Wenn sich der Vorhang hebt …
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Auch wenn diese „Geschichte“ dem Anlass gemäß in der Heiligen Nacht enden wird, beginnt sie bei wahrscheinlich sehr sommerlichen Temperaturen im Jahr 1263 im italienischen Bolsena mit einer wirklich starken Ouvertüre.
Ein einfacher böhmischer Priester namens Petrus von Prag war unterwegs auf Pilgerreise nach Rom, um da am Grab des Apostels Paulus endlich Gewissheit darüber zu erlangen, wie es sich denn nun wirklich mit der Realpräsenz Jesu während des Abendmahls verhielte. Auf lange Sicht und trotz vieler Auseinandersetzungen ist man, wie sicher jeder weiß, zu keiner einheitlichen „Lösung“ gekommen, aber allein für Petrus von Prag entwickelte sich die Reise völlig anders als gedacht und beabsichtigt – er erreichte wohl niemals sein Ziel. Der Grund dafür ist nun wirklich keine der heute gängigen Entschuldigungen (#DeutscheBahn) ... nicht weniger als ein Wunder durchkreuzte seine Pläne.
Der Priester gelangte zunächst nur nach Bolsena und feierte in dieser Stadt am 12. August 1263 die Messe in der Kirche Santa Christina. Während des Abendmahls begann auf einmal und sicher völlig unerwartet die Hostie zu bluten - ausgerechnet bei dem zutiefst zweifelnden Petrus. Das Blut tropfte auf das Altartuch und auf den Marmorboden. Die Hostie selbst soll sich Berichten nach sogar in ein blutendes Stück Fleisch verwandelt haben. Der wahrscheinlich sehr verstörte Petrus von Prag unterbrach daraufhin die Messe (sehr nachvollziehbar wie ich finde) und eilte nach Orvieto. Denn da weilte, wie es die Fügung so wollte, Papst Urban IV (Rom war politisch zu der Zeit kein ganz sicheres Pflaster für einen Papst und Urban hat Rom selbst nie gesehen). Dieser wiederum hatte ein echtes Interesse an der Eucharistie-Theologie, ordnete natürlich umgehend Untersuchungen an sowie auch die Anerkennung des Wunders. Die Korporale ließ er umgehend nach Orvieto bringen und diese als Reliquie verehren.
Ein kleiner gedanklicher Seitenpfad … Was ich (als “Nichtkatholische”) bis zu diesem Moment nicht wusste: Aus jenem Wunder in Bolsena erwuchs das Fronleichnamsfest. 1264 führte Papst Urban IV. diesen Feiertag für die gesamte katholische Kirche ein – als sichtbares Bekenntnis zur Realpräsenz Christi in der Eucharistie ... Petrus von Prag musste sicher nicht mehr überzeugt werden. Doch darüber und auch über seinen weiteren Verbleib ist in den Büchern auch nichts mehr zu lesen.
Doch nun zurück und weiter auf dem Weg zu meiner Weihnachtsgeschichte.
Papst Urbans IV Pontifikat endete schon im Folgejahr mit seinem Tod, aber er initiierte noch den Bau eines Doms als monumentales Zeugnis für das Wunder, der Eucharistie als solches und natürlich als würdigen Aufbewahrungsort zur Aufbewahrung der Reliquie. Ich will ehrlich sein … dafür, dass man eigentlich „nur“ ein Altartuch aufbewahren wollte, hat man einen ziemlich großen und imposanten „Schrank“ dafür gebaut.
Oktober 2025:
Schlendert man heute als Tourist heraus aus den engen Gassen und tritt auf die Piazza del Duomo, dann öffnet sich der Blick auf ein monumentales einnehmendes und wirkliches schönes Bauwerk italienischer Gotik (wer noch nicht da war … ihr wisst … einfach Richtung Rom laufen … 😉, den Dom von Orvieto oder auch die Cattedrale di Santa Maria Assunta.
Doch um den roten Faden nicht zu verlieren – und obwohl es hier unendlich viel zu erzählen gäbe – lenke ich den Blick nun auf das Detail, das an diesem Spätnachmittag meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Nicht die goldglänzenden Mosaiken, die große Rosette oder die filigranen Türme der Westfassade, sondern etwas, das sich erst beim zweiten Hinsehen offenbart.
Ich stand nach einem ersten Ahhh und Ohhh vor einem von vier vertikalen Reliefs der Eingangsfassade, die in einer großen Detaildichte die gesamte Heilsgeschichte erzählen – von der Schöpfung über das Leben Christi bis hin zum Jüngsten Gericht. Mir hat sich schnell die Frage aufgedrängt, wie viele sich wohl wirklich die Zeit genommen und in diese bildgewaltigen Graphic Novels des Mittelalters vertieft haben – auf lange Zeit in unbequemer Haltung (den Kopf in den Nacken geworfen) verharrend. Aber genau dafür hat der Künstler Lorenzo Maitani als Bauleiter des Doms diese Reliefs erdacht und geplant – nicht als Dekor für das allgemeine Gefallen, den schnellen ersten Eindruck und die Ahhs und Ohhs, wenn man die Plaza betritt. Maitani hat die Bibel für die Menschen nicht wie Luther übersetzt - aber die Worte in Bilder gefasst -verständlich und einfach zu “lesen”.
