beliebiges Freizeithobby, sondern der zentrale Ort der Selbstvergewisserung. Das sollte man ernst nehmen. Sowohl für die Verständigung als auch für die Auseinandersetzung. Übrigens ist auch die sagenhafte Hilfsbereitschaft in Deutschland religiösen Ursprungs: man findet ihren Grund im dritten Buch Mose, in der jüdischen Bibel. Es wird wichtig werden, auf diese Zusammenhänge wieder aufmerksam zu achten.

Helmut Aßmann


Pack

08. september 2015

Das markige Wort aus dem Mund des Vizekanzlers zu den Vorkommnissen in Heidenau (und inzwischen betrüblicherweise auch in unserer unmittelbaren Umgebung) ist nur allzu nachvollziehbar. Und manchmal gehört ja auch auf einen groben Klotz ein grober Keil. Aber die Sache ist hinterhältig. Flugs haben sich die Gescholtenen nämlich ihren eigenen Reim daraus gemacht: „Wir sind das Pack!“ – so lautet nun die umgehende Replik. Eine höchst denkwürdige Verbindung zwischen der leuchtendsten politischen Zeit des geteilten Deutschland und den finstersten Weltanschauungsverirrungen unserer nationalen Vergangenheit. Was da als ethische Ohrfeige lanciert war, wird nun unversehens als Auszeichnung verwertet. Das entmachtet nicht nur den moralischen Impuls, der in kumpelhafter Sprache verabreicht werden sollte, sondern interpretiert ihn als politische Auszeichnung. Das ist zwar geschmacklos, aber intelligent. Auch Pack hat Stolz.
Eine markig servierte Moral ist eben keine gute Waffe, wenn sie als persönliche Attacke eingesetzt wird, weil sie statt der Meinungen oder Handlungen die Menschen herabsetzt, die hinter ihnen stehen. Gegen Meinungen zu Felde zu ziehen, ist das eine, Menschen als Idioten abzuqualifizieren, ist etwas anderes. Das mag bei Stammtischdiskussionen noch angehen, in öffentlichen Auftritten ist das gefährlich. Das feine Gespür, das uns Streit in der Sache von Beleidigungen der Person zu unterscheiden lehrt, ist beim Pack genauso reaktionsfreudig wie bei den anderen. Niemand lässt es sich ohne Widerstand bieten, herabgewürdigt zu werden. Die Mühe, die Logik in den verquasten Parolen zu begreifen, die gegen Flüchtlinge, Asylsuchende und die vielen Helfer im Land aufgebracht werden, bleibt einem nicht erspart. Diese Logik aber zu entmachten ist hilfreicher als ihre Vertreter zu beschimpfen.

Helmut Aßmann


Gipfelgarantie

10. august 2015

Eine Bergführerin, die rund um die Welt in den Hochgebirgen mit anderen Leuten unterwegs ist, berichtete mir unlängst von einem besonders ambitionierten Adventure-Reiseanbieter. Der gab für seine Kunden bei einer Kilimandscharo-Besteigung eine sogenannte „Gipfelgarantie“. Mit anderen Worten: bei mir kommt jeder hinauf, egal wie. Sollte es unvorhergesehenerweise aber, wider alle Erwartungen und Bemühungen, doch nicht klappen, gibt es eben das Geld zurück. Voraussetzung für das Erreichen des Gipfels ist weder die gesundheitliche oder psychische Verfassung noch sind es die Witterungsbedingungen oder regionalpolitische Unwägbarkeiten, sondern allein die Entrichtung der Gebühren für die gipfelgarantierte Erstürmung des höchsten Berges in Afrika. Alle Risiken und Nebenwirkungen gehen auf das Konto des Reiseanbieters. Vorleistungen von Seiten des Kunden sind nicht zu erbringen.
Der Dienstleistungsgedanke erreicht hier seinerseits einen Gipfelpunkt. Einem Nichts an Eigenleistung steht ein Maximum an Verpflichtung gegenüber. Genauer formuliert: die Eigenleistung besteht allein in der Begleichung einer Rechnung. Der Deal lautet: ich gebe dir Geld, und du vermittelst mir die Erfahrung, die ich haben möchte. Erfüllungsgarantie eingeschlossen. Dieses Geschäft funktioniert gut, wie die vollen Auftragsbücher der Reiseagenturen zeigen. Dass allerdings damit ein Lebensmodell im weiteren Sinn des Wortes vorliegen könnte, ist ein grandioser Irrtum. Lebenserfüllung ist gebunden an den persönlichen Einsatz. Ohne Anstrengung kein Gewinn. Und sie bleibt ein riskantes Unternehmen. Es kann auch schiefgehen. Der offene Ausgang ist merkwürdigerweise die Bedingung des Glücks. Anders formuliert: die Gipfelgarantie ist immer nur ein Geschäftsmodell und das Gegenteil eines Glücksversprechens.

