Enjambement

28. juli 2025

 

 


Bis vor kurzem wusste ich nicht, was das ist. Das Wort habe ich kürzlich in einer Biographie über Rainer Maria Rilke zum ersten Mal gelesen. Es liegt nahe, eine sprachwissenschaftlichen Hintergrund zu vermuten. Ich habe ausnahmsweise einmal weder Herrn Google noch Frau ChatGPT konsultiert, sondern einen mir bekannten Dichterautor befragt. Der wusste natürlich Bescheid. Also: Ein Enjambement bezeichnet einen sogenannten Zeilensprung in einem Gedicht, wenn also die Sinneinheit nicht am Ende eines Verses aufhört, sondern in der nächsten Zeile fortgeführt wird. Also etwa beim oft zitierten „Panther“-Gedicht von Rilke:
„Sein Gang ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält ...“
Nun weiß ich also, dass das ein Enjambement ist. Zugegeben: Es wird nicht anders dadurch, dass ich das nun mit einem Wort belegen kann. Und es entscheidet auch nicht zwingend über meine oder des Autors Lebensqualität. Aber es bringt Struktur in die Betrachtung eines Gedichts. Es markiert eine Form und gibt den Blick in eine Tiefenschicht frei. Nach Fachworten zu fragen, die man nicht kennt, ist eine wunderbare Weise, in ein Gespräch einzusteigen. Erstens lernt man ohne großen Aufwand einfach durch zuhören, zweitens bekommt der Gesprächspartner die Möglichkeit, sich in einer Sache zu präsentieren, in der er sich auskennt, und drittens sind treffende und bewährte Worte stets ein nachhaltiger Weltgewinn. Das ist der Grund, weswegen es sich lohnt, Theologie zu treiben, auf welcher begrifflichen Höhe auch immer. Es ehrt nicht Gott, aber es hilft uns.

Helmut Aßmann
 

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