Und wie man ein PostIt an eine Buchseite klebt, habe ich mein Smartphone gezückt, um ein kleines Detail des Geburt-Christi-Reliefs am dritten Pfeiler der Fassade festzuhalten, welches ich später nochmal mit etwas mehr Ruhe betrachten und ergründen wollte (jetzt mündend in diesen Zeilen)
Und als würde ein Wunder in dieser Geschichte nicht ausreichen – und das war ja quasi auch nur die Einleitung – schauen wir nun auf das Zweite und landen damit wie schon angekündigt in der Weihnachtsgeschichte.
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Mir stach diese kleine Szene ins Auge – sich etwas unterscheidend von dem mir gängigen „Schema” - stiller, müder, verhaltener.
Maria liegt zentral und damit typisch für die mittelalterliche Ikonographie in der Mitte. Josef dagegen steht eher als Zeuge am Rand, nachdenklich und in sich gekehrt und sicher erschöpft nicht nur von der Reise.
Zwei Frauen (man vermutet Hebammen) sind uns heute eigentlich nicht so vertraute Figuren in der Krippenszene, anders als in einigen mittelalterlichen Darstellungen. Sie entstammen wahrscheinlich den apokryphen Evangelien, nach denen statt den Hirten zwei bei der Geburt anwesende Hebammen namens Salome und Zelomi der Geburt beiwohnten. Salome zweifelte wohl der menschlichen Vernunft folgend an der Möglichkeit einer jungfräulichen Geburt und wurde prompt dafür mir einer gelähmten und verdorrten Hand gestraft. Und so kniet Salome ehrfürchtig neben Maria ihre Hand ausstreckend zum Christuskind. Streckt der Mensch (hier in der Figur der Salome) sich aus nach Christus (berührt ihn), so wandelt er sich, erfährt Heilung und Ganzheit allein aus der Nähe zu ihm.
Zelomi, die zweite Hebamme, gießt Wasser aus einem Krug für das Bad des (Jesus)Kindes in ein Becken - in vielen mittelalterlichen Darstellungen als Symbol der Reinigung und Neugeburt.
Doch nun zum Titel dieses Textes ... Maria liegend und wahrscheinlich erschöpft von der Geburt greift nach einem Vorhang, den sie sanft zur Seite zieht – als würde sie ein Geheimnis enthüllen - für die sie umgebenden Menschen als auch für die Betrachter dieser Szenerie. Mich ergreift dieser Moment beim genaueren Hinsehen. Maria ist eine Mutter, die ihr Kind nie auch nur einen Moment allein für sich haben wird. Dieses Baby teilt sie mit aller Welt. Es ist trotzdem ein stiller Moment der Offenbarung, denn mit dieser Geburt beginnt ein Wunder: Gott tritt aus der Verborgenheit in die Welt, und Maria ist die Erste, die ihn sichtbar macht. Der Vorhang als symbolische Grenze zwischen Gott und Mensch ist gelüftet.
Und nun zuletzt noch ein Blick auf Jesus selbst. Das Kind liegt nicht in einer einfachen Holzkrippe, sondern in einem Steinbett ähnlich einem Sarkophag. Diese Darstellung ist kein Zufall, sondern eine bewusste theologische Botschaft, die tief in der mittelalterlichen Bildsprache verwurzelt ist. Der Stein verweist auf das Grab – ein Hinweis darauf, dass die Geburt Christi untrennbar mit seinem Tod (und damit mit der Sterblichkeit Gottes) und seiner Auferstehung verbunden ist. Eine Ankündigung des Kreuzes (!!!) mitten in der Weihnachtsgeschichte als Zeichen der Selbsterniedrigung Gottes und die steinerne Krippe aber auch stehend für die Härte und Endlichkeit des menschlichen Daseins.
Was bleibt für mich ... Der Zweifel von Petrus von Prag ist schon längst verschluckt vom Rad der Zeit, aber erwachsen ist letztendlich daraus ein künstlerisches Feuerwerk an Verkündigung – bis in das kleinste Detail. Aber wie es so ist, schaut man nur kurz hin und findet die erste Gefälligkeit ausreichend, so verliert man die Chance für die eigentliche Botschaft. Auch diese kleine Krippenszene verschwindet fast in der Fülle allen Prunks und der Dichte der Reliefs. Und doch ist sie zumindest für mich so anders als das, was heute in Holz gedrechselt und geschnitzt auf den Regalen in deutschen Wohnzimmern steht. Sichtbar sind auch der Zweifel (der uns schon zu Beginn dieser Geschichte begegnet ist) sowie die Endlichkeit des irdischen Seins. Sie sind eben auch ein Teil dieser Weihnachtsbotschaft, denn daraus erwächst erst alle Zusage, Versprechen und Hoffnung, die wir – und so soll es ja auch sein – mit der Heiligen Nacht verbinden.
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Für alle, die natürlich berechtigt nach den Quellen und Belegen zum Wunder Nr. 1 fragen (Wobei es mir hier wirklich nicht um die Echtheit des Wunders geht). … Es geben die päpstliche Bulle von 1264 „Transiturus de hoc mundo“ (archiviert in der Vatikanstadt), die Untersuchungsberichte in den Kirchenarchiven von Orvieto und natürlich die befleckte und im Dom von Orvieto ausgestellte Korporale Zeugnis.
Bilder:
Orvieto, Dom: Relief: Geburt Christi und Darstellung im Tempel | Urheber*in: Unbekannt / Repro / Rechtewahrnehmung: Mediathek des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt Universität zu Berlin (Urheberrechtsschutz nicht bewertet (CNE)
Raffael, Die Messe von Bolsena, 1512–1514, Stanza di Eliodoro, Raffael-Säle, Apostolischer Palast, Vatikanstadt. commons.wikimedia.org/wiki/File:Massatbolsena.jpg