Helmut Aßmann


Grenzen

05. august 2015

Das Dumme an den wichtigen Grenzen ist, dass man ihren genauen Verlauf erst dann bestimmen kann, wenn man sie überschritten hat. Das gilt für territoriale Grenzen genauso wie für Lebensgrenzen in Sachen Gesundheit, Nerven und Körperkraft. Hinzu kommt, dass Grenzverläufe keineswegs ein für allemal festgeschrieben sind. Sie ändern sich, je nach Training, Mode und Machtverhältnissen. Sie müssen dann jeweils neu justiert werden, und wieder geschieht das dadurch, dass man sich dem Risiko aussetzt, bei der Justierung grenzüberschreitend tätig zu werden. Das muss keine pathologischen Folgen haben, kann es aber. Zwischen Herzinfarkten und Schießbefehlen sind die Formen der Grenzbewehrung ausgesprochen vielfältig. Der neunmalschlaue Hinweis, man solle so leben, dass man seine eigenen Grenzen nicht überschreitet, ist wohlfeil. Er gehört in die Reihe der gutgemeinten, aber lebensfremden Weisheiten, die jede Generation an ihre Nachfolgerin in der Hoffnung weitergibt, dass das ein guter Ratschlag sein möchte, aber in der Ahnung, dass man besser den Mund gehalten hätte. Denn wie soll ein Mensch herausfinden, wo seine Möglichkeiten aufhören, wenn er sich nicht in solche Situationen begibt, in denen das spürbar der Fall ist? Und wie soll er den Horizont seines Vermögens hinausschieben und erweitern, wenn er nicht je und dann ergebnisoffen austestet, ob er die nächstmögliche Herausforderung tatsächlich zu meistern imstande ist? Man spricht neudeutsch an dieser Stelle gern von einer „challenge“, der man sich zu stellen habe. Das klingt nach irgendetwas Unterhaltsamem zwischen cool und modern. Aber Vorsicht: seine Grenzen findet man nur, wenn man riskiert, für diese Erkenntnis bitter zu bezahlen. Sicher, es geht auch ohne. Aber dann weiß man eben nicht, was drin gewesen wäre.

Helmut Aßmann


Sympathieverteilung

22. juli 2015

Nahverkehrsmittel sind Soziallabore. Wie Menschen sind, kann man am einfachsten im morgendlichen Berufsverkehr bei vollen Bussen und Zügen studieren. Die Jagd nach einem freien Platz etwa: zwischen feinem Florett und Augenkontakt auf der einen und grober Gewalt mit körperlicher Präsenz auf der anderen Seite ist alles anzutreffen. Oder die erzwungene Nähe: das Knie desjenigen, der mir gegenüber sitzt, wird dann für ein paar lange Minuten lang wirklich ein ernsthaftes Problem. Oder gerade nicht. Das hängt immer von denjenigen ab, die der Zufall da morgens zusammenschiebt. Ich frage mich immer, wer oder was in mir eigentlich bestimmt, ob und wie lange ich die Nähe eines unbekannten Körpers ertrage. Es geht jetzt nicht um die breitbeinigen Lümmel oder ungewaschenen Nachtschwärmer, deren schierer Anblick einen verdrießlich macht. Da kenne ich meine Gründe selbst. Aber dies Gefühl, sich in die Nähe des einen begeben zu wollen, aber in die Nähe der anderen nicht, ist bemerkenswert präzise und ebenso bemerkenswert undurchschaubar. Als wüsste jemand in mir, was gut für mich ist oder zu mir passt oder auch nur angenehm für den Augenblick ist. Aureatische Beziehungen nennen das die Esoteriker. Meinethalben aureatisch. Beziehung stimmt aber in jedem Fall. Manche Leute mag ich, und ich weiß nicht warum. Andere mag ich nicht aber ich weiß auch nicht warum. Die Gründe, die dich für diese Sympathieverteilung angebe, falls mich jemand dazu fragt, sind, wenn ich ehrlich bin, nachgeschoben. Das bedeutet wohl, dass irgendetwas eine Kontaktaufnahme vornimmt, bevor ich selber davon Wind, Geruch oder Bewusstsein bekomme. Und nicht nur das – eine Bewertung kommt auch noch dazu. Ob wir uns gegen diesen Sachverhalt wehren oder mit ihm zusammenarbeiten, entscheidet, glaube ich, in nicht geringem Maß über Glück und Unglück.

Helmut Aßmann


Alles geben!

16. juli 2015

„Gib alles!“, so lautet die vehemente und unterstützende Aufforderung, wenn das Spiel auf Messers Schneide steht, die Puste auf den letzten Metern knapp wird oder die Kraft für den letzten Wurf noch einmal zusammengekämpft werden muss. Alles geben, um das Ziel zu erreichen, den Sieg zu erringen oder wenigstens der drohenden Niederlage zu entgehen. Die Restlosigkeit der Anstrengung und die Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst sind von heroischer Qualität. Das ist der Stoff, aus dem die ganz Großen gemacht sind. Wer in solchen Situationen Abstriche macht, halbherzig daherkommt oder mit Ablenkungen kokettiert, hat bereits verloren. Und seine Geschichte wird nach aller Wahrscheinlichkeit keine Siegergeschichte, sondern eine Allerweltsstory. „Gib alles!“ - dieser aus dem sportlichen Umfeld herausgelesene Imperativ hat eine bemerkenswerte gesellschaftliche Gesamtkarriere gemacht. Wer alles gibt, lässt sich nicht mehr irritieren durch Nebenbetätigungen oder schweifende Gedanken, sondern ist zielorientiert und raodmap-fixiert bis zum Schluss. Radikalität nennt man das, um eine etwas vertracktere Vokabel zu verwenden. Spricht man sie langsam aus, erscheinen sofort all die hässlichen Produkte ausgelebter Radikalität vor Augen, die politischen, moralischen oder militärischen. All diese „alles oder nichts“ , „jetzt oder nie“ oder „einmal und nie wieder“ Parolen von nah und fern. Wer alles gibt, hat selbst nichts mehr übrig. Weder für sich noch für andere. Das kann nicht richtig sein, so pathetisch sich das auch anfühlen mag. Vermutlich gilt das sogar im Sport.

Nein, alles zu geben, ist selten gut. Rest- oder Rücksichtslosigkeiten werfen üble menschliche Schatten. Es reicht ja meistens, wenn man das Richtige gibt. Oder das Passende. Oder nur das, was einer gerade braucht. 

Helmut Aßmann


Fahrtrichtung links!

