Giersch
29. september 2025
Seit einiger Zeit interessieren mich die Pflanzen in unserem Garten. Da es das erste Haus mit Garten ist, das wir bewohnen, ist das zunächst nicht weiter verwunderlich. Einer unserer Nachbarn ist diesbezüglich ein echtes Praxisgenie. Bei Lausbefall, Baumschnitt oder Staudenpflege weiß er – nach meinem Empfinden – einfach alles. Besser als Youtube und ChatGPT zusammen. Nebenbei ließ er über den Giersch (eine wahlweise als Unkraut, Wildkraut, Wildgemüse beschriebene, wissenschaftlich als Aegopodium podagraria bezeichnete Pflanze) eine interessante Bemerkung fallen: „Giersch, mag er soviel Vitamin C haben, wie er wolle, ist eine kriechende Pflanze, und alles was kriecht, ist mit Vorsicht zu genießen“. Er hätte gar nichts persönlich gegen den Giersch, aber alles, was kriecht, verdürbe eben den anderen Pflanzen den Lebensraum. Und schob noch hinterher: „Was schnell wächst, wird nichts Gutes“. Da nun griff er in den theologischen Ideenraum über. Wie sich herausstellte, handelt es sich auch um einen frommen Katholiken, der sich dieser Bedeutungserweiterung seiner Pflanzenbetrachtung sehr wohl bewusst war. Es sei, so jedenfalls seine Meinung, immer so in den Dingen der Natur und des Lebens: Was oder wer schnell gehen und rasch Ergebnisse erzielen will, muss in der Qualität Abstriche machen oder in der Rücksicht gegen Umwelt und andere Bedingungen. Schnellwachsendes Holz, schnellwachsende Firmen, schnelllebige Vergnügungen, schnelle Verarbeitung oder schnelles Gebet: Das wird – meistens – nichts Gutes (diese kleine Ermäßigung muss angesichts der göttlichen Möglichkeiten in dieser Weltgeschichte denn doch angebracht werden). Seitdem meditiere ich den Giersch immer ein wenig, bevor ich ihn – meistens – dann doch herausreiße.
Helmut Aßmann
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