30. juni 2015

In den Nahverkehrsmitteln in Stadt und Land hört man seit etlichen Jahren den pädagogischen Hinweis, auf welcher Seite man aussteigen soll, oder, bei nicht fahrplanmäßigem Halt, dass man eben gar nicht das Gefährt zu verlassen habe. Da in der Regel die jeweils anderen Türoptionen sowieso verriegelt sind, bleibt einem ja auch nichts anderes übrig, als gehorsam das zu tun, was die Computerstimme einem sagt. Es sei denn, um des antiautoritäten Völlegefühls willen fährt man weiter als geplant oder stürzt sich gewaltsam auf das Gegengleis. Soll es ja auch geben.
Hinter dieser belehrenden Grundgeste bei Bus, Bahn, Flugzeug (Schiff auch?) kann mehreres stecken. Vielleicht ein Überbleibsel sozialistischer Gesinnung, das man allen überall auch proaktiv zu ihrem Glück verhelfen müssen. Vielleicht auch die pessimistische Unterstellung, dass die meisten Menschen zu dämlich für einen sachgemäßen Ausstiegsvorgang sein könnten. Oder der Versuch einer – allerdings eher unbeholfenen – Kontaktaufnahme im Sinne wertschätzender Wahrnehmung der Fahrgäste seitens der Verkehrsträger. Am naheliegendsten ist freilich der versicherungspolitische Aspekt: es muss in einer sicherheitsbesoffenen Welt gewährleistet werden, dass jedweder anzunehmende Unfall ausschließlich auf die Unzulänglichkeiten der Passagiere zurückzuführen ist. Wie auch immer: dieser gutgemeinte oder auch hinterhältige Antrieb, den Menschen das Verkehrsleben leichter zu machen, einschließlich der kabarettreifen englischen Spracheinlagen in der Bahn, hat jedenfalls eine höchst unschönen Nebeneffekt: man muss keinen mehr fragen. Im autistischen Tunnel  der Transportmittel braucht man keinen Sozialkontakt. Die Steuerung erfolgt via Computerdirektion, Internetnavigation und Leuchtdiodenarchitektur. Es ist zum an der falschen Seite aus der Bahn springen …

Helmut Aßmann


Widersprüche

23. juni 2015

Quantentheorie und Relativitätstheorie: zwei physikalische Modelle, die Anfang des letzten Jahrhunderts die gesamte damalige Weltvorstellung über den Haufen warfen und ein neues Bild des Universums hervorbrachten. Beide Theorien, obwohl für den Laien kaum in zwei, drei Sätzen verständlich zu machen, sind immer wieder eindrucksvoll experimentell bestätigt worden. Sei es der Blick in die unendlichen Weiten des Himmels oder der in die Röhren und Targets der Teilchenbeschleuniger: Einstein und Heisenberg hatten Recht.
Merkwürdigerweise ist es aber nie gelungen, die beiden Theorien, die ja die Welt im ganz Großen und im ganz Kleinen beschrieben, zu einer einzigen zusammenzufassen. Selbst der legendäre Stephen Hawking hat das nicht möglich machen können. Die Widersprüche sind nicht aufzulösen. Nun mag einer sagen: noch nicht - irgendwann wird das schon gelingen. Vielleicht. Ich will darauf nicht spekulieren. Aber der Umstand, dass die makroskopische und die mikroskopische Sicht auf die Welt kein harmonisches, stimmiges Bild ergeben, ist nach meinem Dafürhalten mehr als nur ein wissenschaftliches Defizit. Es bildet sich darin möglicherweise eine Grundfigur des Daseins ab: die Dinge sind in ihrem Wesen widersprüchlich und nicht nur deshalb, weil wir sie nicht richtig verstanden haben. Widersprüche versuchen wir aufzulösen, wo immer sie sich zeigen. Mal mit Logik und Argumenten, mal mit Gewalt oder gelegentlich mit Ignoranz und Desinteresse. Wir tun das, weil es so schwer auszuhalten ist, wenn es nicht eine letzte, eigentliche, unwidersprüchliche Sicht der Dinge gibt. Es gibt Leute, die führen deswegen Krieg. Wenn das aber nun so ist? Nicht nur wegen unserer mangelnden Erkenntniskraft, sondern weil es sich einfach so verhält? Wenn das zutrifft, bestünde Weisheit darin, Widersprüche auszuhalten, nicht: sie aufzulösen.

Helmut Aßmann


Wahrheit und Wirklichkeit

17. juni 2015

Das christliche Mittelalter war davon überzeugt, dass die Wahrheit eine Realität ist. Mehr noch: Sie, die Wahrheit, ist die wirklichste aller Wirklichkeiten. Es liegt nahe, unter den heutigen Lebens- und Denkbedingungen die Sache mit der Wissenschaft genauso zu verstehen: Die wissenschaftlichen Ergebnisse sind so etwas wie die Wahrheit der Wirklichkeit. Nicht umsonst werden Leute mit wissenschaftlichem Hintergrund und Knowhow immer dann voller Eifer und mit Aplomb aufgeboten, wenn es bei komplizierten Fragestellungen besonders glaubwürdig, gediegen und gesichert daherkommen soll. Aber die Sache ist leider verwickelter. Um es an Galileo Galilei, dem Erzvater der Wissenschaft zu versinnbildlichen: Galilei, der die Fallgesetze gefunden hat, hat sie selber nie gemessen. Er konnte gar kein Vakuum herstellen, in dem sie messtechnisch nachweisbar gewesen wären. Galilei hat sie sozusagen – genialerweise – erschlossen. Seine wissenschaftliche Wahrheit stimmte mit der normalen Wirklichkeit also nicht überein. Wenn man sich das einmal langsam durch den Kopf gehen lässt, wird es einem blümerant. Weil: Das ist immer so. Die wissenschaftlichen Gesetze sind Ideale, keine Wirklichkeit. Die Statistiken bieten uns Querschnitte dar, keine tatsächliche Realität. Die alten mittelalterlichen Theologen hatten das wahrscheinlich schon geahnt, denn für sie war ausgemacht, dass in einem strengen Sinn nur Gott Wahrheit und Wirklichkeit zugleich sein konnte. Auf Erden und unter menschlichen Bedingungen hingegen klafft zwischen Wahrheit und Wirklichkeit eine nie zu schließende Lücke. Was das mit dem normalen Leben zu tun haben soll, wird mancher fragen. Nun ja, man kann nicht realistisch und wahrhaftig zugleich sein. Das ist eine durchaus verstörende Nachricht, finde ich. In gutem Sinne.

Helmut Aßmann


Sympathieverteilung

12. juni 2015

Nahverkehrsmittel sind Soziallabore. Wie Menschen sind, kann man am einfachsten im morgendlichen Berufsverkehr bei vollen Bussen und Zügen studieren. Die Jagd nach einem freien Platz etwa: zwischen feinem Florett und Augenkontakt auf der einen und grober Gewalt mit körperlicher Präsenz auf der anderen Seite ist alles anzutreffen. Oder die erzwungene Nähe: das Knie desjenigen, der mir gegenüber sitzt, wird dann für ein paar lange Minuten lang wirklich ein ernsthaftes Problem. Oder gerade nicht. Das hängt immer von denjenigen ab, die der Zufall da morgens zusammenschiebt. Ich frage mich immer, wer oder was in mir eigentlich bestimmt, ob und wie lange ich die Nähe eines unbekannten Körpers ertrage. Es geht jetzt nicht um die breitbeinigen Lümmel oder ungewaschenen Nachtschwärmer, deren schierer Anblick einen verdrießlich macht. Da kenne ich meine Gründe selbst. Aber dies Gefühl, sich in die Nähe des einen begeben zu wollen, aber in die Nähe der anderen nicht, ist bemerkenswert präzise und ebenso bemerkenswert undurchschaubar. Als wüsste jemand in mir, was gut für mich ist oder zu mir passt oder auch nur angenehm für den Augenblick ist. Aureatische Beziehungen nennen das die Esoteriker. Meinethalben aureatisch. Beziehung stimmt aber in jedem Fall. Manche Leute mag ich, und ich weiß nicht warum. Andere mag ich nicht aber ich weiß auch nicht warum. Die Gründe, die dich für diese Sympathieverteilung angebe, falls mich jemand dazu fragt, sind, wenn ich ehrlich bin, nachgeschoben. Das bedeutet wohl, dass irgendetwas eine Kontaktaufnahme vornimmt, bevor ich selber davon Wind, Geruch oder Bewusstsein bekomme. Und nicht nur das – eine Bewertung kommt auch noch dazu. Ob wir uns gegen diesen Sachverhalt wehren oder mit ihm zusammenarbeiten, entscheidet, glaube ich, in nicht geringem Maß über Glück und Unglück.

Helmut Aßmann


Feste feiern

19. Mai 2015

Vergangenen Donnerstag, 40 Tage nach Ostern, fanden zwei Festtage statt: Christi Himmelfahrt für die einen, Vatertag für die anderen. Eine kleine Schnittmenge wird sogar beide Festtage unter einen Hut zu bringen wissen. Interessanterweise sind Mutter- wie Vatertag um dieselbe Zeit entstanden, so um die vorletzte Jahrhundertwende herum, der eine in den USA, der andere im Großraum Berlin – so sagen es die einschlägigen Kulturnachrichten. Dass der Vatertag auf den Himmelfahrtstag fällt, ist eher Zufall, weniger Programm. Die dem Vatertag volkstümlich zugeschriebene Funktion, eine Einführung in die höheren Weihen der Männlichkeit zu sein, hat jedenfalls mit der leiblichen Aufnahme Christi in den Himmel nichts Naheliegendes zu tun.
Was beide dennoch einträchtig zusammenhält, ist die relative Schwierigkeit der Feiernden, was die materiale Ausgestaltung dieses Festes angeht. Zwischen feste feiern und Feste feiern dehnt ja sich ein ganzes Universum von Möglichkeiten, die zur Verfügung gestellte freie Zeit zu gestalten. Gut, die Christen feiern Gottesdienst, vorzugsweise im Grünen, aber das hat mehr mit dem Status der Vegetation, weniger mit der Himmelfahrt oder dem Osterbezug zu tun. Aber immerhin. Die Vatertagsversammlungen konzentrieren sich meist auf die mehr oder weniger ästhetischen Rahmungen eines ansonsten inhaltlich eher anspruchslosen Brüllsaufens. Ausnahmen bestätigen die Regel. Als Mann bin ich verständlicherweise etwas zurückhaltend, dabei von den höheren Weihen der Männlichkeit zu sprechen.

Kurzum: Ein Fest zu feiern ist nicht so leicht. Essen und Trinken ist ja nur das eine. Die Restaufgabe, die Sache mit dem Gegenstand des Feierns, dem Sinn des freien Tages und der Form, seine freie Zeit zu verbringen, ohne zu arbeiten oder sich zu betäuben, ist eine hohe Kunst. Eine wichtige Kunst. Eine menschliche Kunst. 

Helmut Aßmann


Selbstoptimierung

11. Mai 2015

Soll ich bleiben, wie ich bin? Oder muss ich werden, was ich sein könnte? Zwischen diesen beiden Fragen und ihrer Beantwortung liegt das Elend des modernen Menschen auf seiner ewigen Suche nach sich selbst. Die Treue zum eigenen Wesen wird unter dem etwas ungefügen, aber imposanten Begriff „Authentizität“ geadelt. Zugleich wird aber verlangt, dass man alles das aus sich heraushole, was an Potential – wieder so ein Klotz von Vokabel – in einem vorhanden ist. Dummerweise kennt niemand sein eigenes Wesen genau oder kann das Maß seines Potentials angeben. Der moderne Mensch als eine Melange aus wesentlicher Stabilität und existentieller Dynamik – da finde sich nun einer zurecht … 

Es gibt drei Möglichkeiten, damit umzugehen. Zwei verzweifelte und eine hemdsärmelige. Aber keine richtige. Die erste verzweifelte Möglichkeiten lautet: arbeite an dir, solange und so intensiv du kannst und versuche, dich maximal zu entwickeln. Da kommt man an kein vernünftiges Ende, fürchte ich, es ist niemals genug mit der Selbstoptimierung. Die zweite verzweifelte Möglichkeit geht so: lass dich von nichts und niemandem beeindrucken, sondern bleibe unter allen Umständen ganz bei und in dir selbst. Das ist aber auch kein vernünftiges Ziel, denn die Welt ist ja doch einen Tuck größer als die eigene Lebensspanne und –tiefe.  Bleibt die dritte, eher saloppe Möglichkeit: mach beides, so gut du kannst und soweit es geht, und gräme dich nicht, wenn das Ergebnis – auch langfristig – nur mittelhochtief ist. Da bist du immerhin in einer ausgesprochen großen Gesellschaft. Der Charme der dritten Möglichkeit besteht darin, dass man in Ruhe auch mal abhängen kann vom ambitionierten Selbstvollzug, ohne das wieder als Kreativpause zu verkasematuckeln. Am Anfang der biblischen Schöpfungsgeschichte steht immerhin, dass eigentlich alles ganz gut war, auch ohne Optimierungshype.

Helmut Aßmann


Löwenweisheit

27. april 2015

„Einem Löwen gibt man keine Befehle“ sagt ein altes ägyptisches Sprichwort. Hat man einmal einem echten Löwen gegenübergestanden, also einem mit Mähne und Afrika und so, ist das unmittelbar einleuchtend. So ein aufgerissenes Löwenmaul ist als solches ein beeindruckendes Argument. Da stellt man keine großen Fragen mehr. Nicht dass man das  nicht trotzdem machen könnte, also Befehle erteilen. Das geht schon. Das Dumme ist nur, dass die Befolgung der Befehle nicht von dem abhängt, der sie erteilt hat, sondern von dem Löwen. Der macht das so, wie er es macht, weil er es so macht, wie er es macht. Er ist eben der Platzhirsch, wenn ich diesen zoologischen Bruch einmal in Kauf nehmen darf, und es gibt niemanden, der Format und Macht hätte, ihm das streitig zu machen. Soweit zur Plausibilität der ägyptischen Weisheit.Nun wissen wir: Löwen lassen sich natürlich zähmen. Das beweist einem schließlich jeder Zirkus aufs Neue. Was kann man mit den Herren der Savanne nicht alles machen! Hat aber zwei kleine delikate Vorbehalte. Der erste: so ein gezähmter Löwe ist irgendwie nur so etwas wie eine aufgeblasene Hauskatze, die lediglich mehr Eindruck schindet als die Mieze von nebenan. Der zweite: die gelegentlich dann doch an- oder aufgefressenen Dompteure sind ein Warnhinweis dafür, dass Löwenzähmungen meistens nicht ohne ein Restrisiko zu haben sind. So ein – zahlenmäßig sehr seltener – löwenzähmungstechnischer Betriebsunfall ist die kleine Erinnerung daran, dass das real existierende Löwentum auch dann nicht erledigt ist, wenn bei Tausenden von Zirkusvorstellungen der Kopf des Dompteurs im Rachen des Löwen auf dem Hals geblieben ist.Die Dressur der uns umgebenden Welt erinnert mich immer wieder einmal an das ägyptische Sprichwort. Was können wir mit mir nicht alles machen! Die Welt tut, was wir Menschen wollen. Bis auf, wie beschrieben, die beiden Vorbehalte.

Helmut Aßmann


Beratungsbedarf

22. april 2015

Der moderne Mensch zeichnete sich über Generationen dadurch aus, dass er in der Lage war, selbständig, eigenverantwortlich und bewusst schwierige und folgenreiche Entscheidungen zu treffen. Das galt für die Leitung von Unternehmen ebenso wie für die Führung eines Sportvereins oder die Arbeit in einer Kirchengemeinde. Dieses Selbständigkeitsprinzip musste sich in den vergangenen Jahrzehnten nach und nach einer besseren Einsicht fügen: der Notwendigkeit, bei allen Entscheidungen, die über die Komplexität der Frühstücksalternative Tee oder Kaffee hinausgehen, einen Berater hinzuzuziehen. Einen von außen, der nicht aus dem System stammt und die eigene Betriebsblindheit nicht teilt. Einen, der außer der verkehrsüblichen Gewinnspanne keine weiteren Interessen ins Feld führt. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass man seinen eigenen Lieblingsideen oder selbstgebauten Erfahrungswerten nicht auf den Leim geht. Stattdessen darf man sich dann sicher sein, den jeweils aktuellen Stand der einschlägigen Handlungsqualitäten einzukaufen. Wichtig ist für den Berater wie den Beratenen natürlich, dass die eigentlich in Rede stehende Entscheidung vom Kunden getroffen wird, damit der auch seinem Verantwortungsanspruch gerecht wird. Auf diese Weise bleibt das Gefühl der Freiheit als Elementarbedingung modernen Lebens wenigstens ansatzweise erhalten.
Nun weiß ich nicht genau, wie sinnvoll Stil- und Formberatung, Hochzeits- und Scheidungsberatung, Image- und PR – Beratung im Einzelfall sind. Manchmal habe ich den Eindruck, der eine oder andere gute Freund täte es vielleicht auch. Aber das ist wahrscheinlich eine Frage des Geldes. Warum ich aber meiner eigenen Intuition nicht mindestens ebensoviel zutrauen soll wie den Leuten „außerhalb“ des Systems, bleibt mir, ehrlich gesagt, nach wie vor ein Rätsel.

Helmut Aßmann


Karfreitagstanz

13. april 2015

Vor Ostern gab es wieder das Karfreitagstanzritual. Eine ziemlich lustige Sache, wenn sie für einen kurzen Spot in den Nachrichten gezeigt wird. In wechselnden Besetzungen versammelt sich vor Rathäusern oder auf vergleichbaren öffentlichen Plätzen eine Reihe von Menschen, um gegen das grund- und feiertagsgesetzlich festgeschriebene Tanzverbot zu demonstrieren. Unhörbare Musik dringt in die Ohren der Demonstranten, und sie bewegen sich mehr oder minder kontrolliert und konzertiert zu Rhythmus und Melodie ihrer Einflüsterungen. Sieht originell aus. Dass man an Karfreitagen, Volkstrauertagen und anderen, von Bundesland zu Bundesland verschieden bestimmten Tagen sich seinen Vergnügungsbedürfnissen nicht unbegrenzt hingeben dürfen kann, ist offenbar das Ärgernis. Verletzung der Freiheitsrechte, lautet der Vorwurf dann in geschwollenem Pathos. Oder verfassungsrechtlich bewehrt: keine Trennung von Staat und Kirche! Warum dieser Veitstanz allerdings nie zur Freigabe beispielsweise des Totensonntags für öffentliche Vergnügungen aufgeführt wird, sondern nur den Karfreitag betrifft, ist natürlich unschwer zu erraten. Der religiöse Ursprung und die dunkle Färbung des Tages stehen einfach quer zum Bespaßungsgebot der Zeitläufte. Leid und Schmerz und Tod sind uncool. Dafür haben wir schließlich eigene Betreuungsanstalten und Einrichtungen. 

Wenn es aber im Kern darum geht, die altbackenen Restbestände des christlichen Abendlandes zu liquidieren, dann könnte man doch bei den zweiten Feiertagen der Hochfeste anfangen. Schaffen wir die ab, dann haben wir wieder ein wenig mehr Säkularität. Wär doch mal eine Alternative zu dem eher komischen Herumgehopse auf öffentlichen Plätzen bei meistens schlechter vorösterlicher Witterung. Auf diese einfache Idee kommen die Julis, Piraten oder andere Freigeister einfach nicht. Würde ja echt was kosten …

Helmut Aßmann


Lebensphysik II

09. april 2015

Einer der erstaunlichsten Sätze der Physik beschäftigt sich mit der Art und Weise der Energieverwertung. Auch hier, wie schon beim sogenannten Energieerhaltungssatz, bedarf es keiner großen philosophischen Kunst, um die unmittelbare Alltagstauglichkeit aufzuweisen. Abstrakt formuliert: wenn einem geschlossenen System keine weitere Energie zugeführt wird, steigt die durchschnittliche Unordnung in diesem System nach und nach an. Schlicht gesagt: alles, was man sich selber überlässt, verkommt mit der Zeit. Das betrifft das bewohnte Haus ebenso wie die Beziehung zwischen Menschen oder die wirtschaftliche Situation eines Unternehmens. Was von selbst geht, hat immer die Tendenz, nachlässiger, schleifender, unaufmerksamer zu werden. Um irgendein System auch nur aufrecht zu erhalten, braucht es Energie, Zuwendung, Aufmerksamkeit, Pflege. Und will man es sogar noch weiter entwickeln, wird der Zuwendungs- und Pflegebedarf entsprechend größer. Das erklärt im Übrigen die beschwerliche Erfahrung, dass man sich zu den wichtigen und perspektivischen Dingen immer erst aufraffen, sich anstrengen muss. Sie fallen einem nicht zu. Es ist etwas Unbequemes, Kraftraubendes und Widerständiges darin, etwas zu Stand und Wesen zu bringen. Einerlei, ob es sich um den Garten, die Schulaufgaben oder die Ausrichtung des Weihnachtfestes ist. Das ist nicht die Folge einer falschen Methode oder gar der Niedertracht übelwollender Menschen, sondern in der Natur der Dinge selbst begründet. Wer etwas entfalten will, muss das gegen ein Gefälle tun, das in die Lauf aller Dinge eingeschrieben ist. Das Schlaraffenland, in dem dieses Gefälle aufgehoben ist, ist bekanntlich eine zwar mühelose, aber keine reale Welt. Die Rückseite der Anstrengung ist vermutlich das, was wir Sinn zu nennen pflegen.

Helmut Aßmann


Lebensphysik I

28. März 2015

Physik ist für viele Leute eine heikle Sache. Unzugängliche Formeln, abstrakte Vorstellungen, komplizierte Mathematik dahinter – so oder ähnlich sehen die Erinnerungen an die Schulzeit aus. Und wer einmal einen Teilchenbeschleuniger von innen gesehen hat, wird nicht gerade eines Besseren belehrt. Trotzdem sind viele physikalische Gesetzmäßigkeiten erstaunlich lebensnah, philosophisch geradezu. 

Nehmen wir einfach mal den sogenannten Energieerhaltungssatz, auf wissenschaftlich „der erste Hauptsatz der Thermodynamik“. Der besagt im wesentlichen: wenn man ein geschlossenes System betrachtet, geht darin keine Energie verloren. Sie wird nur umgewandelt, umgeschaufelt, anders verteilt oder derlei. Wenn nicht von außen etwas Neues hinzukommt, bleibt die Summe aller Energien gleich. Das ist ja nicht nur eine physikalische Angelegenheit. Das stimmt irgendwie immer. Theologisch, soziologisch, psychologisch. Wenn man Zorn oder Wut unterdrückt, kommt das woanders wieder heraus – die aggressive Energie geht nicht verloren. Wenn einer meint, er könne irgendeine Tat verheimlichen, stellt sich fast immer heraus, dass das nicht aufgeht. Man kann Ereignisse und ihre Auswirkungen nicht zurück auf Null stellen. Ihre Energie bleibt im System. Selbst unsere Gedanken, die wir über andere Menschen haben, behalten ihre Wirkungen, auch wenn wir gar nichts darüber sagen – und sie verändern unsere Beziehungen. Es geht nichts verloren, es wird nur umgewandelt. Wenn einer seine Lebenskonflikte übersteuert, verschwinden sie nicht – ihre Präsenz und Wirkungskraft bleiben erhalten. Verdrängen, außer Acht lassen, beiseiteschieben – das funktioniert immer nur um den Preis einer anderen Störung. Ein alter Freund pflegte mir in dem Zusammenhang zu sagen: denk dran, das Leben rechnet genauer als preußische Oberrechnungshof, da geht nichts verloren. Gott paßt auf seine Schöpfung auf. Und auf uns.

Helmut Aßmann


Transparenz

19. März 2015

Gut ist, wenn alle Bescheid wissen. Wichtige Dinge brauchen Beteiligungstiefe und –breite. Das ist Demokratie von ihrer besten Seite. Gerade angesichts der schlimmen Umtriebe von Spähprogrammen und Geheimdiensten in den öffentlichen und persönlichen Netzwerken ist Transparenz das Gebot der Stunde. „Brutalstmögliche Aufklärung“ (Formulierung des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Koch im Zuge des CDU – Parteispendenskandals) wird nötig, wo jemand im Stillen sein Süppchen kochen will. Anständig dagegen geht es zu, wenn die da oben mit denen hier unten offen sprechen. Wer sich bei der Forderung nach Transparenz nicht anstellig zeigt, zieht schon den Verdacht auf sich, etwas im Schilde zu führen. Kurzum: in einer komplexen Gesellschaft wie der unseren gehört Transparenz zum eisernen Bestand verantwortlichen Handelns. Lenin hat es zu seiner Zeit zwar programmatisch, aber etwas unschön formuliert: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.  

Die Sache hat allerdings einen zeitlos spürbaren Haken. Kontrolle muss jemand durchführen. Sie geschieht nicht von allein. Außerdem: sie muss ihrerseits bestimmten Kriterien folgen. Und es muss dafür gesorgt werden, dass Kontrolleure und Kontrollierte einander nicht zu nahe kommen. Schließlich muss mit den Ergebnissen der Kontrolle auch kontrolliert umgegangen werden. Wer soll das in einer komplexen Gesellschaft wie dieser durchführen? Wer schafft die wiederum dafür notwendigen Transparenzen zweiter Ordnung? Hier wird ein Dilemma deutlich, dass B. Hornberger so beschrieben hat: „Der dunkle Schatten der Transparenz ist die Bürokratie“. Anders formuliert: die Forderung nach Transparenz verwandelt die gesellschaftlichen Vertrauensvorräte in politische Kontrollinstrumente. Vertrauen ist günstig, aber riskant, Misstrauen ist sicherer, kostet aber viel Geld. 

Helmut Aßmann


Verarbeiten

09. März 2015

Erlebnisse muss man verarbeiten. Gute und schlechte gleichermaßen. So werden wir gelehrt. Aber: wann hat ein Mensch ein Erlebnis verarbeitet? Wenn er nicht mehr daran denkt? Wenn er einen soliden Erkenntnisertrag formulieren kann? Wenn er daran in bemerkbarer Form gereift und gewachsen ist? Gibt es ein Ende des Arbeitsprozesses? Und: wer koordiniert und steuert ihn? Fragen über Fragen. Die gängige Vorstellung von einer wie auch immer angesetzten Verarbeitungsprozedur geht so: am Ende sollen die Erlebnisse, Traumata oder Schicksalsschläge konstruktiv ins Leben eingebaut sein, möglichst ohne auffällige Naht- und Bruchstellen. Das klingt gut, ist aber unerfüllbar. Es ist nämlich nicht nur meistens nicht klar, was genau der Verarbeitungsgegenstand ist. Der Tod eines Freundes, der Schmerz darüber, das Ende der Beziehungen, alles zusammen? Es ist auch nicht sicher, ob die existentiellen Kräfte für den Verarbeitungsprozess ausreichen. Es bleibt zudem unbestimmt, welches Ziel eine gelungene Verarbeitung haben soll. Woher also unsere Kühnheit, Erlebnisverarbeitung als Erfolgsnachweis zu fordern? Ich vermute Unheimliches: die steile Forderung, die Hoch- und Tiefpunkte des Lebens aktiv zu verarbeiten, ist verbunden mit der Unfähigkeit, diesen Hoch- und Tiefpunkten einen eigenen Sinn zuschreiben zu  können. Das Vertrauen, „es“ werde eben „gut“gehen, ohne unser Zutun, ist dahin. „Verarbeitung“ bedeutet deswegen so etwas wie Inbesitznahme, Beherrschung des Lebensverlaufs, möglichst nach eigenem Plan. Tatsächlich ist der reale Verlauf aber umgekehrt: nicht wir verarbeiten die Ereignisse, sondern diese verarbeiten uns. Am Ende haben wir uns geändert, aber was das Ende ist, wissen wir nicht, wenn ein solcher Prozess beginnt. Und bisweilen kommt eine solche Verarbeitung nie an ein Ende. Was, erstaunlicherweise, meistens menschlicher macht als eine erfolgreiche Verarbeitung.

Helmut Aßmann


Spott

24. Februar 2015

Auf den ersten Augenblick scheint es so, als wäre der Spott so etwas wie der giftige kleine Bruder des Witzes. Es geht ja hüben wie drüben ums Lachen. Und sanfter Spott hört sich zunächst an wie feiner Witz. Das täuscht. Die Herkunft der beiden Worte deutet eine andere Verhältnislage an. Der Spott leitet sich vom Spucken ab, einer eindeutig verächtlichen Geste gegenüber dem Verspotteten. Der Witz hingegen stammt aus dem Umfeld des geistreichen Redens. „Witzeln“ war früher einmal gleichbedeutend mit „geistreich reden“. Die sprachlichen Hintergründe von Spott und Witz klingen aber immer noch durch, vor allem in der Reaktion derjenigen, die es anzuhören und sich damit zu arrangieren haben. Witze sind allenthalben gern gesehene Beiträge zu gelungenen Abendveranstaltungen, Spott kommt immer mit einer fühlbaren Fracht von Aggression und Angriffslust daher. 

Das rührt von dem Gefälle her, das den Spott erzeugt. Da gibt es immer eine obere Position und eine untere. Spötter und Verspotteter stehen sich nicht gegenüber, sondern befinden sich in einer klaren Rangordnung. Wie sie dahingekommen sind und warum sie sich an dieser Stelle aufhalten, ist fast einerlei. Denn mit dem Gefälle verbindet sich unmittelbar eine Wertung. Die ist der eigentliche Wirkstoff. Selbst der feinste Spott nimmt seine Wirkung aus der Überzeugung, dass der Spötter der Überlegene ist. Diese Wertung ist es, auf die der Verspottete reagiert. Weil sie nicht anders denn als ehrabschneidende Botschaft verstanden werden kann, wird auf das Florett des Spottes in der Regel die Keule der Vergeltung aus dem Gürtel geholt. Je präziser die spöttische Herabsetzung, um so unverhohlener die Rachegelüste. Sich aus dem Gefühl der fortwährenden Überlegenheit heraus dann auch noch an der plumpen Ohnmacht des Verspotteten zu weiden, ist dann der Gipfel der destruktiven Kunst.

Helmut Aßmann


Dünnes Eis

14. Februar 2015

Aktuelle Nachrichten aus der Ostukraine haben etwas Verstörendes an sich. Die Bilder sehen ungefähr so aus wie die aus den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkrieges. Die Flüchtlingsströme sind zwar nicht ganz so groß wie 1945, aber in die Millionen scheint es auch zu gehen, schon nach weniger als einem Jahr Krieg. Sehenden Auges schlittern die beteiligten politischen Großkaliber in eine Auseinandersetzung, die sich bemerkenswerterweise wiederum der Rhetorik bedient, die 1938 unter dem Titel „appeasement“ zweifelhaften Ruhm einfuhr. Und keiner hat eine wirkliche Perspektive parat.
Unter dem Titel „Sicherheit in Europa“ waren wir doch eigentlich schon weiter. Wir hatten wenigstens mittelfristig schon die bewaffneten Truppen der Bundesrepublik in die Asservatenkammer der Geschichte geschoben. So fühlen sie sich, wenn die Berichte über flugunfähige Luftfahrzeuge, fahruntüchtige Kampfgeräte, unzureichende Führungmittel und derlei zutreffen, auch an. Trotz des 11.9.2001. Aber nun, doch wieder: Frieden schaffen mit leistungsfähigen Waffen? Auch bei uns?
Eine friedliche Gesellschaftsordnung ist, so scheint es, vor allem ein Leben auf dünnem Eis. Das Meer der Gewalt ist weder ein Flachgewässer noch durchgefroren. Es ist dunkel da unten, und ob das Eist trägt, weiß niemand wirklich zuverlässig. Die Dämonen der Gewalt sind noch hungrig, und wir haben in Deutschland wahrscheinlich nur das Glück, das sie andernorts viel zu fressen haben. Wer sich in dem Glauben wähnte, der Dialog sei das Allheilmittel zur Befriedung der Menschheit, sieht sich dieser Tage auf eine schmerzhafte Probe gestellt. Diese Probe geht im Kern nicht dahin, ob der Dialog am Ende auch wirklich gelingt – es sieht ja derzeit nicht danach aus. Sondern sie zielt darauf, ob wir den Preis des Misslingens zu zahlen bereit sind.

Helmut Aßmann


Fragen und Antworten

12. JANUAR 2015

„Wer viel fragt, bekommt viel Antwort“ – so belehrt uns die Volksweisheit. Will sagen, bevor jemand mit irgendeiner Frage aus dem Gebüsch kommt, sollte er sicherstellen, dass er mit den möglichen Antworten auch zurande kommt. Andererseits gilt der Satz: „Wer nicht fragt, bleibt dumm“, so die pädagogische Kommentierung aus der Sesamstraße. Beides stimmt ja irgendwie. Die alltägliche Probe aufs Exempel ist die Situation, wenn man in einer fremden Stadt die Adresse nicht findet. Meine Frau geht in solchen Fällen meistens jemanden fragen; ich hingegen frage mich, ob ich mit der wahrscheinlichen Antwort auch etwas werde anfangen können. Mal gewinnt dann meine Frau, mal ich.

Eins aber ist sicher, und damit bekommt die Sache Gewicht. Die Auswahl der Frage bestimmt die Kontur der möglichen Antworten. Die Frage ist der Antwort immer um den entscheidenden, nämlich themengebenden und orientierenden Schritt voraus. Keine Antwort holt den Impuls der Frage ein. Nebenher bemerkt, verrät jede Frage etwas über den Frager, nicht nur über das, was er gerade wissen will. Genaugenommen ist das eigentliche Heikle nie die Antwort, die man bekommt, sondern die Frage, die man stellt. Gute Fragen helfen einem weiter. Weiter sogar als gute Antworten. Und es gibt durchaus dumme Fragen. Wichtig für uns sind diejenigen Menschen, die uns gute Fragen finden und stellen helfen, nicht die, die auf alle unsere Fragen eine gute Antwort wissen. Das Elend des www – Terrors besteht darin, dass einem millionenfach und in nicht endenwollender Monotonie Antworten präsentiert werden, aber kaum eine gute Frage vorgelegt wird. Es sei denn, man hält die Frage nach der neuesten App für Steuererklärungen für eine geistreiche Angelegenheit. Am wichtigsten sind die Fragen, die wir nie beantworten können – an denen wachsen wir.

Helmut Aßmann